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Heimkehr in die Knittelfelder Wohnung
Mara hatte vorsorglich den Motor ihres VWs abgestellt. »Du hast zwar mein Angebot, zu uns zu kommen, ausgeschlagen, aber was ist, soll ich dich nicht besser hoch in die Wohnung begleiten?«
Ich löste den Blick von meinem blauen Skoda, der gleich an der Straßenseite parkte. So wie immer, als ob nichts vorgefallen wäre. »Bist du mir sehr böse, wenn ich verneine?«
»Nein, spinnst. Du warst schon die gesamte Fahrt so ruhig. Ich will dich nicht in deinen Gedanken stören, aber du solltest auch nicht alleine in deiner Wohnung hocken.«
Ich dachte an den Beamten Lichter, der sogar dazu geraten hatte, dass ich bei jemandem unterschlüpfen sollte. Zur Sicherheit! Aber ich brauchte eine Auszeit. Für mich, um zu trauern! Ohne Bettnachbarn, nerviger piepsiger Geräusche und mitleidigen Blicken!
Ich schöpfte nach Atem. »Ich bin aktuell keine gute Gesprächspartnerin. Ich muss zuerst meine Gedanken klären. Gib mir ein bisschen Zeit.«
Mara hob ihr Handy hoch, das in der Zwischenkonsole gelagert hatte. »Tag und Nacht jederzeit erreichbar. Du kannst mich auch anrufen und dann einfach ins Telefon schweigen. Kein Problem.«
Ich drückte ihr einen Schmatz auf die Wange. »Ich komme bestimmt darauf zurück. Danke dir, für alles.«
Ich stieg aus. Meine Freundin wartete, bis ich im Gebäude verschwunden war. Erst dann hörte ich das vertraute Motorengeräusch des VWs. Mit schweren Schritten marschierte ich in den ersten Stock, wo sich der Zugang zu meiner großzügigen Maisonettewohnung befand. Mir gefiel die Kombination aus Offenheit und dem Hauscharakter. Mit einundzwanzig Jahren war ich von daheim ausgezogen, obwohl Mamas Haus groß genug für uns beide gewesen wäre. Doch ich benötigte meinen Freiraum. Mama war stets liebevoll zu mir, aber auch sehr vereinnahmend. Das ging so weit, dass sie mein Telefon kontrollierte oder im Tagebuch las, weshalb ich das Schreiben darin aufgegeben hatte. Ich wusste, dass sie es nicht tat, weil sie mir misstraute. Sie wollte mich vor Fehler bewahren, mich beschützen und behüten wie ihren eigenen Augapfel. Dass sie dabei zuweilen über das Ziel hinausschoss, war Mama lange Zeit gar nicht bewusst gewesen. Für sie war ich das kleine Kind geblieben, das sie umsorgen wollte.
In der ersten Nacht in der eigenen Wohnung erfuhr ich, was Privatsphäre bedeutete. Lange lag ich wach, genoss die Ruhe, kein Kontrollieren, ich fühlte mich frei … Tja, und das Smartphone hatte ich vorsorglich auf stumm geschaltet, um nicht gestört zu werden und meine Grenze darzulegen.
Mit zittrigen Händen schloss ich die weiß lackierte Wohnungstür auf, um sie rasch hinter mir zuzudrücken. Insgeheim fragte ich mich, wie viel Zeit ich mit Mama verschenkt hatte, weil ich auf ein eigenes Reich pochte. Ich fühlte mich schuldig darin, dass ich nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen war. Ob ich den Brand hätte verhindern können, wenn wir zu zweit im Haus gewohnt hätten? Wer wollte Mama loswerden, hatte sie so grausam zugerichtet? Ein Bekannter, ein Fremder? Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Zumindest hatte ich durch die damalige Entscheidung, auszuziehen, jetzt noch ein Dach über dem Kopf. Das gab mir keinen Trost.
