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Es kam „Lose“ auf die Kurrleine. Hans nahm den G-Haken aus dem Quetschglied. Chris löste die Sicherungskette für den Zwischenstander.
„Kurrleine klar zum Hieven!“, rief Chris.
Der Bestmann kuppelte die Steuerbordwindentrommel ein und hievte ganz langsam beide Kurrleinen.
Die durch das Hieven entlasteten Brettstander beider Seitenscherbretter wurden abgeschäkelt. Vorher wurden sie, vorn und achtern, mit dem Bootshaken griffbereit durch Chris und Björn, herangezogen.
Die Fünfzig Fuß-Stander wurden gehievt, die anschließenden „Ponnybretter“, Spreizmittel für die Flügel, vorn und achtern, abgefangen und abgeschäkelt. Beim Weiterhieven kam das Rollengeschirr aus dem Wasser. Es wurde in Höhe des Schanzkleides, unter Berücksichtigung der durch den Seegang verursachten Krängung des Schiffes nach Steuerbord, eingefiert und binnenbords abgelegt.
Die gut gefetteten Klauen der Kurrleinenwinde wurden ausgekuppelt, die mechanischen Bandbremsen fest angezogen.
Die Decksleute holten die vorderen und achteren Netzstander und Flügel mit der Hand unter Mitwirkung der Krängung des Schiffes ein.
Zügig wurde eingeholt, sobald das Schiff nach Steuerbord überholte. „Hol weg“, rief Martin. Die Decksleute zogen gleichmäßig die „Lose“ weg. Chris hievte das Höhenscherbrett und Oberblatt des Netzes, mithilfe des „Pferdes“, einer Leine aus Sisal, über den „Toten Mann“, einer Decksstütze mit Leitrolle, bis in die Höhe des Schanzkleides. Martin pickte den Flitzerhaken in die Mitte der oberen Randleine, der Haedleine, ein. Der „Flitzer“ wurde über den schnell laufenden kleinen Spillkopf durch Chris gehievt. Es kam „Lose“ in das Oberblatt. Das Vornetz wurde durch die Decksleute mit der Hand weiter eingeholt, bis das Trichterstück erreicht war.
Martin legte mit dem Netzmacher einen kurzen Herkulesstropp zweimal um das Trichterstück.
„Pick den Flitzerhaken ein!“, rief Martin.
Der Netzmacher pickte den Flitzerhaken in die Augen des Stropps ein.
„Hiev up!“, rief Martin.
Chris legte drei Törns um den Spillkopf und hievte den „Flitzer“. Das Trichterstück und der Tunnel kamen nach oben, der Fisch rutschte im Tunnel nach unten in den Steert.
Martin legte mit dem Netzmacher einen neuen Stropp um den Tunnel, sobald dieser bis zum Block des „Flitzerstags“ hoch genug gehievt war.
„Lets go!“, rief Martin und schaute nach Chris.
Chris warf den „Flitzer“ vom Spillkopf. Das gehievte Netzteil fiel nach unten. Nach dem Loswerfen des Flitzers klemmte Martin mit dem Gewicht seines Oberkörpers das Netz am Schanzkleid fest, um ein Herausgleiten des Tunnels zu verhindern. Der Netzmacher löste den Flitzerhaken und pickte diesen in die beiden Augen des neu umgelegten Stropps ein.
Es wurde weiter gehievt, bis der volle Steert sichtbar wurde. Der Kapitän, der aus dem offenen Brückenfenster das Einholen des Fanggeschirrs überwachte, schätzte sechzig Korb, sehr großen Kabeljau. Martin legte zusammen mit dem Netzmacher den dicken Hievstropp, aus sechskardeeligem Herkules, dreimal um das obere Ende des vollen Steertes und hakte den „Bobbyhaken“ in die Augen des Stropps ein.
„Hiev up, Bobby!“, rief Martin.
