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Das vorliegende Buch baut auf einer langjährigen Beschäftigung mit Theorien der Sozialen Arbeit auf. Während dieser Beschäftigung war es nie unser Anspruch, selbst eine Theorie der Sozialen Arbeit zu entwerfen. Es war aber immer ein Anspruch, Theorien der Sozialen Arbeit – jede für sich genommen und im Vergleich zueinander – durch die Beschäftigung mit ihnen besser zu verstehen. Was dabei in hohem Maße zur Entwicklung unserer eigenen Verstehensperspektive, der wir im vorliegenden Buch folgen, beigetragen hat, waren Gespräche zum Thema mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen. Gedankt sei in diesem Zusammenhang insbesondere Petra Bauer, Georg Cleppien, Kai Dierkes, Bernd Dollinger, Gabriel Eichsteller, Nicole Hekel, Reinhard Hörster, Michael-Sebastian Honig, Bettina Hünersdorf, Onno Husen, Kerstin Jergus, Magdalena Joos, Fabian Kessl, Stefan Köngeter, Randolf Körzel, Martina Lütke-Harmann, Veronika Magyar-Haas, Sebastian Manhart, Marcel Meier Kressig, Johanna Mierendorff, Richard Münchmeier, Christian Niemeyer, Mareike Patschke, Hans Thiersch, Christiane Thompson, Maren Zeller sowie Ulrike Urban-Stahl, die zugleich Herausgeberin dieser Einführungsreihe ist und in diesem Zuge eine besonders unterstützende Rolle für das Zustandekommen des vorliegenden Buches gespielt hat. Darüber hinaus möchten wir den vielen Studierenden und denjenigen Promovierenden danken, mit denen wir im Laufe der letzten Jahre immer wieder zum Thema diskutieren konnten.
Neben Gesprächen und Diskussionen haben gerade auch die Handlungserfahrungen, die wir selbst als „Praktiker“ gemacht haben, zur schrittweisen Erarbeitung unserer Verständnisperspektive beigetragen. Wie bei vielen Kolleginnen und Kollegen war „die Praxis der Sozialen Arbeit“ in unserem Fall vornehmlich die Kinder- und Jugendhilfe. Gerade hier drängte sich uns beiden unabhängig voneinander immer wieder der Eindruck auf, dass eine Perspektive produktiver Distanz zu vorfindbaren Theorien der Sozialen Arbeit dabei helfen kann, die Art und Weise, in der Theorien der Sozialen Arbeit „ihre“ Praxis konstruieren, besser begreifen zu können.
Wir wünschen den LeserInnen der vorliegenden Einführung, dass die hier eröffnete Verstehensperspektive sie darin unterstützen möge, einen wissensbasierten Überblick zu Theorien der Sozialen Arbeit zu entwickeln oder auch zu vertiefen. Wo sich bei der Lektüre Kritik an unserem Blick regt, sind wir dankbar für Rückmeldungen. Denn – so unsere Überzeugung – Theorien lassen sich am besten im Dialog entwickeln. Theorien über Theorien bilden dabei keine Ausnahme.