Ich steuerte in das Badezimmer zum Waschbecken, um mein Gesicht mit Wasser zu benetzen, zu kühlen und meine Tränen wegzuwaschen. Ich trocknete die verbliebenen Tropfen mit einem Handtuch, das ich aus dem Fach meines grauen Regals herausgenommen hatte. Ich seufzte, schaute mich unschlüssig um. Dieser Raum war in einem schmucken Weiß-Schwarz gehalten, wirkte wie ein überdimensionales Schachbrett. Statt Figuren gab es als Inventar eine Waschmaschine, einen Trockner und die Badezimmerkommode mit einem riesigen Spiegel. In der Ecke befand sich meine Wellnessoase – eine große Badewanne mit Massagedüsen. Mit der Wunde am Rücken durfte ich leider kein ausgiebiges Schaumbad nehmen, wo ich gerne bis zur Nasenspitze im Wasser versinken konnte.
Mein Blick glitt zurück zur Waschmaschine, vor der ein weißer Plastikbeutel lag. So wie versprochen, hatte Mara meine Sachen ins Badezimmer gebracht. Kurz zögerte ich, doch dann ließ ich mich im Schneidersitz daneben nieder, holte tief Luft und wappnete mich darauf, dass mit dem Rauchgeruch auch Bilder der schrecklichen Nacht auf mich einprasseln würden.
Ich zog die verknüpften Enden auseinander, holte meine Schwesternuniform, die aus Hose und Kasack bestand, heraus. Das Oberteil wies am Rücken ein riesiges Loch auf, dort, wo das brennende Brett mich getroffen hatte. Die Hose zeigte ebenso versengte Stellen. Da konnte eine Wäsche nichts mehr retten. Ich klappte den Mülleimer in meiner Nähe auf und stopfte beides hinein. Doch noch war der Kunststoffbeutel nicht leer.
Ein schwarzes Kleidungsstück? Wie kam das hinein? Neugierig zog ich es heraus. Mamas Jacke! Sie war eines ihrer Lieblingsteile gewesen, wie ich am feinen Strickmuster erkannte. Ich erinnerte mich, dass ich die Jacke in der Brandnacht von Mamas Gesicht heruntergezogen hatte! Ich spürte leichte Verhärtungen des Gewebes, wo die Hitze zu intensiv eingewirkt hatte, und bemerkte dunklere Stellen, die wohl von eingetrockneten Blutflecken stammten. Ein Schluchzer trieb aus meiner Kehle, verzweifelt knüllte ich das Stückchen Stoff zusammen. Da raschelte etwas in der Tasche.
»Was war das?« Irritiert strich ich mir über die nassen Augen, um besser sehen zu können. Ich nestelte ein Bild heraus und musterte es genauer. Bis auf einzelne Knitterspuren war es gut erhalten. Im Hintergrund zeigte sich ein Sonnenblumenfeld. Es handelte sich um eine ältere Aufnahme, wie ich an den Farben erkannte.
»Mama, das bist ja du – in jung!« Daneben stand ein mir unbekannter hochgewachsener Mann, mit blauen Augen, blondem Haar und einem auffälligen Muttermal an der rechten Wange neben der Nase, in der Höhe des Jochbeins.
Ich stob hoch, musste mich kurz abstützen, da die Bewegung für meinen Kreislauf zu heftig ausgefallen war. Als der Schwindel sich gelegt hatte, blickte ich in den Spiegel, tastete mit der Hand zu meinem Muttermal auf der rechten Seite in Jochbeinhöhe, das mir über all die Jahre vertraut geworden war. »Es ist nahezu dieselbe Stelle! Zufall?«
Ich fuhr über mein blondes Haar, begutachtete meine blauen Augen … War der Kerl auf dem Bild mein Vater?
Erneut starrte ich auf die Aufnahme, die Ähnlichkeit war zu verblüffend, um rein zufälliger Natur zu sein. Mama wirkte so glücklich! Sie strahlte auf dem Bild, nicht in die Kamera, sondern den Mann an ihrer Seite an. Nie hatte ich sie derart fröhlich gesehen. So wunderschön mit ihrem dunklen Brünett und den braunen Augen, ein starker Kontrast zu seinem hellen Haar. Fast so wie das Schwarz-Weiß in meinem Badezimmer.
