- -
- 100%
- +
Manchmal unternehmen wir beträchtliche Reisen – körperlich, geistig oder emotional – und fänden die Liebe und das Glück, die wir suchen, wenn wir uns nur einfach hinsetzten. Wir verbringen unser Leben mit der Suche nach etwas, das uns glücklich machen wird, etwas, von dem wir meinen, wir hätten es nicht. Aber der Schlüssel zum Glück liegt in einer anderen Vorstellung davon, wo wir suchen müssen. Der große japanische Dichter und Zen-Meister Hakuin sagte: „Die Menschen wissen nicht, wie nah die Wahrheit ist; sie suchen sie an entlegenen Orten. Welch ein Jammer! Sie sind wie Dürstende, die mitten im Wasser vor Durst aufschreien.“
Normales Glück entsteht, wenn wir Angenehmes erleben – die Befriedigung, für kurze Zeit zu bekommen, was wir wollen. Ein solches Glück ist wie die vorübergehende Besänftigung eines unglücklichen, unersättlichen Kindes. Wir greifen nach dem Trost einer momentanen Ablenkung und sind verstört, wenn sie sich verändert. Ich habe einen Freund, der vier Jahre alt ist. Wenn er enttäuscht ist oder nicht bekommt, was er will, gellt der Schrei durch sein Elternhaus: „Keiner liebt mich!“ Als Erwachsene fühlen wir oft das gleiche: Wenn wir nicht bekommen, was wir wollen – oder wenn wir es bekommen, nur um dann zu erleben, daß es sich wandelt –, scheint uns die Liebe des ganzen Universums entzogen. Glück wird zu einer Entweder/Oder-Frage. Genau wie bei dem Vierjährigen verstellen Interpretationen und Urteile auch uns den klaren Blick.
Das Leben ist, wie es ist, ungeachtet unserer Proteste. Wir alle erleben einen ständigen Wechsel schöner und leidvoller Ereignisse. Ich war einmal mit Freunden in Nordkalifornien wandern. Wir hatten beschlossen, einem bestimmten Weg zu folgen – in den ersten drei Tagen hin, in den nächsten drei Tagen denselben Weg zurück. Der dritte Tag dieser anstrengenden Wanderung endete mit einem langen, gleichmäßigen Abstieg. Wir waren bereits einige Stunden unterwegs, als einem meiner Freunde plötzlich klar wurde, was dieser Abstieg für den folgenden Tag bedeutete, wenn wir auf gleichem Weg zurückgehen würden. Er drehte sich zu mir um und sagte düster: »In einem dualistischen Universum kann bergab nur eins bedeuten.«
Dem unerbittlichen Fluß der sich unablässig wandelnden Lebensbedingungen ist nicht zu entkommen, und doch versuchen wir verzweifelt, das Angenehme festzuhalten, und wir versuchen ebenso verzweifelt, Schmerz zu meiden. Unsere Welt ist randvoll mit Bildern, die uns sagen, daß Leiden falsch ist; Werbung, soziale Umgangsformen und kulturelle Wertvorstellungen signalisieren, daß es schuldhaft, beschämend, demütigend sei, zu leiden oder traurig zu sein. In diesen Botschaften spiegelt sich die Erwartung, daß es uns möglich sein sollte, Schmerz oder Verlust irgendwie zu kontrollieren. Wenn wir geistige oder körperliche Schmerzen erfahren, fühlen wir uns oft isoliert, von der Menschheit und dem Leben abgeschnitten. Unsere Scham läßt uns ausgerechnet dann zum Außenseiter werden, wenn wir in unserem Kummer das Gefühl von Verbundenheit am meisten brauchen.