„Hiev up, Bobby“, wiederholte laut der Backbordwindenmann, legte vier Törns des Bobbyläufers um den großen Spillkopf auf der Backbordseite der Kurrleinenwinde und begann mit dem Hieven des vollen Steertes.
„Alles unter raus“, rief Martin. Die Decksleute begaben sich eilig in den Bereich des „Toten Mannes“, ein scheinbar sicherer Platz im Fall des Bruchs des Steertblocks oder Läufers.
Hans hatte vorher das Fangtau am Schanzkleid, in einen Bauchschäkel, einer dort angebrachten starken, steglosen Kette, eingehakt.
Der Steert wurde mit Gefühl über das Schanzkleid gehievt, als der Trawler nach Steuerbord überholte. Dadurch wurde die hohe Belastung des Steertblocks und Läufers beim Überhieven des vollen Stertes etwas vermindert. Das Abfangen des vollen, vertikal hängenden Steertes im eingehängten Fangtau führte immer zu einer besonders starken Belastung des Auges des Steertblockes. In dem Moment des Abfangens des Steertes brach unerwartet das Auge des Blocks.
Block und Läufer schleuderten in Richtung des „Toten Mannes“ und trafen den dort stehenden Chris am Kopf und Hals. Alle Decksleute sahen erschrocken den fürchterlichen Unfall.
„Holt die Krankentrage und das Verbandsmaterial!“, schrie Martin aufgeregt.
Björn und Sörn holten beides sofort aus der Krankenkammer.
Vorsichtig wurde der schwer verletzte Chris durch Martin und zwei Decksleuten waagerecht auf der Krankentrage abgelegt, gesichert und von Deck getragen. Im trockenen, warmen Vorraum hinter der Kurrleinenwinde wurde mit den Erste-Hilfe-Maßnahmen begonnen.
Der Kapitän, der den Unfall aus dem vorderen Brückenfenster wahrnahm, ließ unverzüglich den Ersten Steuermann wecken, der wachfrei hatte.

Abgefangener Stert
Er informierte über UKW-Sprechfunk die Wachhabenden der fischenden Fahrzeuge über den schweren Unfall und bat diese um ärztliche Hilfe.
„Kein Arzt an Bord“, bedauerten die angesprochenen Wachhabenden der anwesenden Fischtrawler und boten andere mögliche Hilfen an.
Nach der Wachübergabe an den Ersten Steuermann eilte der Kapitän an Deck und unterstützte Martin bei der „Ersten Hilfe“. Chris hatte das Bewusstsein verloren. Sichtbar waren am Kopf Riss- und Platzwunden, Schädelverformungen, Austritt von Blut aus Nase, Mund, Ohren und Hals. Durch Martin wurden schnell keimfreie Kompressen vorgelegt und durch breite Binden festgehalten. Die stark blutenden Verletzungen im Halsbereich wurden durch Pressverbände verbunden. Der Kapitän und Martin unterstützten sich bei den „Ersten Hilfe“-Maßnahmen. Der Puls von Chris war sehr schwach, setzte aus, es wurde kein Atem und Herzschlag mehr festgestellt. Beide führten unverzüglich die Herzdruckmassage durch. Bering legte den Ballen der rechten Hand auf die Mitte der Brust, den Ballen der linken Hand darüber, drückte mit gestreckten Armen und geradem Rücken den Brustkorb fünf bis sechs Zentimeter tief ein. Nach jedem Druck entlastete er den Brustkorb vollständig. Nach häufigen Drücken, überstreckte er den Kopf, um die Atemwege freizumachen. Martin beatmete gleichmäßig die Nase. Nach einigen Beatmungen setzte der Kapitän die Herzdruckmassage fort. Sie wechselten sich ab. Die Körperwärme von Chris wurde durch Decken, die Martin über den leblosen Körper legte, erhalten.