1 Was sind Theorien der Sozialen Arbeit?

Das Ziel dieses Kapitels ist es zu klären, was Theorien der Sozialen Arbeit sind. Dafür ist es zunächst wichtig zu verdeutlichen, inwieweit Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit logisch eng miteinander zusammenhängen. Im ersten Unterkapitel 1.1 werden wir der Ausgangsthese folgen, dass sich Theorien immer auf etwas beziehen, was sie als „real“ ansehen. Umgekehrt gilt damit zugleich, dass die Beschäftigung mit Theorie immer auch eine Auseinandersetzung darüber einschließt, worauf sich Theorie bezieht. Im Falle der Sozialen Arbeit ist dieser Bezugspunkt üblicherweise „die Praxis“. Welchen Auftrag Theorien genau haben, darüber gibt es allerdings – gerade in den Sozial- und Geisteswissenschaften – nicht nur Konsens, sondern auch entscheidende Kontroversen und Differenzen. Dies gilt auch im Bereich von Theorien, welche das Ziel haben, Wissen über die Soziale Arbeit zu generieren. Strittig ist dabei vor allem, was als „wertvolles“ Theoriewissen zur Sozialen Arbeit anzusehen ist. Eine entscheidende Dissenslinie verläuft z. B. zwischen Positionen, die Theorien in der Pflicht sehen, normatives Handlungswissen bereitzustellen, und Positionen, die diese Möglichkeit bestreiten oder sie zumindest der Aufgabe von Theorien unterordnen, reflexives, analytisches Wissen zu produzieren. Weitgehende Einigkeit besteht jedoch darin, dass sich theoretische Erkenntnisse über die Praxis, die durch Theorien der Sozialen Arbeit generiert werden, nicht einfach „in die Praxis“ übertragen oder für eine Veränderung von Praxis „benutzen“ lassen. Warum das so ist, werden wir in Kapitel 1.2 erläutern. In Kapitel 1.3 werden wir noch einmal zusammenfassen, warum es wertvoll ist, sich innerhalb des Studiums mit Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit zu beschäftigen – zumal man sich reflektierterweise gar nicht für nur eines von beidem entscheiden kann. Abschließend werden wir noch einmal verdeutlichen, welchen theoretischen Blick dieses Buch auf Theorien der Sozialen Arbeit richtet.
1.1 Zum konstitutiven Zusammenhang von Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit

Theorie interessiert mich nicht, denn ich will ja in die Praxis!“ Diesen Satz hört man von Studierenden der Sozialen Arbeit immer wieder. Nachfolgend verdeutlichen wir, warum es Sinn macht, diesem Satz mit äußerstem Misstrauen zu begegnen.
Aus dem Alltagsverständnis, dass es sich bei Theorie und Praxis um zwei unterschiedliche Dinge handelt, wird gelegentlich geschlussfolgert, dass Theorie und Praxis eigentlich nichts oder jedenfalls nicht unmittelbar etwas miteinander zu tun haben (können). Wir werden im Folgenden zeigen, dass sich zwar die erste Annahme („Theorie und Praxis sind etwas Unterschiedliches“) durchaus gut begründen lässt. Das heißt jedoch gerade nicht, dass Theorie und Praxis zwei völlig unterschiedliche oder gar unvereinbare Sachverhalte sind.
Aber der Reihe nach: Zunächst einmal macht es tatsächlich einen Unterschied, ob man über Theorie spricht oder über Praxis. Auch deswegen gibt es z.B. unterschiedliche Bände innerhalb der vorliegenden Reihe „Soziale Arbeit studieren“, von denen nur einer explizit das Thema „Theorien der Sozialen Arbeit“ behandelt. Man kann also durchaus davon ausgehen, dass sich die Unterscheidung von Theorie und Praxis in der Sozialen Arbeit eingebürgert hat und ihr damit auch eine gewisse Sinnhaftigkeit zukommt.
Diese Sinnhaftigkeit ist bereits daran zu erkennen, dass wohl kaum jemand spontan bestreiten würde, dass beides zu existieren scheint: Es gibt einerseits „Theorie der Sozialen Arbeit“ und andererseits „Praxis der Sozialen Arbeit“, sonst würde man nicht ständig über beides sprechen. Die Aussage, dass es Praxis der Sozialen Arbeit gibt, ist jedoch keineswegs so selbstverständlich, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Sie hat bereits mit einer Besonderheit zu tun, auf die wir im Verlauf dieses Buches verschiedentlich zu sprechen kommen werden.
Um ein erstes Verständnis für diese Besonderheit zu entwickeln, kann ein Blick auf andere Fachdisziplinen hilfreich sein. Hierzu ein Gedankenexperiment:

Stellen Sie sich vor, Sie studierten ein anderes Fach als „Soziale Arbeit“, z.B. Philosophie, Soziologie oder auch Physik. Was eine „Praxis der Philosophie“ sein könnte, leuchtet Ihnen vielleicht noch relativ spontan ein. Wie sieht es aber mit Ihren spontanen Assoziationen zu so etwas wie einer „Praxis der Soziologie“ oder einer „Praxis der Physik“ aus? Eine Vorstellung davon ist zwar keineswegs unmöglich. Sich ein konkretes Bild davon zu machen, erscheint aber auf den ersten Blick voraussetzungsreicher zu sein als eine Vorstellung von der „Praxis der Sozialen Arbeit“. Eine solche Vorstellung wird jede/r Leserin dieses Bandes spontan entwickeln können – wenngleich sie sich, wie wir später zeigen werden, auf den zweiten Blick nicht notwendigerweise als tragfähig herausstellen muss. Trotzdem gehen die meisten Menschen davon aus: „Natürlich, eine Praxis der Sozialen Arbeit, das gibt es!“ Aber eine Praxis der Physik?