Das Bild musste ihr wichtig gewesen sein, sonst hätte es sich wohl nicht in der Jacke befunden. Oder steckte mehr dahinter? Wollte sie mir damit einen Hinweis geben, wer der Täter war? Doch wenn Mama mit einem Überfall gerechnet hätte, hätte sie wohl zuvor die Polizei verständigt, oder bei den Nachbarn Zuflucht gesucht.
Die Türklingel ließ mich hochschrecken. Eigentlich verspürte ich grad gar keine Lust, mit jemandem zu sprechen oder wen einzulassen. Dennoch setzte ich mich beim neuerlichen Ding-Dong in Bewegung.
»Suni, sorry – ich Dussel habe nicht auf deine Tasche gedacht, sie lag noch auf der Rückbank.«
Statt einer Entgegnung fiel ich meiner Freundin schluchzend in die Arme. Mara zog mich weiter ins Wohnzimmer, packte mich auf die Couch, deckte mich sorgsam zu. »So Schatz, und nun mache ich dir zuerst eine heiße Schokolade. Du wirst sehen, der süße Geschmack lässt dich ein klitzekleines Stückchen zuversichtlicher werden. Und dann redest du mit mir, das ist dringend nötig, wie mir scheint.«
Mara nahm einen großen Schluck Kaffee. Sie betrachtete das alte Bild und verglich es mit mir. »Zweifellos, das muss dein Vater sein. Sogar euer Muttermal. Seltsam, ist so ein Zeichen vererbbar? Und umringt von all den Sonnenblumen, das schaut richtig romantisch aus.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es gibt wohl bei solchen Malen eine genetische Disposition bei nahen Verwandten, soweit ich weiß.«
»Weißt du, wie dein Vater heißt?«
Abwehrend schüttelte ich den Kopf, wusste nicht einmal, ob er überhaupt lebte. Ich trank einen Schluck der heißen Schokolade. Mara hatte recht gehabt, verfeinert mit dem Zucker- und Zimtgeschmack breitete sich ein heilsamer Geschmack in meinem Mund aus, sodass ich gefasst blieb und nicht erneut losheulte. Außerdem erleichterte es mich, dass Mara mich nicht für verrückt erklärte und sie den Kerl auf dem Bild ebenso für meinen Vater hielt. Irgendwie wollte mir noch immer nicht recht in den Sinn, ob die letzten Tage real oder nicht doch ein böser Traum waren.
Nein, das Schicksal machte mir keinen Gefallen, um mich aus diesem Albtraum aufwachen zu lassen. Ich stellte die Tasse auf der Fensterbank ab. »Mama hat nie über meinen Vater gesprochen, zumindest nicht freiwillig. Ich erinnere mich bloß daran, dass ich mal im Kindergarten nach ihm gefragt habe, weil er nie zu den Festen aufgetaucht ist, mich nie abgeholt hat, so wie es bei meinen Freundinnen und Freunden üblich war. Da ist sie ganz erschrocken, hat gefragt, wieso ich auf ihn zu sprechen komme. Ich hab entgegnet, dass ja bei den anderen stets ein Papa dabei ist. Da hat sie geantwortet, dass mein Papa bloß mein Erzeuger ist und kein Interesse an mir hätte, ich ihn ganz rasch vergessen sollte und wir ihn nicht bräuchten.«
»Das war bestimmt hart für dich.«
»Ich kann dir gar nicht mehr beantworten, ob ich damals entsetzt war. Vielleicht hätte er mir mehr gefehlt, wenn ich ihn gekannt oder es irgendwann Kontakt gegeben hätte. Und mit Onkel Willi in der Verwandtschaft ist mein Bedarf an Kerlen echt gedeckt.«
»Suni, das sagst du bloß, weil dir der richtige Mann noch nicht begegnet ist. Es stimmt schon, es gibt einige, die nicht zu den Prachtstücken zählen, aber glaub mir, die Suche nach dem Richtigen lohnt sich. Schau Paul und mich an. Ich frage mich, wie er es mit mir verrückter Nudel bereits seit fünf Jahren aushält. Mich sogar geheiratet hat.«