Das übliche, vorübergehende Glück hat nicht nur eine subtile Komponente von Einsamkeit, sondern auch von Angst. Wenn alles nach Wunsch läuft, es uns gut geht und wir bekommen, was wir möchten, spornt uns das an, unser Glück zu verteidigen, weil es so zerbrechlich, so ungewiß wirkt. Als bräuchte unser Glück ständigen Schutz, leugnen wir allein schon die Möglichkeit von Leid. Wir weigern uns, diese Möglichkeit in uns und anderen auch nur zur Kenntnis zu nehmen, weil wir fürchten, schon das könne unser Glück trüben oder zerstören. Damit wir uns also weiter wohl fühlen können, lehnen wir es ab, in dem Obdachlosen auf der Straße den Mitmenschen zu sehen. Wir schließen, das Leid anderer Menschen sei für unser Leben von keinerlei Bedeutung. Wir wenden uns vom Leid der Welt ab, weil wir fürchten, es könnte unser eigenes Glück gefährden. In dieser ständigen Verteidigungsposition ziehen wir uns in eine so furchtbare Einsamkeit zurück, daß wir niemals wahre Freude empfinden können. Wie eigenartig wir doch konditioniert sind: In unserem Schmerz fühlen wir uns so allein wie in unserem Glück verletzlich und isoliert.
Einige Menschen brauchen nur eine einzige eindringliche Erfahrung, um aus dieser Isolation ausbrechen zu können. Asoka, ein mächtiger nordindischer Herrscher, lebte etwa zweihundertfünfzig Jahre nach dem Tod des Buddha. In den Anfangsjahren seiner Regierung war er blutrünstig und wollte sein Reich um jeden Preis vergrößern. Er war ein sehr unglücklicher Mann. Eines Tages schritt er nach einem besonders erbitterten Gefecht, mit dem er neue Gebiete erobern wollte, über das Schlachtfeld. Er war von grauenhaften Bildern toter Männer und Tiere umgeben. Sie lagen dicht an dicht, verwesten in der Sonne und wurden von Aasgeiern zerhackt. Asoka war entsetzt über das Blutbad, das er angerichtet hatte.
Gerade in diesem Augenblick überquerte ein buddhistischer Mönch das Schlachtfeld. Er sagte kein Wort, strahlte aber Frieden und Glück aus. Asoka sah ihn an und dachte: „Warum geht es mir, der ich alles habe, so furchtbar schlecht? Dieser Mönch besitzt nichts außer seinem Gewand und der Schale, die er trägt, und doch wirkt er an diesem furchtbaren Ort heiter und glücklich.“
Asoka traf dort, auf diesem Schlachtfeld, eine Entscheidung. Er ging zu dem Mönch und fragte ihn: „Bist du glücklich? Und wenn du glücklich bist, wie kann das sein?“ Als Antwort machte der Mönch, der nichts hatte, den Herrscher, der alles hatte, mit den Lehren des Buddha bekannt. Nach dieser Zufallsbegegnung praktizierte und studierte Asoka den Buddhismus und veränderte seine Herrschaft von Grund auf. Er führte keine Eroberungskriege mehr und ließ niemanden hungern. Er wandelte sich von einem Tyrannen zu einem der geachtetsten Herrscher der Geschichte, der noch Jahrtausende später als gerecht und gütig gepriesen wird.
Asokas Sohn und Tochter brachten den Buddhismus von Indien nach Sri Lanka. Hier schlug die Lehre Wurzeln und verbreitete sich von Indien und Sri Lanka aus nach Birma, Thailand und schließlich über die ganze Welt. Daß wir heute, so viele Jahrhunderte und kulturelle Veränderungen später, einen direkten Zugang zum Buddhismus haben, ist eine direkte Folge von Asokas Wandlung. Die Ausstrahlung eines einzigen buddhistischen Mönchs wirkt bis auf uns. Die Heiterkeit eines einzigen Menschen veränderte den Gang der Geschichte und brachte uns den buddhistischen Weg zum Glück.
Die Lehre des Buddha basiert auf der Erkenntnis, daß unser Versuch, das Unkontrollierbare zu kontrollieren, uns nicht die Geborgenheit, die Sicherheit und das Glück bringen kann, die wir suchen. Diese illusorische Jagd nach Glück beschert uns nur Leid. In unserer hektischen Suche nach etwas, das unseren Durst löscht, sehen wir das Wasser nicht, in dem wir stehen, und wir treiben uns aus unserem Leben ins Exil.