Während es in der Physik meist schwerer fällt, ein spontanes Bild von Praxis zu entwerfen, ist es hier im Umkehrschluss leichter, sich vorzustellen, was Physik mit Theorie(n) zu tun hat. Ähnlich könnte es im Fall der oben angesprochenen Disziplinen Soziologie und Philosophie, aber auch vielleicht bei der Literaturwissenschaft oder der Mathematik sein.
Wir bleiben der Anschaulichkeit halber noch für einen Moment beim Beispiel der Physik. Eine physikalische Theorie wäre bspw. die Gravitationstheorie der klassischen Physik. Diese erklärt logisch überzeugend, warum der Bleistift, den Sie im Vorlesungsraum fallen lassen, auf dem Boden landet und nicht an die Decke fliegt. Weil dies theoretisch schlüssig ist, muss man diesen Vorgang auch nicht stetig in Experimenten wiederholen, um weiterhin daran glauben zu können, dass es sich hierbei um ein Gesetz handelt. Die Theorie ist stattdessen in der Lage, jeden einzelnen neuen Vorgang dieser Art im Lichte einer generellen Regel darzustellen. Die Regel lässt sich sogar in der Sprache der Mathematik reformulieren. Gerade ihre hohe Erklärungskraft bei gleichzeitiger mathematischer Klarheit haben Theorien der klassischen Physik über lange Zeit hinweg so überzeugend gemacht, dass man sie als Vorbild für alle anderen Wissenschaften angesehen hat. Entscheidend ist hier aber noch etwas Anderes: Bevor die Gravitationstheorie irgendetwas erklärt, hält sie zunächst einmal eine Beobachtung fest. Sie beschreibt konkrete Phänomene in einem bestimmten Zusammenhang (hier: ein Bleistift fällt auf den Boden), findet Parallelen zu anderen konkreten Phänomenen in einem für sie ähnlich wirkenden Zusammenhang und richtet damit einen Blick auf die Welt, der es ihr erst ermöglicht, eine generelle Regel (man könnte auch sagen: ein Muster) zu bestimmen. Erst nachfolgend geht es dann darum, diese Regel logisch widerspruchsfrei mit Erklärungen zu verbinden. Am Beispiel gesprochen: Es wird zunächst die generalisierte Beobachtung festgehalten, dass alle Dinge auf dem Planeten Erde, die schwerer als die sie umgebende Luft, aber ausschließlich von Luft umgeben sind, auf den Boden fallen, wenn sie nicht daran gehindert werden. Erst danach geht es ans Erklären und Schlussfolgern.
Vergegenwärtigt man sich diesen Erkenntnisprozess, so wird deutlich, dass die erwähnte Gravitationstheorie durchaus auch etwas mit „Praxis“ und lebenspraktischen Erfahrungen zu tun hat. Denn die Gravitationstheorie wird erst greifbar, wenn man sie auf konkrete, „praktische“ Phänomene bezieht (hier die „praktische“ Situation mit Ihrem Bleistift im Vorlesungssaal).
Im Umkehrschluss hat die Theorie damit auch einen unmittelbar praktischen Wert. Sie erleichtert es Ihnen, das Phänomen des nach unten fallenden Bleistifts einzuordnen und hierauf bezogen ein hohes Maß an Erwartungssicherheit aufzubauen, welches über Ihre reine Erfahrung mit ständig nach unten fallenden Gegenständen hinausgeht. Weder der nach unten fallende Bleistift noch der nach oben steigende Helium-Luftballon, der Ihnen aus der Hand gleitet, wird Sie dann noch überraschen. Auf eine prägnante Formel gebracht könnte man also sagen: Gute Theorie hilft Ihnen dabei, Ihr Leben erwartungssicherer zu machen.