Ich erinnerte mich an die kleine Feier im engsten Familien- und Freundeskreis. Mara hatte ein schwarzrotes Hochzeitskleid im Gothic-Stil getragen, das Rüschen, Spitze und ein florales Muster aufwies. Ein traditionales Fest hätte zu den beiden nicht gepasst. Nach der Trauung am Standesamt saßen wir bei ihnen im Garten. Zum Essen hatte ich ein Catering organisiert, und Freunde spielten die Lieblingslieder des Paares den gesamten Nachmittag bis spät in die Nacht hinein. Mara und Paul waren für mich das absolute Dreamteam. Sie passten perfekt zusammen, schafften es, dem anderen den Wind aus den Segeln zu nehmen, wenn einer mal dabei war, seine Balance zu verlieren. Zu ihrem Glück fehlte noch Nachwuchs, der sich nicht einstellen wollte, so sehr sie es versuchten. Doch auch diese Last trugen sie gemeinsam. Ob es für mich einen Traumpartner geben konnte? »Suchen interessiert mich nicht, da warte ich lieber darauf, dass der Richtige mich findet. Und schau dich um, irgendeine Macke hat doch jeder. Ich ebenso.«
»Es geht ja darum, jemanden mit einem kompatiblen Knall zu finden.«
Ich schnitt Mara eine Grimasse, spürte, wie für eine Millisekunde Leichtigkeit in mir aufblitzte, ehe sie in Verbitterung erstarb. Vor Kurzem war mein Leben im gewohnten Trott und in geordneten Bahnen verlaufen. Männer und eine fixe Bindung interessierten mich nicht, dafür war ich viel zu sehr mit meinem Beruf verwurzelt. So verbuchte ich meine Bekanntschaften unter Abenteuer, die meist nicht länger als einige Wochen hielten. Auf einmal vermisste ich nicht nur meine Mama, sondern ebenso eine bessere Hälfte, eine Schulter zum Anlehnen … Mara war toll, aber ich wollte sie keinesfalls vereinnahmen. Hatte ich bezüglich Kerle unbewusst Mamas Verhaltensmuster übernommen? Nie war die Männerwelt ein Thema für sie. Zumindest nicht, solange ich mich zurückerinnern konnte. »Ich verstehe nicht, weshalb sie ausgerechnet dieses Bild bei sich getragen hat. Unsere Fotoalben befinden sich im Keller in den Regalen, geschützt in Kartons. An dieses Bild kann ich mich jedenfalls nicht erinnern.«
»Dieser Kerl war Natascha anscheinend wichtig. Vielleicht war er die Liebe ihres Lebens, und sie wurde von ihm enttäuscht. Irgendein melancholischer Hintergrund muss bestehen, sonst würde es das Foto nicht geben. Und offenbar hat sie es ja vor dir verborgen. Ob du von der Seite deines Vaters Geschwister hast?«
Mein Kopf ruckte hoch. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Eher beschäftigt mich die Frage, ob er Mama … umgebracht hat!«, stieß ich hastig hervor.
Mara legte den Kopf schief, tippte sich nachdenklich an die Lippen. »Das können wir wohl nicht ausschließen. Du musst mit dem Bild zur Polizei, vielleicht ist es eine Spur.«
»Irgendwie will – wobei wollen ist das falsche Wort – also ich denke, ich sollte zu Onkel Willi. Wenn jemand den Kerl kennen könnte, dann wohl er. Vielleicht finde ich etwas heraus, was auch für die Polizei von Interesse ist. Und du kennst ihn, Fremden gegenüber macht er gerne auf schweigsam.«
»Das liegt bei euch definitiv in der Familie. Zudem habt ihr alle einen Hang dazu, euch einzuigeln.«
Ich zog eine Schnute, obwohl ich wusste, dass Mara diese Aussage nicht böse meinte.
»So, was hältst du von einer Ablenkung? Du weißt, ich habe heute den ganzen Tag für dich freigehalten. Sollen wir eine kleine Runde spazieren gehen? Oder einen Film ansehen?«
Ich fuhr mir mit der Hand über das Gestrüpp am Hinterkopf. »Gilt dein Angebot noch für das Haare schneiden? Ich brauche etwas Veränderung. Denkst du, dass mir ein Schwarz stehen könnte?«
»Schwarz? Doch nicht dauerhaft?« Mara zog eine Augenbraue hoch. »Bist du dir sicher? So eine Farbe bekommst du nicht mehr so leicht raus, und du weißt, ein Blondieren danach könnte die Haarstruktur angreifen.«
»Jetzt, wo sich alles im Umbruch befindet, passt kein fades Blond. Und auch Mama hatte so schönes dunkles Haar …«
»Oh, ich verstehe, dadurch fühlst du dich näher mit Natascha verbunden, nicht wahr?«
Ich nickte zustimmend.