Wir suchen etwas, das fest, unwandelbar und sicher ist, aber aufmerksame Beobachtung lehrt uns, daß eine solche Suche keinen Erfolg haben kann. Alles im Leben verändert sich. Der Weg zu wahrem Glück muß alle Aspekte unserer Lebenserfahrung umfassen und uneingeschränkt akzeptieren. Diese Ganzheit ist die Botschaft des daoistischen Ying/Yang-Symbols, des Kreises, der zur Hälfte dunkel, zur Hälfte hell ist. In der Mitte des Dunklen ist ein heller, in der Mitte des Hellen ein dunkler Punkt. Selbst in der tiefsten Dunkelheit ist Licht. Selbst im Herzen des Lichts liegt Dunkel, es ist verstanden, angenommen und unlösbar mit dem Hellen verbunden. Wenn wir leiden, wenn es uns nicht gutgeht, sind wir vom Schmerz nicht besiegt, vom Lichten nicht ausgeschlossen. Wenn es uns gutgeht und wir glücklich sind, versuchen wir nicht, defensiv die Möglichkeit des Leidens zu leugnen. Diese Ganzheit entsteht, indem wir das Licht ebenso akzeptieren wie das Dunkel und darum in beiden zugleich sein können.
Der englische Schriftsteller E. M. Forster stellte einem seiner Romane die Worte voran: „Sei nur verbunden.“ Diese drei Worte beschreiben hervorragend, welchen Wandel wir von einer Weltanschauung zu einer anderen vollziehen müssen, um beständiges Glück zu finden. Wir müssen den Versuch aufgeben, die nicht zu kontrollierenden Zyklen von Freude und Schmerz kontrollieren zu wollen, und statt dessen lernen, wie wir Verbindung zum Ganzen aufnehmen, uns öffnen und lieben können, was immer auch geschehen mag.
Unglück oder Glück hängen davon ab, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken. Suchen wir, obwohl wir mitten im Wasser stehen, woanders nach etwas zu trinken? Der Wandel geschieht, wenn wir tief in uns hinein auf einen Zustand blicken, der vor dem Entstehen von Angst und Isolation existierte, in dem wir so, wie wir sind, ein unverletzbares Ganzes bilden. Wir nehmen Verbindung zu uns, zu unserem wahren Erleben auf, und dort entdecken wir, daß Leben bedeutet, eine Einheit zu sein.
Denken Sie daran, wie unberührt der Himmel von den Wolken bleibt, die über ihn hinwegziehen, leicht und wattig oder dunkel und drohend. Der Berg wird vom Wind, der ihn umweht, nicht verschoben, gleichgültig, ob er sanft bläst oder stürmisch. Der Ozean wird nicht von den Wellen auf seiner Oberfläche beeinträchtigt, seien sie hoch oder niedrig. Und so bleiben einige Aspekte unseres Wesens unbeschadet, unabhängig davon, was immer wir erleben. Das ist das tiefe Glück der Achtsamkeit.
Es gibt ein Wort in der buddhistischen Psychologie, tathata, das etwa mit „So-Sein“ übersetzt werden kann. Es bezeichnet einen Zustand, in dem wir in unserer Gänze präsent sind; unsere Aufmerksamkeit ist nicht zersplittert oder geteilt. Im Zustand des So-Seins ist kein Teil von uns getrennt und wartet darauf, daß etwas geschieht, das besser oder anders ist.
Wir reagieren auf unsere Erlebnisse weder mit Verlangen noch mit Aversion; wir akzeptieren vielmehr, was uns in unserem Leben begegnet, und lassen los, was unser Leben verläßt. Wir sind völlig da und lassen uns von dem Scheinglück, das herkömmliche Vorstellungen verheißen, nicht betören. Wenn wir die Freiheit des So-Seins erleben, entdecken wir, wer wir wirklich sind.