Aus diesem von der Physik entlehnten Beispiel lässt sich nun etwas Allgemeines zum konstitutiven Verhältnis von Theorie und Praxis festhalten: Theorie fängt nicht bei der Erklärung eines Phänomens oder gar bei Vorschlägen zu seiner Veränderung an, sondern bereits im Moment der Beschreibung. Theorie ist damit nichts, das nur irgendwo fernab der praktischen Welt eine Rolle spielt. Im Gegenteil: Jede Theorie braucht einen Gegenstand, auf den sie sich bezieht, um sich überhaupt als Theorie „in Stellung bringen“ zu können. Ein solcher Gegenstand muss nicht unbedingt ein greifbares und alltäglich vertrautes Phänomen sein. Vielmehr kann dieser Gegenstand auch etwas sehr Abstraktes oder zumindest schwer Beobachtbares sein, denkt man etwa an Gegenstände wie „Gesellschaft“, „Hirnströme“, „Gravitationswellen“, „Ozonloch“ oder „Familie“. Aber eine Theorie kann nicht einfach eine Theorie sein, sondern immer nur eine Theorie von etwas.
Das heißt im Umkehrschluss aber zugleich, dass auch für jede Beschreibung eines „praktischen“ Phänomens Theorie nötig ist. Dies gilt auch und gerade dann, wenn man nichts weiter im Sinn hat als „einfach nur über die Praxis zu sprechen“, man also gerade nicht über Theorie nachdenken will. Das Paradoxe in diesem Moment ist: Gerade hier nutzt man permanent Theorie(n)!
Wir hoffen, man erkennt spätestens an dieser Stelle, wie lohnend die Reflexion von Theorie(n) für Studierende und Fachkräfte der Sozialen Arbeit ist. Denn erst, indem man bei der Beschreibung einer (praktischen) Situation zugleich auf ein (theoretisches) Bild dessen, womit man es zu tun hat, zurückgreift, kann man überhaupt etwas über diese Situation sagen. Damit beginnt man – geradezu zwangsläufig und unabhängig davon, ob man es will oder nicht – in jedem Moment, in dem man „über Praxis redet“, zugleich auch, Theorie zu (re)produzieren.
Der amerikanische Philosoph und Logiker Charles Sanders Peirce hat diesen Zusammenhang von Theorie und jeglichem von der Theorie beschriebenen Gegenstand bereits Ende des 19. Jahrhunderts scharf analysiert und in diesem Zuge festgehalten, dass wir
„nicht den kleinsten Schritt […] in unserer Wissenserweiterung über das Stadium des leeren Starrens hinaus tun [können], ohne dabei bei jedem Schritt eine Abduktion zu vollziehen“ (Peirce 1901; dt. Übersetzung zit. nach Reichertz 1993, 266).
Was Peirce hier als „Abduktion“ bezeichnet, ist genau die notwendige Zusammenfügung einer einzelnen konkreten Sinneswahrnehmung, die man beschreiben will, mit einer generelleren Kategorie, durch die man beschreiben muss, sobald man irgendetwas beschreibt. Vereinfacht ausgedrückt: Um einen Baum zu beschreiben, muss man bei sich selbst und seinem Gegenüber zugleich auf eine allgemeine theoretische Vorstellung davon zurückgreifen, was ein Baum „eigentlich“ – also jenseits des konkreten Gebildes, auf das man da „starrt“ – ist.
Der von Peirce beschriebene Zusammenhang, dass man für alles, was man beschreiben möchte, zugleich notwendigerweise Theorie verwenden muss, dass also theoriefreie Aussagen überhaupt nicht möglich sind, gilt heutzutage weitgehend unbestritten in allen wissenschaftlichen Disziplinen. Die Annahme von der Theoriebeladenheit aller Beobachtung gehört zu den zentralen Einsichten der sog. „postpositivistischen“ – d.h. eine „Unmittelbarkeit der Dinge“ anzweifelnden – Wissenschaftstheorie, wie sie sich seit den 1930er Jahren sukzessive durchgesetzt hat (Feyerabend 1978, 40 ff.; Hanson 1969; Popper 1935).
Der Gegenstandsbereich Sozialer Arbeit bildet dabei keine Ausnahme. Insofern könnte man das oben skizzierte Beispiel mit dem Bleistift und der Rolle der Theorie darin ebenso auf alle möglichen Gedanken und Beobachtungen zur Praxis der Sozialen Arbeit übertragen.