Mara klatschte in die Hände. »Dann hopp auf, Süße, lass dich überraschen und ein bisschen von mir verwöhnen!«
Onkel Willi
Ich parkte vor Willis Stammkneipe im Ort, denn bei ihm Zuhause hatte ich ihn nicht angetroffen. Sicherheitshalber befand sich etwas Hochprozentiges in meiner Tasche, was seine Gesprächigkeit im Normalfall förderte.
Tief atmete ich durch. Ich klappte den Innenspiegel im Wagen herunter, begutachtete die neue Frisur, die mir Mara verpasst hatte. Ein Tiefschwarz spiegelte sich darin. Mein Haar endete etwas über den Schultern, war schräg nach vorne geschnitten, mit feinen Abstufungen um das Gesicht. Momentan trug ich es, weil es praktischer war, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Mara hatte statt einer Permanentfarbe zu einer Tönung gegriffen, die sich nach und nach auswaschen würde. Eine umsichtige Wahl ihrerseits. Ich war dankbar dafür, dass es Mara gab! Sie war die allerbeste Freundin, die man sich wünschen konnte! Wir hatten einander in der Fachschule für wirtschaftliche Berufe kennengelernt, waren zwei pubertierende Mädels mit fünfzehn Jahren gewesen. Anfangs hatte Mara gedacht, bedingt durch den Vornamen Alsuna, ich hätte einen Migrationshintergrund und würde schlecht Deutsch sprechen. Zumindest war das für sie der naheliegendste Grund bezüglich meiner Zurückhaltung.
Als sie mich zum ersten Mal ansprach, redete sie betont langsam und versuchte, jeden Dialekt zu vermeiden, der in unseren Breiten üblicherweise verwendet wurde. Das klang seltsam und brachte mich zum Schmunzeln. Als sie mir dann auch noch Deutschhilfe in Aussicht stellte, konnte ich nicht mehr an mich halten und war wegen ihres Fehlschusses in kaum enden wollendes Gelächter ausgebrochen. Das hatte das Eis gebrochen und uns zu besten Freundinnen gemacht.
Optisch gaben wir Mädels einen totalen Kontrast ab. Mara war etwa einen Meter sechzig groß, mit fraulichen Pfündchen gesegnet und quirlig, während ich mich mit meiner schlanken Figur bewusst im Hintergrund hielt und lieber beobachtete. Häufig kam es vor, dass ich beim Fortgehen in der Disco am Rand saß, während Mara auf der Tanzfläche herumwirbelte. Oder ich umschiffte die Menschenansammlungen in der Disco gekonnt, indem ich mich in eine dunkle Ecke verzog, in der maximal Liebespärchen hockten, die von mir ohnehin keine Notiz nahmen. Genauso passte es für mich, denn ich wollte nicht im Mittelpunkt stehen, das tat ich bei meiner Mama zu Genüge. Dort im Schatten, mit der Musik im Hintergrund, das war damals mein Stückchen Freiheit gewesen.
Ich seufzte. Was würde ich jetzt für Mamas Aufmerksamkeit geben! Nie hätte ich gedacht, dass mir diese übertriebene Fürsorge einmal fehlen könnte! Ich vermisste Mama! Zittrig langte ich zu meinem Handy, öffnete die Anrufliste, sah auf ihr kleines zugeordnetes Bild – eine Aufnahme aus der Bibliothek, die mir vollgeräumte Regale mit Büchern präsentierte. In meinem Ohr hörte ich nach wie vor ihre verzweifelte Stimme.
Wütend und traurig zugleich stopfte ich das Smartphone in den Rucksack hinein. Ich wollte endlich Antworten auf meine Fragen finden! Auf zu Willi! Ich nahm die Tasche hoch, schulterte sie linksseitig und achtete darauf, dass sie nicht gegen meine Verbrennung am Rücken pendelte. An sich spürte ich die Verletzung immer weniger, doch druckempfindlich war sie nach wie vor.