Einer meiner Freunde reiste einmal nach Sikkim in der Hoffnung, dort Seine Heiligkeit den sechzehnten Karmapa, einen hohen tibetischen Lama, treffen zu können. Die Reise nach Sikkim war sehr anstrengend, mein Freund mußte hohe Bergpässe überqueren und Flüsse durchwaten. Nachdem er sich diesen Mühen unterzogen hatte, war er überglücklich, bei Seiner Heiligkeit eine Audienz zu bekommen. Er war äußerst verblüfft, als der Karmapa, ein bedeutender, weltweit bekannter spiritueller Lehrer, ihn behandelte, als zähle sein Besuch zu den wichtigsten Ereignissen seines bisherigen Lebens. Dies äußerte sich nicht in grandiosen Gesten oder Zeremonien, sondern in der schlichten und völligen Gegenwärtigkeit des Karmapa. Mein Freund erzählte, er habe sich in dieser Situation uneingeschränkt geliebt gefühlt. Als ich die Geschichte hörte, dachte ich daran, wie viele Gespräche ich nur halbherzig geführt habe. Ich hatte überlegt, was ich als nächstes tun oder mit wem ich als nächstes sprechen würde. Wie unfair mir diese mangelnde Aufmerksamkeit plötzlich erschien! Der schlichte Akt, unumschränkt für einen anderen Menschen da zu sein, ist ein Akt vollkommener Liebe – dazu braucht es keine Inszenierungen.
Schon die Begegnung mit einem Menschen wie dem Karmapa, der so ganz gegenwärtig ist, ist eine Aufforderung an uns, zu unserem wahren Wesen zu erwachen. Ein solcher Mensch ruht in sich, er braucht nichts von uns und bietet unseren Projektionen keine Fläche, an denen sie sich festmachen könnten. Wo wäre in einer solchen Beziehung Platz für Projektion und Manipulation? Wenn wir in den Spiegel seiner oder ihrer Augen blicken, erkennen wir uns selbst und alles, was für uns möglich ist.
Ich lerne immer wieder außergewöhnliche, liebevolle Lehrende kennen. Wenn ich ihn oder sie zum ersten Mal sehe, weiß ich im gleichen Moment: „Ja, so bin ich in Wirklichkeit!“ Ich spüre ein tiefes Wiedererkennen der angeborenen und unzerstörbaren Kraft der Liebe in mir. Und ich sehe auch, daß viele Vorstellungen von mir, meine Ängste und Sehnsüchte, sich als Schichten über diese Kraft gelegt haben, sie verbergen. Diese Vorstellungen verschwinden in der Gegenwart eines solchen Menschen; ich erwache für einen Augenblick und kann sagen: „Ach ja, so bin ich. Das ist für alle Lebewesen richtig und möglich.“ Diese Begegnungen zeigen mir, daß meine vermeintlichen Grenzen gar nicht existieren, und eine Zeitlang bin ich wie aus einem Gefängnis befreit, das ich mir selbst geschaffen habe.
Vollständigkeit und Einheit sind unsere grundlegende Natur als Lebewesen. Dies ist für uns alle wahr. Wie wunderbar oder schrecklich unser Leben gewesen sein mag, welche Traumata und Wunden wir aus der Vergangenheit mit uns herumtragen mögen, was immer wir erleben mußten oder worunter wir jetzt leiden: Unsere angeborene Ganzheit ist immer da, und wir können sie leben.
Wenn wir sie leben, brechen wir den Bann des konventionellen Denkens. Wenn wir unsere Fixierungen aufgeben und einfach glücklich sind, dann ist das, als entkämen wir einer Haft. Es ist, als stünden wir in einem winzigen, vollgestellten Zimmerchen, dessen Mauern einstürzten. Und erst da erkennen wir, daß wir auf dem Gipfel eines Berges sind! Welch atemberaubende Aussicht!
Dies ist das Öffnen, nach dem wir uns sehnten und das wir an so vielen Orten gesucht haben: in Beziehungen, unserer Arbeit und in der Gesellschaft. Da dieses Öffnen ohne andere Menschen oder eine äußere Situation geschehen kann, liegt darin die ungetrübte Freude von Sicherheit, Geborgenheit und Unzerstörbarkeit. Der Geist strahlt, er leuchtet in dieser Einheit, er ist offen, nichts wird zurückgehalten, nichts hinzugetan, nichts mehr ist zersplittert, nichts getrennt.
Die große Seinsfülle, die wir als Glück erleben, kann auch als Liebe bezeichnet werden. Ungeteilt und unzersplittert zu sein, völlig gegenwärtig zu sein, heißt lieben. Aufmerksam sein heißt lieben.