Auf Weisung des Kapitäns hatte der Funker in der Zwischenzeit Kontakt zu einer kanadischen Landfunkstelle aufgenommen und um medizinische Beratung gebeten. Der Arzt der gewählten Landfunkstelle empfahl eine medizinische Behandlung in einem Krankenhaus in Halifax, einem kanadischen Hafen.
Der Transport durch einen Hubschrauber oder das Anlaufen eines Hafens war aber aufgrund der großen Entfernung, den Wetterbedingungen und Eisverhältnissen nicht machbar.
Herzdruckmassage und Beatmung wurden lange Zeit weiter fortgesetzt. Ohne Erfolg.
Es wurde kein Lebenszeichen bei Chris mehr festgestellt. Keine Atmung, kein Herzschlag, der Kapitän stellte den Tod fest. Chris war verstorben.
Der Kapitän beauftragte den Netzmacher, bei Chris bis auf Abruf zu verbleiben. Der Kapitän und Martin begaben sich in den Brückenraum, um über das weiteres Vorgehen zu beraten.
Der Funker hatte inzwischen auf Weisung des Kapitäns die Reederei telegrafisch über den Unfalltod von Chris Kleinke informiert.
Es musste eine Entscheidung zur Bestattung getroffen werden. Die meteorologischen Bedingungen, Treibpackeisfelder bis an die Küste, ermöglichten nicht das Anlaufen der kanadischen Häfen Halifax oder St. Johns und damit eine Landbestattung. Der Transport der Leiche in die Heimat über eine Fluggesellschaft war somit nicht möglich. Der Kapitän entschied sich nach Beratung mit seinen Schiffsoffizieren und den Reedereiverantwortlichen für eine Bestattung auf hoher See.
Ein Verantwortlicher aus dem Personalbüro der Reederei fuhr am gleichen Tag zu Frau Kleinke, teilte ihr den Unfalltod ihres Sohnes mit und informierte sie über die geplante Seebestattung.
*
Die Nachricht über den Tod des Sohnes verursachte bei Frau Kleinke einen Schockzustand. Sie weinte und schrie. Durch die Nachbarin wurden die Gemeindeschwester und die Pastorin des Ortes benachrichtigt. Beide Frauen standen ihr in den schweren Stunden bei, spendeten Trost und linderten ihr Leid durch ihre persönliche Nähe und Zusprache. Die Vorstellung, Bestattung ihres einzigen Sohnes, weit weg von zu Hause, im kalten und tiefen Wasser des Atlantiks, schmerzte sie bis zur Bewusstlosigkeit. Durch die Nähe und Hilfe beider Frauen fand sie nach Stunden langsam in die Realität zurück.
*
„Wir gehen heute noch auf Heimreise und werden morgen Chris auf hoher See bestatten. Die Eisverhältnisse ermöglichen nicht das Anlaufen eines Hafens“, informierte der Kapitän die in der Messe versammelte Besatzung.
„Hans, Du hast den Beruf eines Tischlers erlernt. Fertige einen Sarg aus den neuen Raumschotten und eine Sarghülle aus Segeltuch. Morgen früh musst Du damit fertig sein.“
„Fritz, du hilfst Hans dabei. Martin du übernimmst mit den Brüdern Kessel die Einsargung, sobald Hans den Sarg gefertigt hat. Ab heute Abend gehen wir wieder geregelten Brücken- und Tagesdienst. Die Totenwache erfolgt heute durch den Tagesdienst“, bestimmte der Kapitän weiter und verlies die Messe.
*
Der Trawler trieb quer zur See, der Wind und die See kamen von Steuerbord. Der Bestmann organisierte das Auskippen des noch nicht geleerten Stertes und die Bearbeitung des Fanges. Der „Unfallblock“, einschließlich Läufer, wurden in der Lampenlast für die Ermittlung der Ursache des Bruches durch die Klassifikationsgesellschaft und Arbeitsschutzbehörde im Heimathafen zwischengelagert.
