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Und nun?
Neugierig schaute Mara sich um, unschlüssig hielt sie nach wie vor die Tasche mit den mitgebrachten Sachen in einer Hand. Am hinteren Bett stand ein weiterer Besucher, trug so wie sie, einen blauen Mantel zum Schutz. Er hielt Händchen mit der darin liegenden Frau, was sie schön fand. Zwei Betten weiter wurde hingegen jemand beatmet, der Brustkorb im regelmäßigen Rhythmus aufgeblasen. Mara wandte sich ab und war erleichtert, dass sie Friseurin war! Ein Job, der auch mal stressig sein konnte, aber zumindest nicht so belastend, so nah zwischen Leben und Sterben. Als selbsternannte Chefin, wie sich Mara selbst nannte, da sie mobil im Einsatz war, konnte sie ihre Zeit und Freizeit gut einteilen.
»Hier, nehmen Sie doch den Sessel«, meinte eine Krankenschwester freundlich, die kurz einen Blick über Suni gleiten ließ.
Es war dieselbe, die sie zuvor eingelassen und genau darauf geschaut hatte, dass Mara ihre Hände richtig und lang genug desinfizierte.
»Sie können Frau Winzer ruhig ansprechen. Es geht ihr so weit gut, sie ist nur von den nächtlichen Untersuchungen und der Therapie ein wenig müde.«
»Danke vielmals.« Mara rutschte mit dem Sessel näher, stellte die Tasche zwischen ihren Beinen ab. Nein, aufwecken wollte sie Suni nicht. Zumindest nicht gleich. Es erleichterte sie, dass die Freundin wohl nicht in akuter Gefahr schwebte. Das war ihre größte Sorge gewesen. Suni sollte schauen, dass sie ihre Kräfte dafür hernahm, bald gesund zu werden. Das war im Augenblick alles, was zählte!
Es fiel mir schwer, mich aus meinem Schlaf zu lösen. Mein Verstand wollte aufwachen, während meine Augenlider wie zubetoniert blieben, egal, wie sehr ich mich auch anstrengte, diese zu öffnen. Da waren Stimmen und Geräusche! Ich wollte daran teilnehmen! Sprachen sie über mich?
Aber jetzt! Bewege ich mich schon? Augen geht auf! Endlich schaffte ich ein Blinzeln, erkannte erste Schemen. Da war jemand! Kurz atmete ich tief durch, sammelte noch einmal alle Kräfte und blickte direkt in das besorgte rundliche Gesicht meiner Freundin Mara. Über ihrem knallpinken Haar lag ein heller Schimmer, weil die Sonne durch ein Fenster hereinblitzte.
»He, Suni, was machst du bloß für Sachen.« Es klang erleichtert.
Ein gequältes Lächeln huschte über meine Lippen. Mara war die Einzige, die meist die Koseform Suni benutzte, ihre Variante, abgeleitet von meinem Vornamen Alsuna. Bereits in der Volksschulzeit hatte es sich eingebürgert, dass ich meinen zweiten Rufnamen Jasmin verwendete, der leichter und ohne lange Erklärungen über die Lippen ging. Ich schluckte den emporsteigenden Kloß in der Kehle hinunter und war dankbar, meine Freundin zu sehen, meine Vertraute! »Du verrückte Kuh, bist extra den weiten Weg hergefahren«, schniefte ich, etwas dumpfer, bedingt durch die Maske in meinem Gesicht.
»Aber sicher, für dich ist mir kein Weg zu weit. Hast du Schmerzen?«
Ich fühlte in meinem Körper hinein, Müdigkeit und Schmerz waren vermischt wie zu einem riesigen Brei. »Zum Aushalten.«
»Schau, ich hab dir ein paar Sachen zusammengepackt.« Sie deutete auf eine Tasche. »Zahnbürste, Parfum, Kleidung, Hausschuhe … Weißt du, wie lange du hierbleiben musst?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es sollen noch ein oder zwei hyperbare Sauerstoffbehandlungen wegen meiner Rauchgasvergiftung stattfinden, hat der Arzt in der Nacht gemeint. Aber ich hoffe, dass ich bald raus kann. Ich muss doch endlich wissen …« Ich brach ab.