Suchend trat ich in die Kneipe ein. Untertags waren kaum weitere Gäste anwesend. Willi saß in der hinteren Ecke und starrte vor sich in ein leeres Bierglas. Ich rümpfte die Nase, es roch etwas muffig und nach abgestandenem Rauch, obwohl offiziell in Kneipen-Innenräumen Rauchverbot herrschte. Langsam ging ich auf ihn zu.
Mit gedrücktem Blick schaute Willi zu mir auf. Er brauchte ein paar Momente, bis er mich erkannte, dennoch sagte er zu meinem veränderten Aussehen nichts. Stattdessen erklang ein heiseres verwaschenes: »Es tut mir leid.«
Ich nickte, sollte ihm ebenso mein Beileid ausdrücken, schaffte es nicht. Bestimmt fehlten ihm die warmen Gratis-Mahlzeiten, dachte ich verbittert. Früher hatte er hin und wieder Hilfsarbeiten angenommen, dazu hatte er sich in den letzten Jahren nicht mehr aufgerafft. Ich schielte auf seine zitternde Hand, die davon zeugte, dass er seinen gewohnten Alkoholspiegel noch nicht erreicht hatte, und ließ mich auf einen freien Stuhl ihm gegenüber nieder.
»Hast du eine Ahnung, wer das getan haben könnte?«
Willi schüttelte verneinend den Kopf. »Natascha war zu allen immer lieb und korrekt. Das hab ich auch der Polizei gesagt.«
Ich schluckte, somit hatten die Beamten ihn offenbar in einem halbwegs nüchternen Zustand vorgefunden und vernehmen können, wenn er sich daran erinnerte. Ich nestelte aus der vorderen Tasche des Rucksacks das gefundene Bild hervor und schob es ihm auf der Tischplatte zu. »Kennst du den Mann neben Mama?«
Willi keuchte erstaunt auf. »Nein!«
»Du lügst!« Die Reaktion des Onkels war zu intensiv gewesen!
»Nicht hier!«, zischte er.
»Vielleicht hilft dir die Flasche dabei, dein Erinnerungsvermögen anzukurbeln.«
Kaum hatte ich den Alkohol abgestellt, wischte er diese unwirsch von der Platte. Die Flasche zerschellte am Boden. Betroffen starrte er auf den Alkohol, der sich pfützenartig ausbreitete, ehe er emporstob, mit einer Geschwindigkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Ich musste mir ins Gedächtnis rufen, dass er mit Mitte fünfzig nicht zum alten Eisen zählte, obwohl er deutlich älter aussah.
»He, du musst erst die Zeche bezahlen!«, rief der Wirt hinter dem Tresen. »Und verdammte Sauerei!«
»Wie viel?« Ich zog einen Fünfziger hervor. »Reicht das?«
»Für den heutigen Tag.« Brummend schnappte sich der Wirt den Schein und hatte bestimmt auch einen Putzlohn miteinberechnet.
Verärgert eilte ich dem Onkel nach. Na super – habe ich nun Mamas Stelle übernommen und werde künftig die goldene Kuh für Willi sein? Nein, das wollte ich nicht! Doch er war mein letzter lebender Verwandter, und ich kannte mich. Hängen lassen würde ich ihn nicht, allerdings hieß das keineswegs, dass ich mich ausnutzen ließe!
Ich holte Willi ein. Mein Onkel hatte vor dem Lokal gestoppt und eine Zigarette herausgezogen. Er brauchte ein paar Versuche, bis er sie mit dem Feuerzeug entfachte. »Woher hast du das Bild?«, sprach er zwischen zwei inhalierenden Atemzügen.
»Es war in Mamas Jacke, die aus purem Glück das Feuer überstanden hat. Und am Telefon hat sie mir gesagt, dass jemand gekommen ist, um sie umzubringen. Wer und weshalb? Und der Kerl am Bild hat dasselbe Muttermal wie ich! Er ist mein Vater, oder?«
Willi hielt meinen fragenden Blicken stand. Rauchte erneut, ehe er antwortete: »Die Polizei hat mir davon erzählt. Unfassbar, doch kein Unfall … Ich dachte anfangs, mein Schädel hätte sich eine absurde Geschichte ausgedacht.« Er klopfte sich mit der freien Hand seitlich gegen die Stirn.
Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen, während es in seinem Kopf zu rattern schien.
Nach einem neuerlichen Zug schnippte er die Zigarette weg. »Ich weiß nur, dass der Kerl auf dem Bild aus Jugoslawien stammt, also eigentlich Slowenien. Der Krieg hat den Staat ja zerfallen lassen.«
Willi wusste etwas! Jetzt durfte ich nicht lockerlassen! »Was hatte Mutter mit ihm zu schaffen?«
»Natascha arbeitete als Küchenhilfe in einem Hotel in Bad Radkersburg. Also in Grenznähe. Sie hat ihn dort kennengelernt. Und sich in ihn verliebt.«
Ich lehnte mich an das graugefärbte Mauerwerk der Kneipe. Mama und ein Mann, das klang so abstrus für mich. Wieso hatte sie es geheim gehalten? Hatte Mara recht, dass diese Liebe unglücklich verlaufen war? Er sie schwanger sitzen hat lassen? Mich tatsächlich nicht wollte, so wie Mama es einst andeutete? »Kennst du seinen Namen?«
»Janusz – Janosch … oder so. Nachnamen, keine Ahnung. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ist auch schon Ewigkeiten her.«
»Lebt er noch dort in der Gegend, oder in seinem Heimatort?«
Willi zuckte mit den Achseln. »Woher soll ich das wissen? Hast eigentlich noch mehr?«
Erst jetzt bemerkte ich wieder sein Zittern. Willi brauchte Alkohol-Nachschub. Ich unterdrückte ein Ächzen, ging in die Richtung meines Skodas. Mein Onkel folgte mir, linste in den Kofferraum, als ich diesen öffnete und eine weitere Flasche hervorzog. »Teil dir das Zeug ein!«
Sein kehliges Geräusch, das er entließ, klang nicht gerade nach Zustimmung. »Hast du die Ruine eigentlich schon gesehen?«
»Nein.« Ich atmete tief durch, so viel Mut hatte ich noch nicht. Doch ich fürchtete, dass ich es nicht mehr allzu lange aufschieben konnte. Genauso wenig wie den Gang zur Bestattung, um alle Formalitäten zu klären. »Sag Bescheid, wenn ich dir irgendwo behilflich sein kann.« Ich drückte ihm die Weinflasche in die Hand.
Er starrte mich durchdringend an, als ob er mit so einem Vorschlag niemals gerechnet hätte. Tja, es sollte mich nicht verwundern, ich hatte bisher ebenso nicht damit gerechnet.
»Blond steht dir übrigens besser.« Willi öffnete grinsend den Schraubverschluss, trank in tiefen Zügen, als befände sich darin verdünnter Saft.
Verstimmt presste ich die Lippen zusammen. Wie ich aussah, ging ihn gar nichts an! »Ich werde das Foto in den nächsten Tagen zur Polizei bringen, also gib mir Bescheid, falls dir noch etwas dazu einfällt.«
Willi wischte sich mit dem Handrücken über die nassen Mundwinkel, drehte ohne eine weitere Entgegnung ab. Er schaute nicht mehr zurück, sondern stapfte in leichten Zick-Zack-Linien davon. Im Augenblick wusste er, dass es keinen weiteren Alkohol von mir geben würde. Doch ich hoffte darauf, dass es ihm ebenso ein Anliegen war, herauszufinden, wer hinter dem Anschlag steckte!
Mit weichen Knien setzte ich mich hinters Steuer. Ich besah mir das alte Bild, wünschte, es gäbe darauf irgendeine Erklärung, doch ich fand keine. Bevor mich die Emotionen neu übermannen konnten, startete ich den Wagen. Ab zum Bestatter! Der nächste Punkt auf meiner abzuarbeitenden Liste, obwohl ich mich weit lieber in meiner Wohnung verbarrikadiert hätte!
In Sorge
Mara saß vor dem Laptop, scrollte durch das Internet.