Die großen Seitenscherbretter und „Ponnybretter“ wurden zwischen den Galgen und das Schanzkleid gesetzt. Das Netz wurde vom Rollengeschirr abgeschlagen, gereinigt und in der Backbordhocke zwischengelagert. Die Decksschotten wurden aus den Halterungsstützen entfernt, mit Seewasser gereinigt und auf der Backbordseite des Decks gesichert. Die Lukensülle wurden mit Eis aufgefüllt, die Thermodeckel und Holzdeckel eingesetzt. Den Abschluss bildeten schwere eiserne Lukendeckel, die durch starke Bügel gesichert wurden. Zuletzt wurde das Deck mit Seewasser gereinigt. Die Tagesarbeit war getan. Die Decksleute zogen ihr Ölzeug aus und gingen in ihre Kammern. Gespräche untereinander kamen nicht mehr zustande. Alle waren in sich gekehrt.
*
In seinen Gedanken sah Martin den Eintritt des schweren Unfalls, die schweren Verletzungen und die starren Augen von Chris, die ihm noch etwas sagen wollten.
Unfassbar, sein Schulfreund und Arbeitskollege war tot. Was sollte er der Mutter sagen? Hatte er alles getan, um den Unfalleintritt zu verhindern? Wie sollte er das Geschehene der Mutter erklären? Er dachte an den Stein, den Chris in der Nähe des Mastes aufbewahrt hatte.
Der Kapitän beauftragte Martin, die persönlichen Sachen von Chris zu erfassen. Dieter, der mit Chris zusammen eine Kammer im Vorschiff auf der Backbordseite bewohnte, half ihm dabei. Für die Einsargung wählte Martin aus den persönlichen Sachen einen blauen Rollkragenpullover und eine blaue Hose aus. Das kleine Kopfkissen, welches Chris von zu Hause mitgebracht hatte, sollte als Kopfstütze dienen.
Alle weiteren persönlichen Sachen wurden in zwei Seesäcken verstaut, verplombt und in dem Wäschestore zur Aufbewahrung gebracht.
Das Schiff war auf Heimatkurs. Kapitän Bering hatte das Unfallgeschehen in das Schiffstagebuch eingetragen. Anhand dieser Eintragung wurde durch die Behörde im Heimathafen der amtliche Totenschein ausgestellt.
Hans fertigte mit Fritz den Sarg in der Netzlast an. Beide sägten die neuen Raumschotten unter Berücksichtigung der Körpermaße von Chris zu und verschraubten diese zu einem Sarg. Die Innenwände wurden mit Filzstreifen ausgeschlagen, sodass der Körper weich lagerte. Im Fußbereich war ein Raum für Beschwerungsmittel vorgesehen. Aus der Persenning, die für die Anfertigung von Abdeckkappen vorgesehen war, wurde der Überzug für den Sarg gefertigt. Sechs Ösen aus dickem Sisaltauwerk wurden fest aufgenäht, die das Tragen des Sarges ermöglichten.
Am späten Abend meldete Hans die Fertigstellung des Sarges. Kapitän Bering überprüfte den Sarg, hatte keine Beanstandungen und ordnete die Einsargung an. Der Sarg wurde in den Trockenraum gebracht, wo die Leiche von Chris auf der Krankentrage lag.
Gemeinsam mit den Brüdern Kessel entfernte Martin die Arbeitsbekleidung und zog Chris die ausgewählten Kleidungsstücke an. Der Kopf wurde auf dem kleinen Kissen abgelegt und gerichtet. Das bunte Halstuch, das die Mutter Chris beim Abschied schenkte, wurde durch Martin beigelegt.
Die Halteschlaufen wurden verknotet und gaben den Körper Halt und sicherten ihn gegen Verrutschen. Der Fußraum wurde mit Beschwerungsketten, kurzen Ankerkettengliedern, ausgefüllt.
Zum letzten Mal betrachtete Martin seinen Freund. Das Geschehene erschien ihm wie ein Traum. Er dachte an die Mutter von Chris. Wie sollte er ihr das Geschehene erklären?