Mara nahm mich mitfühlend in den Arm, drückte mich an ihren tröstlich weichen anschmiegsamen Körper, bis mein Schluchzen abebbte.
»Die Polizei hat schon wegen einer Vernehmung angefragt«, fuhr Mara mit sanfter Stimme fort. »Ein gewisser Gruppeninspektor Albert Berger hat mir dein Handy gegeben, mich vernommen – aber ich konnte ihm leider nicht weiterhelfen. Du findest es mit dem Aufladekabel in der Tasche. Ein Kollege von ihm wird sich bald bei dir melden und ein persönliches Gespräch mit dir suchen. Willi weiß auch Bescheid, aber frag mich nicht, wie er es aufgenommen hat. Es sind etliche entgangene Anrufe am Telefon. Vorhin hab ich abgehoben, weil deine Chefin dran war. Dabei zeigte sie sich nicht gerade von der freundlichsten Seite. Obwohl, als sie von mir ansatzweise erfahren hat, was geschehen ist, hatte sie es plötzlich sehr eilig, sich zu verabschieden. Dabei müsste sie eh von der Polizei informiert worden sein. Bestimmt wollte sie dir keine gute Besserung wünschen. Und sorry, ich rede schon wieder viel zu viel.«
Ich lächelte nachsichtig, wurde eine Sekunde später ernst. »Irgendwie kann ich die Chefin schon verstehen, ich habe mich ohne Erlaubnis von der Dienststelle entfernt.«
»Na hör mal, wenn es um meine Mama gegangen wäre, hätte ich genauso gehandelt.«
»Danke Mara, das ist lieb.«
»Das hat mit lieb nichts zu tun, sondern das meine ich genauso. Zumindest hast du erstmals deine Ruhe vor ihr. Ich habe ihr klipp und klar gesagt, dass du auf der Intensivstation liegst und du in den nächsten Tagen sicher nicht erreichbar bist, weil ich dein Handy hätte. Komm ja nicht auf die Idee, dass du dich zu früh meldest.«
Ich schätzte meine quirlige kleine Freundin, die wie ein Duracell-Hase unermüdlich aktiv, aber vor allem mir gegenüber absolut loyal war.
Eine Krankenschwester trat heran. »Es tut mir leid, in fünf Minuten ist die Besuchszeit vorüber und ich muss Sie bitten, sich langsam zu verabschieden.«
»Oh, schon.«
»Natürlich, danke für die Information«, bemerkte Mara höflich, ehe sie sich an mich wandte. »Ich bin eh schon länger hier, aber ich wollte dich nicht aufwecken. Soll ich irgendetwas für dich besorgen? Oder hast du etwas zum Mitgeben, deine alte Kleidung vielleicht.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hab nicht einmal gefragt, wo meine ist – da siehst du, wie hinüber ich bin.«
»Mach dir keine Sorgen, du bist jung, da bist du körperlich bestimmt bald auf der Höhe. Ich habe mir dich schlimmer vorgestellt. Bis auf deine Haare – wenn du raus bist, bekommst du von mir einen ordentlichen Haarschnitt verpasst.« Mara bückte sich zum angrenzenden Nachtkästchen. »Ich packe dir die Tasche da einmal hinein.« Dabei zog sie einen Plastikbeutel heraus. »Und ich glaube, ich habe deine alten Sachen gefunden.«
Ich langte zum Beutel und öffnete ihn. Kalter Rauchgeruch stieg empor. In mir erwachten die Bilder vom Feuermeer. Rasch verknüpfte ich die Plastikhenkel, als könnte ich damit die Erinnerungen aussperren.
»Wenn du möchtest, wasche ich dir deine Sachen. Vielleicht ist noch etwas zu retten.«
»Nein.«
»Das ist wirklich kein Problem.«
»Nein«, bestärkte ich. »Du verstehst nicht. Wenn, dann mache ich es selbst. Für dich ist es nur ein Beutel mit verdreckten Sachen, für mich weit mehr.«
»Nun habe ich verstanden. Ich stelle es dir in die Wohnung ins Badezimmer, okay? Dein Auto steht übrigens am angestammten Platz vor dem Haus. Wurde von einem Beamten dort hingebracht.«
Ich nickte zustimmend. War von meinem Heimathaus noch etwas übriggeblieben? Das spielte im Moment keine Rolle, und ich würde es früh genug herausfinden.