Der große indische Lehrer Nisagadatta Maharaj hat einmal gesagt: „Die Erkenntnis lehrt mich, daß ich nichts bin. Die Liebe lehrt mich, daß ich alles bin. Dazwischen fließt mein Leben.“ „Ich bin nichts“ bedeutet nicht, daß in uns nur trostlose Öde wäre. Es bedeutet, daß wir uns durch Achtsamkeit zu einem reinen, unverstellten Raum öffnen, ohne Mittelpunkt, ohne Peripherie – nichts ist getrennt. Wenn wir nichts sind, gibt es keine Barrieren, die unseren grenzenlosen Ausdruck von Liebe behindern könnten. Und wenn wir auf diese Weise nichts sind, sind wir zwingend auch alles. „Alles“ bedeutet nicht, sich wichtig zu machen, es bedeutet, die Verbundenheit ohne Wenn und Aber anzuerkennen. Sowohl der reine, offene Raum des „Nichts“, als auch die tiefreichende Verbundenheit des „Alles“ führen uns zu unserer wahren Natur.
Zu dieser Wahrheit gelangen wir durch die Meditation, sie ist die Erfahrung der Einheit jenseits von Leid. Sie ist immer da; wir müssen nur dorthin kommen. Wenn wir diese Wahrheit direkt erfahren, wird sich die Art, wie wir uns selbst, die Welt und das Leben wahrnehmen, auf drastische Weise ändern. Einssein könnte man auch als Gesundheit bezeichnen. Health, das englische Wort für Gesundheit, ist, ebenso wie das skandinavische helse, dem deutschen heilen verwandt, ihre gemeinsame Wurzel bedeutet unverletzt, ganz, heil. Unsere tiefste Gesundheit, noch über Leben und Tod hinaus, liegt in der uns angeborenen Ganzheit, Einheit und Verbundenheit.
Meistens aber fühlen wir uns nicht als Einheit, sondern zersplittert, getrennt und somit nicht wirklich gesund. Im Verlauf eines Tages erleben wir uns in verschiedenen Rollen, beispielsweise als Ehefrau, Angestellte, Freundin, Tochter. Wenn wir allein sind, haben wir ein bestimmtes Bild von uns; sind wir mit anderen zusammen, ist es ein anderes. Mit Bekannten verhalten wir uns auf eine, mit Fremden auf eine andere Weise. Wir fühlen uns fragmentiert, sind uns selbst entfremdet, und daher entspringen unsere freundschaftlichen Gesten oft der Einsamkeit und der Furcht. Wir suchen Vertrauen und Nähe, finden aber nichts als den Schein einer Beziehung.
Vergleichen Sie unsere unerquickliche Lage mit diesem Haiku von Issa:
Nirgends im Schatten
der weißen Kirschbaumblüten
ist jemand Fremder
Im Erleben des Einsseins, in einem Herz voll Liebe, ist nichts fremd, weder in uns noch in anderen. In der Weite wahren Glücks findet sich kein Ort für Zersplitterung.
Ein erleuchtetes Lebewesen wie der Buddha symbolisiert dieses Maß an Gesundheit, Freiheit und Liebe – die höchste Hoffnung der Menschen. Ob der Buddha allein war oder mit anderen zusammen, ob er lehrte, diente oder abgeschieden lebte, er war sich der Einheit bewußt. Sein Glück war nicht abhängig von einer bestimmten Situation, die sich hätte wandeln können. Der thailändische Meditationsmeister Ajahn Chah beschreibt das Glück, das wir durch Meditation erlangen können: „Dein Geist wird in jeder Umgebung so still wie ein klarer Waldsee sein. Zahllose wunderbare, seltene Tiere kommen zu dem Teich, um daraus zu trinken, und du wirst das Wesen aller Dinge klar erkennen. Du wirst viel Eigenartiges und Wunderbares kommen und gehen sehen, aber du wirst still sein. Dies ist das Glück des Buddha.“ Das grenzenlose Glück des Buddha basierte auf dem klaren Blick und dem Mitgefühl, die in seinem Leben stets gegenwärtig waren. Dies ist „So-Sein“.
Dieses Glücklichsein verändert unser Wesen und revolutioniert unseren Blick auf unsere Umwelt. Mehr noch: Die Vorstellung von Innen und Außen verschwindet völlig.