„Hans, verschraube den Deckel. Es ist alles getan“, sagte Martin mit leiser Stimme.
Gemeinsam zogen die Männer den neu gefertigten Segeltuchbezug über den Sarg. Fritz nähte das offene Ende des Bezuges zu.
Die Lagerung des Sarges bis zum Zeitpunkt der Seebestattung erfolgte auf Pallungen im Trockenraum. Martin übernahm als Erster die Totenwache.
*
Der Kapitän ordnete für den folgenden Tag die Seebestattung an. Das Schiff hatte die Neufundlandbank verlassen und befand sich im Atlantik. Der Echograph zeigte die Meerestiefe nicht mehr an. Der Erste Steuermann übernahm den Wachdienst des Kapitäns. Als Zeichen der Trauer wurde die deutsche Flagge auf Halbmast gehisst.
Kapitän Bering begab sich an Deck. Sechs ausgewählte Decksleute legten den Sarg auf der ersten Luke ab und sicherten diesen gegen das Verrutschen durch Krängung und Stampfen des Schiffes. Der Erste Steuermann stoppte das Schiff auf der vorgesehenen Position und legte es quer zur See.
Die Füße des Toten zeigten zur Steuerbordseite. Wind und See kamen von Steuerbord. Überkommende See spülte über das Deck. Die wachfreie Besatzung stand, in Ölzeug gehüllt, beidseitig des Sarges. Die Gesichter der Männer waren starr, die Augen feucht. Martin stand innerlich gebrochen am Sarg. Die Schmerzen in der Brust nahmen zu, das Gesicht war verzerrt.
Kapitän Bering hielt die Trauerrede.
„Wir sind hier, um von Chris Abschied zu nehmen. Wir trauern um einen Kollegen, der gern seinen Beruf ausübte, kollegial, freundlich, hilfsbereit zu jedermann war, die beruflichen Aufgaben an Bord tatkräftig und zuverlässig erfüllte und unerwartet aus dem Leben gerissen wurde. Es ist nicht der Friedhof, die Friedhofskapelle im heimatlichen Ort, wo wir Abschied nehmen, sondern das Deck unseres Schiffes. Lasst uns Chris gedenken“, sprach der Kapitän mit fester Stimme und verneigte sich vor dem Sarg.
Die Männer verharrten regungslos. Der Schrei einzelner Möwen, die Geräusche des Windes und das durch die Wasserpforten an Deck spülende Seewasser begleiteten die Zeremonie des Gedenkens.
Nach dem Signal aus dem Typhon, ausgelöst durch den Ersten Steuermann, hoben die neben dem Sarg stehenden Männer diesen auf das Schanzkleid. Durch die Krängung des Trawlers nach Steuerbord glitt der Sarg in die brechenden Wellen und versank in die Tiefe des Atlantiks. Das Schiff trieb vor Wind und Wellen und entfernte sich langsam von der Bestattungsposition.
Eine lange Zeit standen die Männer noch am Schanzkleid und gedachten des Kollegen und Freundes.
In Gruppen verließen die Männer das Deck, suchten ihre Kammern auf oder begannen mit dem Tages- und Wachdienst.
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Der Wetterbericht meldete schweren Sturm aus Nordwest rechtsdrehend.
„Veranlassen sie das Ziehen von Strecktauen auf dem Arbeits- und Bootsdeck“, befahl der Kapitän dem Bestmann, nachdem dieser die Brücke auf Anforderung betreten hatte.
Nicht selten verursachten die überkommende See sowie das Krängen und das Stampfen des Schiffes Unfälle beim Begehen des Decks. Auf der vorletzten Reise hatte sich der Netzmacher durch einen Sturz auf dem Arbeitsdeck, verursacht durch große Krängungen des Schiffes, die Hand gebrochen.