»Ach Suni, ich wünschte, ich könnte dich gleich mitnehmen. Melde dich, so oft du willst und kannst. Und wenn du ein Taxi nach Hause brauchst, hol ich dich selbstverständlich ab. Komm, lass dich noch einmal drücken. Ganz vorsichtig, versteht sich.«
»Danke«, raunte ich ihr ins Ohr. »Ich danke dir.«
Befragung – Anfang Juli
»So, Frau Winzer, dann wollen wir Ihre Brandwunde genauer begutachten.« Doktor Wurm wirkte geschäftig, stülpte sich Handschuhe über.
Ich setzte mich gleich auf. Schwester Angela war ihm behilflich und löste den alten Verband. Der Arzt tastete meinen Rücken ab. Ich presste die Lippen aufeinander, denn trotz Schmerzmittel spürte ich ein starkes Brennen.
»Wie sieht es aus?«, fragte ich nach.
»Bedeutend besser. Es war gut, dass wir am ersten Tag gleich die abgestorbenen Wundränder entfernt haben. Die Sekretion ist zurückgegangen und es sind an sich keine Entzündungszeichen vorhanden. Natürlich, wie Sie wissen, bleiben bei einer Verbrennung dritten Grades meist Narben zurück. Doch wie es sich zurzeit darstellt, dürften diese nicht allzu massiv ausfallen. Da bin ich optimistisch.«
»Kann ich es sehen? Vielleicht ein Bild mit meiner Handykamera machen?«, bat ich.
»Das wird Schwester Angela für Sie gerne tun.« Doktor Wurm entledigte sich seiner Handschuhe und trat mir gegenüber. »Ihre Werte haben sich deutlich gebessert, sodass keine weitere Sauerstoffbehandlung mehr nötig ist. So wie es sich darstellt, können wir Sie heute noch auf die Normalstation verlegen, und wenn alles gut geht, und kein Fieber mehr auftritt, übermorgen in häusliche Pflege entlassen. Die Verbandswechsel können Sie vor Ort von Ihrem Hausarzt vornehmen lassen.«
»Das freut mich.«
Doktor Wurm zeigte ein Lächeln. »Somit gehe ich davon aus, dass wir uns nicht mehr sehen, da ich mich die nächsten Tage in Urlaub befinde. Ich wünsche Ihnen deshalb heute schon eine gute Genesung.«
»Danke, auch Ihnen alles Gute und einen schönen Urlaub.«
Der Arzt drehte ab. Schwester Angela ergriff mein Handy, das ich ihr reichte und machte das versprochene Bild. »Hier bitte.«
Während die Krankenschwester die Wunde desinfizierte, starrte ich auf die Aufnahme. Die Verletzung war kleiner als erwartet, auch wenn sich ein geröteter Streifen über das gesamte linke Schulterblatt erstreckte. Zum Glück gab es nur zwei kleine nässende Wunden, etwa daumennagelgroß, die somit tiefer in die Hautschichten bis in den Muskel vorgedrungen waren. Das Foto beruhigte mich mehr als die Worte des Arztes. Ich hatte Glück gehabt, war um eine Hauttransplantation herumgekommen, was ich wohl einer guten Wundheilung, der raschen Behandlung und den mittlerweile effizienten Verbandsstoffen verdankte.
Ich spürte, wie Schwester Angela eine Salbe auftrug und ein spezielles Gewebe vorsichtig andrückte, ehe sie alles mit einem sterilen Verband abdeckte.