Dieses Glück entsteht, weil wir völlig in der Gegenwart bleiben. Wir öffnen uns unserem Erleben, und dies führt zwangsläufig dazu, daß wir uns anderen öffnen. In dieser Welt wirklich glücklich zu sein, ist eine revolutionäre Tat, denn wahres Glück ist nur möglich, wenn zuvor eine Revolution in uns stattfand. Wir befreien uns durch einen radikalen Wandel unseres Blickwinkels. Dann wissen wir, wer wir wirklich sind, dann können wir unsere grenzenlose Liebesfähigkeit erkennen. Wir werden durch die Wahrheit befreit, daß wir uns unendlich viel Zeit nehmen und aufmerksam sein können; wir können Karmapa sein; wir können jener Mönch sein, der über das Schlachtfeld geht. Wir alle sind mit dieser Anlage geboren. Unser Glück kann den Gang der Geschichte verändern, und das tut es auch.
2
Liebenswürdigkeit neu erlangen
Die Knospe
steht für alles,
selbst für jene Dinge, die nicht blühen,
denn alles blüht, aus sich selbst, aus innerem Glück,
obwohl es manchmal nötig ist,
ein Ding nochmals seine Liebenswürdigkeit zu lehren,
einer Blume die Hand
auf die Stirn zu legen,
ihr mit Worten und Berührungen zu sagen,
wie schön sie ist,
bis sie wieder aus sich selbst blüht, aus innerem Glück.
Galway Kinnell
Ein Ding nochmals seine Liebenswürdigkeit lehren“ ist das Wesen von metta. Durch Liebende Güte kann jeder und alles wieder aus sich selbst erblühen. Wenn wir das Wissen um unsere Schönheit und um die Schönheit anderer wiedererlangen, stellt sich das innere Glück auf natürliche und schöne Weise ein.
Metta, das in Pali „Liebe“, „Güte“ oder „Liebende Güte“ bedeutet, ist die erste brahma-vihara, die erste der „erhabenen Wohnstätten“. Die anderen – Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut – folgen aus metta, die diese anderen Eigenschaften fördert und erweitert.
Sprechen wir in unserer Kultur von Liebe, meinen wir in aller Regel Leidenschaft oder Sentimentalität. Es ist ganz entscheidend, metta von diesen beiden zu unterscheiden.
Leidenschaft geht mit Gefühlen des Begehrens, Wollens, Besitzens oder Verfügens einher. Leidenschaft verlangt, daß etwas so und nicht anders sein muß und unsere Erwartungen erfüllt werden. Die Erwartung des Austausches, die der Leidenschaft meist zugrunde liegt, ist an Bedingungen geknüpft und wird letztlich zum Bumerang: „Ich liebe dich, solange du die folgenden fünfzehn Dinge tust oder solange du mich mindestens ebensosehr liebst wie ich dich.“ Es ist kein Zufall, daß in dem Wort Leidenschaft das Wort Leiden steckt, und auch das Wort Passion, das im Englischen und in den romanischen Sprachen diesen Zustand beschreibt, geht auf das lateinische Wort für leiden zurück. Wollen und Erwarten erzeugen zwingend Leid.
Im Gegensatz dazu stellt metta keinerlei Bedingung: Sie ist offen und gradlinig. Wie Wasser, das aus einem Gefäß in ein anderes geschüttet wird, fließt metta ungehindert und paßt sich dabei jeder Situation an, ohne ihr eigentliches Wesen zu verändern. Eine Freundin mag uns enttäuschen; sie mag unsere Erwartungen nicht erfüllen, aber wir bleiben dennoch ihre Freundin. Mehr noch: Wir mögen uns selbst enttäuschen, unsere eigenen Erwartungen nicht erfüllen, und wir bleiben uns selbst dennoch eine Freundin.
Sentimentalität, die zweite Befindlichkeit, die sich als Liebe ausgibt, ist in Wirklichkeit eine Verbündete der Verblendung. Sie ist eine Schein-Fürsorge, die sich auf die Erfahrung von Annehmlichkeiten beschränkt. Wie der Blick durch ein Objektiv, das zuvor mit etwas Vaseline bestrichen wurde, zeigt Sentimentalität alles im „Weichzeichner“. Wir sehen die scharfen Kanten nicht mehr, die problematischen Stellen oder die Mängel. Alles ist viel zu nett. Sentimentalität findet Schmerz unerträglich und wendet sich daher von ihm ab.