Über den Bordfunk wurde die Besatzung durch den Ersten Steuermann aufgefordert, die Bullaugen in den Kammern mit den angebrachten Stahlblenden zu verschließen, um beim Brechen des Glases durch Seeschlag einen Wassereinbruch in den Kammern zu verhindern.
Netzreparaturarbeiten, Spleißen von Netzstandern und Stropps, Konservierung von Schäkeln, Blöcken und Tauwerk, Reinigung der Betriebsgänge, Kammern und Stores wurden während der Heimfahrt durch die nicht im Wachdienst Tätigen vorgenommen. Das Verhalten der Männer hatte sich aufgrund des schlimmen Ereignisses verändert. Sie waren in sich gekehrt und in ihren Gedanken häufig bei Chris. Fröhlichkeit, Spaß und Heiterkeit fehlten gänzlich.
In der Nordsee, im Skagerrak und Kattegat nahm der Wind zusehends ab, in der Ostsee trat eine wesentliche Wetterverbesserung ein.
*
Am frühen Morgen lief das Schiff mithilfe des Lotsen im Fischereihafen ein. Es hatte ein wenig geschneit. Endlich wieder zu Hause! Zoll-, Arbeitsschutz- und Grenzschutzbehörde, der Einklarierer der Reederei, der „Geldmann“ und die Angehörigen der Besatzung warteten geduldig und beobachteten das sich nähernde Schiff.
Die Mutter von Chris war nicht gekommen.
Das Festmachen des Schiffes erfolgte auf der Steuerbordseite, vor der Fischhalle.
Martin beaufsichtigte das Festmachen auf dem Vorschiff.
„Vorspring über!“, rief der Kapitän aus der Brückennock in Richtung Vorschiff.
Die an der Vorspring befestigte Wurfleine wurde auf die Pier geworfen und durch die Festmacher an Land erfasst. Die Spring wurde an Land gezogen. Das Auge wurde über den Poller gelegt. Auf dem Vorschiff wurde die Leine durch die bereitstehenden Decksleute über den Doppelpoller geholt und langsam mit gefiert.
„Nicht in die laufenden Buchten treten!“, warnte Martin die vor dem Poller stehenden Decksleute.
„Halt fest die Vorspring!“, rief der Kapitän, der das Anlegen des Schiffes überwachte.
Björn wiederholte die Order und legte einen weiteren Törn um den Doppelpoller und hielt die Spring fest.
„Spring ist fest!“, rief Björn.
Hans Blank hielt den Fender zwischen Bordwand und Pier, um Beschädigungen am Schiff und Pier zu verhindern. Das Schiff näherte sich langsam dem Pier.
„Vorleine an Land!“, befahl Martin.
Die Vorleine wurde auch mithilfe der Wurfleine übergeben, die hinter dem Auge mit einem Slipsteg befestigt war. Die Festmacher an Land zogen die Leine auf den Kai und legten das Auge über den Poller. Auf dem Vorschiff holten zwei Decksleute die Vorleine durch und belegten diese über den doppelten Kreuzpoller. Achtern erfolgte die Übergabe der Leinen parallel zur Übergabe der vorderen Leinen.
„Schiff ist fest!“, meldete Martin dem Kapitän.
„Relingstreppe, Landgang anbringen und sichern!“, befahl der Kapitän den Bestmann von der Brückennock aus, der unverzüglich mit Hans Blank die Land-Schiff-Verbindung herstellte.
Die Behörden gingen an Bord und meldeten sich beim Kapitän. Es erfolgte die Kontrolle der Schiffsdokumente und die Übergabe des Unfallberichtes. Der Zeitpunkt der Nachuntersuchung des Unfalls durch die Arbeitsschutzbehörde wurde für den Nachmittag festgelegt.
Der Zoll kontrollierte das Schiff auf Schmuggelware, insbesondere auf die an Bord gekauften zollfreien Zigaretten.