»So, erledigt. Wie geht es Ihnen mit den Schmerzen?«
»Sie werden besser. Auch das Atmen fällt mir leichter und ich fühle mich etwas kräftiger.«
»Das ist gut. Im Nebenraum wartet übrigens ein Polizist. Ich habe gesagt, dass ich mich zuerst bei Ihnen erkundige, ob Sie sich fit genug für eine Vernehmung fühlen. Wenn Sie mögen und einverstanden sind, bringe ich Sie mit dem Rollstuhl nach nebenan.«
»Ich glaube, ich schaffe es auf meinen eigenen Beinen. Aber bitte begleiten Sie mich sicherheitshalber.«
»Selbstverständlich.«
Ich schlüpfte in die Hausschuhe, die Mara mitgebracht hatte, und stellte mich hin. Mein Kreislauf fühlte sich stabil an, die Beine wirkten schwächer, aber sie zitterten nicht. Ich ging langsamer als für gewöhnlich, gestützt von Schwester Angela, die schließlich die Tür zum angrenzenden Zimmer öffnete. Ich erkannte, dass es sich hier normalerweise um einen Aufwachraum handelte. Es gab Monitore, Infusionsständer, einen Defibrillator, sowie einige Schränke, die wohl weitere medizinische Geräte und Gegenstände enthielten. Die mittlere Fläche des Raumes war frei und bot somit ausreichend Platz für ein Krankenbett. An der Seite stand ein kleiner rechteckiger Tisch mit zwei Kunststoffstühlen. Sogleich erhob sich ein Mann in Uniform, der dort wartend gesessen hatte. Ich schätzte ihn zwischen vierzig und fünfzig. Er nahm die Dienstkappe ab, zeigte rotblondes kurzes Haar, während sein Gesicht mit unzähligen Sommersprossen übersät war.
»Alsuna Winzer?«, erkundigte er sich.
Ich nickte, und unterließ die Bemerkung, dass ich normalerweise mit Jasmin angesprochen wurde, und sich der Vorname Alsuna für mich fremd anfühlte. Schwester Angela schloss die Tür, damit wir ungestört waren.
»Ich habe Sie schon erwartet. Sind Sie der Polizist, mit dem ich per Telefon gesprochen habe?«
»Nein. Manuel Lichter. Ich bin Ermittler in der Mordkommission.« Er zog seinen Dienstausweis hervor.
Ich schaute flüchtig drüber, nahm auf dem gegenüberliegenden Stuhl Platz. Mit einem Mal fühlten sich meine Beine schwummrig an, was nicht an der körperlichen Schwäche lag, sondern daran, weil ich wusste, über was wir jetzt sprechen würden. »Wie ist der aktuelle Stand?«
Lichter kam gleich zur Sache. »Das Feuer wurde mit Absicht gelegt, wir haben Brandbeschleuniger gefunden in Form von Benzin. Und …«
»Und Mama wurde ermordet«, nahm ich den Satz auf, weil der Beamte zögerte. »Ihr … ihr Kopf … war …« Ich gestikulierte ungelenk mit der Hand über meinem herum, brachte das Wort für gespalten nicht heraus.
»Es tut mir leid. Als Tatwerkzeug konnten wir eine Axt sicherstellen. Zumindest das vordere Eisenteil, der Holzstiel ist verbrannt.«
»Ich bin zu spät gekommen.« Ich wischte mir über die Tränen schwimmenden Augen.
Lichter räusperte sich. »Ohne Sie, wäre Ihre Mutter im Haus verbrannt und wir hätten womöglich noch weniger Indizien. Dann wäre der Mord als Unfall durchgegangen und zu den Akten gelegt worden. So haben wir die Chance, den wahren Täter auszuforschen, und ich denke, das ist auch in Ihrem Sinn. Ich weiß nicht, ob es ein Trost für Sie sein kann, aber Ihre Mutter musste wenigstens nicht lange leiden.«
Das hoffe ich. »Haben Sie eine Spur?«
Lichter kratzte sich am Kinn. »Wenig, keine Fingerabdrücke. Leider haben Feuer und Wasser vieles vernichtet. Gab es einen besonderen Grund, wieso das Haus mit Kameras gesichert wurde? Auf dem Aufzeichnungsgerät konnten wir nichts mehr Brauchbares finden.«