Unsere Sicht der Welt wird sehr eng, wenn alle Dinge eine bestimmte Art und Weise haben müssen und wir sie nicht so hinnehmen können, wie sie wirklich sind. Verleugnung wirkt fast wie ein Betäubungsmittel, und zum Schluß fehlen uns einige unverzichtbare Teile unseres Lebens.
Es ist die Angst vor Schmerz, die dazu führt, daß wir etwas kurzfristig oder dauerhaft von uns abspalten. Um keinen Schmerz zu empfinden, blockieren wir wesentliche Aspekte unserer Wahrnehmung, auch wenn diese Blockade, dieses innere Abtrennen, tödlich ist.
Als einzelne oder in einer Gruppe opfern wir manchmal die Wahrheit, um unsere Identität zu sichern oder ein Gefühl der Zugehörigkeit zu wahren. Alles, was dieses Gefühl bedroht, löst Angst und Angespanntheit aus, also leugnen wir und beschneiden unsere Gefühle. Ein solches Verhalten führt schließlich zu Entmenschlichung. Wir sind von unserem eigenen Leben getrennt und fühlen auch zu anderen Lebewesen eine große Distanz. Wenn wir den Kontakt zu unserem inneren Leben verlieren, liefern wir uns der Willkür äußerer Veränderungen aus, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wer wir sind, was uns wichtig ist und was wir schätzen. Die Angst vor dem Schmerz, dem wir entkommen wollten, wird in Wahrheit zu unserer ständigen Begleiterin.
Der Buddha lehrte die metta-Meditation als das Mittel gegen Angst, als Weg, Angst zu überwinden, wenn sie entsteht. Die Legende berichtet, er habe einige Mönche zum Meditieren in einen Wald geschickt, der von Baumgeistern bewohnt war. Diese Geister wollten die Mönche nicht in ihrem Wald haben und versuchten, sie zu vertreiben, indem sie ihnen als Dämonen erschienen, mit schrecklichem Gestank und markerschütterndem Geschrei. Die Legende erzählt weiter, die Mönche seien in heller Panik zum Buddha zurückgelaufen und hätten ihn angefleht, sie für ihre Übungen an einen anderen Ort zu schicken. Der Buddha aber habe geantwortet: „Ich werde euch in den gleichen Wald zurückschicken, doch ich gebe euch den einzigen Schutz, den ihr brauchen werdet. Dieser Schutz war die erste Unterweisung in metta-Meditation. Der Buddha ermunterte die Mönche, die metta-Sätze nicht nur zu rezitieren, sondern auch tatsächlich zu praktizieren. Die Geschichten gehen alle gut aus, so auch diese – es heißt, die Mönche seien zurückgegangen und hätten metta praktiziert, bis die Baumgeister ganz bewegt davon waren, wie die Schönheit der liebenden Energie den Wald erfüllte, und beschlossen, für die Mönche zu sorgen und ihnen zu dienen.
Die tiefere Bedeutung der Geschichte ist, daß auch ein angsterfülltes Denken von der Kraft der Liebenden Güte durchflutet werden kann. Und ein Denken, das von Liebender Güte erfüllt ist, kann nicht von Angst bezwungen werden; selbst wenn Angst entsteht, wird sie niemals stärker sein als metta.
Wenn wir metta üben, öffnen wir uns unablässig der Wahrheit unseres gegenwärtigen Erlebens und verändern so unser Verhältnis zum Leben. Metta – das Gefühl einer Liebe, die nicht an Verlangen gebunden ist und die Dinge nicht anders sehen muß, als sie sind – überwindet die Illusion des Getrenntseins, die Illusion, nicht Teil eines Ganzen zu sein. Damit überwindet metta alle Empfindungen, die mit dem grundlegenden Irrtum einhergehen, wir seien getrennt – Zustände wie Angst, Entfremdung, Einsamkeit und Verzweiflung, alle Gefühle der Zersplitterung. Die Erkenntnis der Verbundenheit führt zu Zusammengehörigkeit, Vertrauen und Sicherheit.