Der „Geldmann“ ging in die Messe und bereitete die Auszahlung der Heuer vor. Er hatte zwei Aktentaschen, mit Geld gefüllt, mitgebracht. Jedes Besatzungsmitglied erhielt eine Lohntüte, die eine Abschlagszahlung und die Restzahlungen der letzten Reise enthielt sowie einen personenbezogenen Abrechnungsbogen. Die Freigabe zum Betreten des Schiffes für die Angehörigen erfolgte erst, nachdem die Behörden ihre Zustimmung gegeben hatten. Die Männer gingen mit ihren Angehörigen in die Wohnkammern. Einige Ehefrauen hatten ihre Kinder mitgebracht, die ihre Väter freudig erwarteten, umarmten und das Neueste aus der Familie berichteten.
Das Entladen des Schiffes erfolgte durch die Männer des Löschgangs. Der Lukendeckel des ersten Raumes wurde abgenommen, die Thermodeckel und das Eis wurden aus dem Lukensüll entfernt. Der Fisch wurde in Körbe gesammelt, mittels einer Talje auf ein Förderband gehievt und ausgeschüttet. In der kühlen, lang gestreckten Fischhalle wurde der Fisch, überwiegend durch junge kräftige Frauen, unter strenger fachlicher Aufsicht des Gütekontrolleurs, vom Band sortiments- und qualitätsgerecht in Holzkisten sortiert und mit Eis abgedeckt. Der Transport der gefüllten Kisten erfolgte mit Elektrokarren in die bereitstehenden Kühlwaggons, die den nachgefragten Fisch ins Land auf die Großmärkte zum Verkauf brachten.
Die letzten Besatzungsmitglieder verließen gegen Abend das Schiff. Die Arbeitsschutzbehörde hatte wichtige Zeugen zum Unfall befragt. Block und Läufer wurden durch Martin an die Arbeitsschutzbehörde zur Materialprüfung übergeben.
*
Der Schiffswachdienst der Reederei übernahm die Bewachung des Schiffes für die folgenden Tage. Martin ging als Letzter von Bord. Das bestellte Gütertaxi seines Bruders war gekommen. Die persönlichen Sachen von Chris, zwei volle Seesäcke, wurden aufgeladen. Platz fand auch der von Chris ausgewählte Stein.
Abends kam er am Heimatort an. Sein erster Weg führte zu Frau Kleinke. Martin betrat alleine das Haus. Frau Kleinke wartete im Wohnzimmer. Martin ging auf sie zu. Es wurde nicht gesprochen. Beide umarmten sich und weinten leise. Martin schilderte ihr das Geschehene und die Seebestattung. Er überreichte das Beileidsschreiben der Besatzung und einen Geldbetrag.
Beide gingen vor das Haus. Martin übergab ihr die Seesäcke mit den persönlichen Sachen und den von Chris aufbewahrten Stein. Er legte den Stein im Blumenbeet des Vorgartens ab, wie es der Wunsch der Mutter war.
Am anderen Tag, nachmittags, besuchte Linda Frau Kleinke. Sie hatte sich nach dem letzten Kirchgang bei ihr angemeldet. Der Tod von Chris hatte Linda schwer getroffen. Gestern hatte der Hausarzt ihre Schwangerschaft bestätigt, die sie schon vermutet hatte.

Von Chris aufbewahrter Stein.
Sie teilte Frau Kleinke die heimliche Verlobung und ihre Schwangerschaft mit. Das Geständnis von Linda löste bei Frau Kleinke Hoffnung, Freude und Kraft aus. „Liebe Linda, die Zeit für mich ist schwer, auch Du hast es schwer, wir werden es schaffen.“, sagte Frau Kleinke und blickte ihr fest in die Augen. Beide Frauen umarmten sich. Sie fühlten sich nicht mehr allein.
*
Nach vier Tagen war die Freizeit für die Besatzung der „Anna“ zu Ende. Martin ging wieder an Bord. Das Schiff wurde ausgerüstet. Die Reise ging wieder zu den Fangplätzen auf der Neufundlandbank.
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