»Mama war diesbezüglich etwas eigen und immer sehr vorsichtig. Sie versperrte stets alles gewissenhaft, solange ich mich zurückerinnern kann. Auch Kameras gab es lange Zeit, bevor ich in die Pubertät kam und sie achtete akribisch darauf, dass sie funktionierten. Ich kann mich aber an kein besonderes Ereignis erinnern, weshalb das so war, falls Sie das meinen.«
»Kam Ihnen das nie sonderbar vor?«
»Jetzt, im Nachhinein schon. Aber um ehrlich zu sein, ich bin damit aufgewachsen, da gewöhnt man sich daran.«
»Verstehe. Leider haben auch die Nachbarn nichts Außergewöhnliches bemerkt. Am späten Nachmittag war noch, wie üblich, Willibald Winzer zu Besuch.«
Ich nickte. »Er ist mein Onkel. Mama hat ihn immer verköstigt, da er lieber sein Geld in Alkohol investiert. Ich hab ihn noch gar nicht gesprochen, er besitzt kein Telefon und unser Verhältnis ist nicht besonders eng. Mama hat sich hingegen für ihn verantwortlich gefühlt. Bestimmt ist er ebenso geschockt wie ich.«
»Bei unserer ersten Einvernahme war er kaum der deutschen Sprache mächtig, hat unzusammenhängend vor sich hin gelallt.«
Ich seufzte. »Das kommt häufig vor.«
»Hatte Ihre Mutter Feinde? Haben Sie eine Idee, wer dahinterstecken könnte?«
»Nicht das ich wüsste. Sie lebt … lebte sehr zurückgezogen. Und bei ihrer Arbeit in der Bücherei ist … war sie meist allein. Freunde und Freundinnen hatte sie nie wirklich, eigentlich gab es nur mich. Und Willi.«
»Das deckt sich mit den Aussagen Ihrer Nachbarn. Dennoch werden wir alles genau überprüfen. Die Spurensicherung untersucht gerade all die Sachen, die so halbwegs verschont geblieben sind. Sobald die Beweisaufnahme abgeschlossen ist, werden wir Sie informieren. Zudem sind wir dabei, Bankdaten und etwaige Telefongespräche zu überprüfen. Was hat Ihre Mutter genau bei ihrem Anruf gesagt?«
Ich blickte auf meine Hände, bemerkte erst jetzt, dass ich sie rastlos knetete, und zwang mich, in diesem Tun innezuhalten. »Er ist wieder da. Will … will mich umbringen. Dann … dann brach die Verbindung ab. Irgendwie klingt das, als ob sie denjenigen gekannt hätte, oder?«
»Stimmt, obwohl ich lieber keine voreiligen Schlüsse ziehen möchte. In einer Notsituation kann man Wörter nicht auf die Waagschale legen. Ist Ihnen, von Ihrer Seite aus, irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Sie meinen, ob ich … mich jemand?« Daran hatte ich noch gar keinen Gedanken verschwendet! »Nein, nichts dergleichen.«
»Als nächste Verwandte müssen wir natürlich auch dieses Risiko im Auge behalten. Da wir das Motiv des Täters nicht kennen, halte ich es für ratsam, wenn Sie in nächster Zeit besonders gut Achtgeben und aufmerksam bleiben. Womöglich können Sie nach dem Krankenhausaufenthalt die erste Zeit bei Freunden unterschlüpfen.«
Ich schluckte.
»So, nun will ich nicht länger Ihre Zeit strapazieren. Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen Sie umgehend die Polizei an oder melden sich direkt bei mir.« Lichter schob mir eine Karte mit seinem Namen und einer Telefonnummer zu. »Ich bin jederzeit für Sie erreichbar. Oder, bei Ihnen vor Ort, können Sie sich an Gruppeninspektor Berger wenden, der über sämtliche Schritte von mir informiert wird und uns bei der Ermittlungsarbeit unterstützt.«
»Danke, bitte halten Sie mich ebenso auf dem Laufenden.« Mit zittrigen Fingern griff ich nach der Visitenkarte, die ich später in meiner Handyhülle verstauen wollte.
»Das will ich gerne tun. Übrigens, sobald Sie sich fit genug fühlen, können Sie ein Beerdigungsinstitut beauftragen. Die Untersuchungen an Ihrer Mutter sind offiziell abgeschlossen.«
Ein heiseres Schluchzen brach aus meiner Kehle. »Gut zu wissen.«
»Wir haben zudem ein Kriseninterventionsteam, das möchte ich Ihnen ans Herz legen und könnte Sie in dieser schwierigen Situation unterstützen.«
»Ich hatte bereits ein kurzes Gespräch mit der Psychologin des Krankenhauses. Weitere habe ich abgelehnt. Wenn, dann rede ich mit meiner Freundin.«
»Falls Sie es sich anders überlegen, sind wir jederzeit für Sie da. Ich wünsche Ihnen viel Kraft und mein aufrichtiges Beileid.«
»Bitte, finden Sie den Mörder.«
»Wir geben unser Bestes, das verspreche ich Ihnen.«
Der Beamte ließ mich im Raum zurück. Verzweifelt verbarg ich mein Gesicht in den Händen, schluchzte, weil ich sehr wohl herausgehört hatte, dass die Polizei im Dunklen tappte und nicht ansatzweise wusste, in welche Richtung sie ermitteln sollten. Die gesamte Hoffnung lag in irgendeinem Zufallsfund im Inventar. Von dem es wohl nicht mehr sonderlich viel gab.
Mara marschierte schnurstracks durch den engen Flur des Mehrparteihauses, in dem Willi wohnte. Die untere Eingangstür war unverschlossen gewesen, sodass sie nicht einmal Läuten musste. Als enge Freundin von Suni fühlte sie sich in gewisser Weise für jeden aus der Familie mitverantwortlich und hatte beschlossen, nach Willi zu sehen.
Mara erreichte den dritten und zugleich obersten Stock, klopfte an Willis Tür, neben der sich in Kartons leere Dosen und Flaschen in einem wüsten Durcheinander stapelten. Ein Namensschild suchte man vergeblich, und dort, wo die Klingel sein sollte, ragte bloß ein Stromkabel heraus. Wann war sie das letzte und einzige Mal hier gewesen? Irgendwann als Suni und sie gemeinsam die Fachschule besucht hatten, da waren sie etwa sechzehn Jahre alt. Willi war damals krank gewesen, weshalb Suni für ihn Essensbotin spielte. Dass die Freundin keinesfalls alleine hingehen wollte, verstand Mara sofort. Sie kannte Willi flüchtig von den Besuchen bei Suni, bei denen er hin und wieder auftauchte. Verlodert und meist etwas angetrunken umgab ihn eher eine abstoßende Aura, die sich in seiner winzigen Dachgeschosswohnung fortsetzte.
In Mara kroch schaudernd das damalige Entsetzen hoch, als sie an Willi dachte, der ihnen mit fiebrigen Augen und fettigem Haar torkelnd geöffnet hatte. Er war mit einer schlabbrigen Unterhose bekleidet gewesen, die drohte, an seinem schlaksigen Körper hinunterzurutschen.
Mara stöhnte und unterband den Impuls, umzukehren und ihr Vorhaben abzubrechen. Sie pochte erneut, lauter und wappnete sich darauf, dass es nach wie vor fürchterlich in der Wohnung aussehen musste. An sich war es gut, dass Willi als Letzter oben im Gebäude wohnte, so brauchte von den unten lebenden Parteien niemand an seiner Müllhalde vorbei. Doch vermutlich hatte der eine oder andere Bewohner ihn bereits verflucht, wenn er laut polternd im Vollrausch hinaufmusste.
Ihr Mann Paul hatte ihr erzählt, dass einmal sogar die Feuerwehr ausgerückt war, um ihn in seine Wohnung zu hieven. Willi war besoffen zwischen dem ersten und zweiten Stock liegengeblieben. Er war so hinüber, dass er nicht einmal realisiert hatte, dass er sich im Treppenbereich befand. Doch zum Öffnen des Reißverschlusses der Hose hatte es gereicht, und zur Begrüßung urinierte er alles voll, war ohne Scham seinem Drang nachgegangen. Wie ein Tier, dass dem Instinkt folgte.
Mara rümpfte die Nase, als ob noch immer eine Mischung aus Pisse und kaltem Rauch durch das Stiegenhaus ziehen würde. Gerade, als sie sich abwenden wollte, vernahm sie schlürfende Geräusche. Ein winziger Spalt öffnete sich.
»He, du bist ja Jasmins Freundin. Lange nicht gesehen.« Willi zeigte ein gelbliches Gebiss. An der rechten Seite prangte eine Lücke, da ihm mindestens drei Zähne fehlten.
Es waberte miefige Luft auf den Flur des Treppenhauses. Mara wechselte von der Nasen- zur Mundatmung, was sie bedeutend erträglicher fand. »Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich vorgestern bei Suni im Krankenhaus war. Sie ist halbwegs okay, die Wunden werden heilen.«
»Das ist gut. Willst du eigentlich hereinkommen?«
Mara hielt entsetzt den Atem an.
Willi lachte. »Ein Scherz!«
Mara räusperte sich, fühlte sich ertappt. »Brauchst du irgendetwas? Ich meine …«
Willi schaute sich um. Die fünfundzwanzig Quadratmeter stellten zugleich Küche, Wohn- und Schlafzimmer dar, waren vollgestellt mit Kartons. Die vielen geleerten Flaschen, die kreuz und quer lagen, müsste er irgendwann einmal entsorgen. Dazwischen stapelten sich Pappkartons von so manchen Pizzen und leere Zigarettenschachteln. Hier spielte sich sein Leben ab, zumindest dann, wenn er nicht in der Kneipe saß. Den elektrischen Herd hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt. Sein Essen bestand vorwiegend aus alkoholischer Flüssignahrung, hin und wieder aus gefundenen Resten im Müll. Einmal in der Woche konnte er sich bei Natascha den Bauch füllen. Sie hatte ihn manches Mal als gefräßiges Krokodil betitelt, weil auch diese Tiere oft von einer einzelnen Nahrung lange zehren konnten. Vielleicht war er im vorherigen Leben tatsächlich so ein Reptil gewesen, leider wuchsen bei ihm nicht die ausgefallenen Zähne nach. Er langte an die rechte Wange, fühlte, wie sich diese im Vergleich zur linken weiter hineindrücken ließ. Mit der wöchentlichen Essensration war es nun vorbei … Ob er mit seinen wenigen Kröten auskommen würde? Willi ächzte. »Alles gut. Weißt du, wann Jasmin rauskommt?«
Mara fand es zumindest nett, dass ihm offenbar seine Nichte kümmerte und nicht völlig gleichgültig war. Obwohl sie nicht verstand, wie Willi so tief sinken und so würdelos werden konnte. Suni hatte einmal gemeint, dass viele es nicht schafften, eine Sucht zu besiegen, die körperliche Abhängigkeit nichts gegen die psychische wäre, die jeden Tag zu einem neuen Kampf machte. In Wahrheit lebte Willi trotz Minimalismus in seiner gesicherten Zone. Natascha hatte ihn nie fallen lassen, immer geholfen. Mara wusste nicht, ob sie das gekonnt hätte. Leichter wäre es bestimmt gewesen, sich abzuwenden. Dann müsste man weder sein Leid sehen, noch wäre man der eigenen Hoffnungslosigkeit ausgesetzt, weil man ihm nicht helfen konnte. Ob dieses schreckliche Erlebnis irgendetwas in ihm bewirkte? »Wahrscheinlich kommt Suni übermorgen heim, hat sie am Telefon gemeint. Sauerstoffbehandlung benötigt sie keine mehr.«
»Wenn du sie siehst, oder mit ihr telefonierst, richte ihr liebe Grüße aus.«
»Das werde ich gerne tun. Und wie gesagt …«
»Jaja«, winkte er ab. »Mach dir keine Sorgen.«
»Dann tschüss.« Mara drehte ab, schritt rasch die Stufen hinunter. Sie freute sich, als sie vor das Gebäude trat und frische Luft einatmen konnte, die sie tief inhalierte. Auf dem Weg zum VW schielte sie noch einmal zur Dachgeschosswohnung. Irgendwie hatte Willi normaler gewirkt, als sie gedacht hatte. Oder es lag daran, dass sie heute bei ihm eine halbwegs nüchterne Phase erwischt hatte. Obwohl, bei einem Spiegeltrinker konnte man nie genau sagen, wie viel er tatsächlich intus hatte. Auffällig wurden die meist erst dann, wenn es zu wenig gab.
Ob Suni die Aufgabe ihrer Mama Natascha übernehmen würde und sich auf ähnliche Weise um Willi kümmerte? Mara schüttelte den Kopf. »Zuerst muss Suni zu Kräften kommen, bevor sie ihre soziale Ader auspacken kann.« Und ihre Freundin und Willi … das war wieder ein anderes Thema, und kein einfaches!