Wenn man z. B. die Auffassung vertritt, dass es für den Aufbau einer sog. „helfenden Beziehung“ zu einer Klientin, die man in einer Beratungssituation adressieren will, wichtig ist, sich Zeit zu nehmen, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen sowie konzentriert und zugewandt zu sein, so ist diese Auffassung nicht ganz so bedingungslos „praktisch“ wie sich das vielleicht zunächst anfühlt. Und zwar nicht nur deshalb, weil damit bereits tiefgreifende theoretische Vorstellungen von entscheidenden Kriterien eines „sozialpädagogischen Beziehungsaufbaus“ verbunden sind, sondern auch schon auf einer viel banaleren Ebene. Denn um z. B. überhaupt so etwas wie eine „ruhige Atmosphäre“ schaffen zu können, braucht man eine theoretische Vorstellung davon, was das sein könnte. Nur so kann man sich bei der Herstellung einer entsprechenden Situation zumindest grob orientieren. Man hat dann bspw. die konkrete Vorstellung im Kopf, dass es für die Herstellung von „ruhiger Atmosphäre“ förderlich ist, der AdressatInnen zunächst einen Tee oder Kaffee anzubieten, sie dabei „in Ruhe ankommen“ zu lassen und nicht direkt mit Fragen, Angeboten oder Problembeschreibungen, die einem in Bezug auf den „Fall“ wichtig erscheinen, zu konfrontieren. Die Aspekte des Kaffeeanbietens und Nicht-viel-Sprechens sind somit nicht einfach Tatsachen, sondern eben theoretische Vorstellungen einer „ruhigen Atmosphäre“, die eine Person zu ihren Zwecken nutzen will. Erst vor dem Hintergrund dieser Vorstellungen nimmt man die Tätigkeit des Kaffeetrinkens oder Zunächst-nichts-Sagens also im Moment des Geschehens als „ruhige Atmosphäre“ wahr.
Auf den zweiten Blick dürfte beim gerade genannten Beispiel aber auch ein Unterschied auffällig werden zwischen dem, worum es in der Physik, und dem, worum es in der Sozialen Arbeit geht. Dieser Unterschied zwischen der Sozialen Arbeit und anderen Wissenschaften, wie etwa der Physik, wird bereits anhand der unterschiedlichen Begriffe deutlich, die üblicherweise in Physik und Sozialer Arbeit benutzt werden. Dies gilt auch und gerade dort, wo es um die Rolle von Theorie(n) geht:
PhysikerInnen würden bei der o.g. Beispielsituation mit dem Bleistift im Vorlesungssaal normalerweise wohl eher von einem „empirischen“ als von einem „praktischen“ Beispiel sprechen.

Als empirisch bezeichnet man Formen wissenschaftlicher Erkenntnis, die auf der Grundlage methodisch kontrollierter Erfahrungen gewonnen wurden. Entscheidend ist also, dass diese Erkenntnisse auf einem äußeren Weltkontakt beruhen und den Status eines erfahrungsbezogenen Wissens haben, das wiederum von anderen Formen wissenschaftlichen Wissens abgegrenzt wird, welches allein der Gedankenwelt entspringt. Der Empirismus ist damit zugleich logisch mit bestimmten Axiomen (Definition in Kap. 5.2), also Vorannahmen verbunden, welche jedoch bewusst so konkret wie möglich gehalten werden, was zugleich wissenschaftshistorisch mit einer bestimmten Entstehungsepoche verbunden ist (Gawlick 2000). Dass empirische Erkenntnisse auf methodisch kontrollierte Erfahrungen aufbauen, bedeutet, dass es sich um Erkenntnisse und Informationen handelt, die z. B. auf der Grundlage von Experimenten, Beobachtungen oder Befragungen ermittelt worden sind. Gemeinhin wird dabei zwischen „quantitativen/quantifizierenden“ (also auf die Verteilung und Häufigkeit interessierender Phänomene fokussierten) und „qualitativen“ (also auch die Tiefenstruktur und Einzelfallrekonstruktion von Phänomenen gerichteten) Methoden empirischer Sozialforschung unterschieden, wobei heutzutage in Studien vermehrt auch methodische Mischformen oder Methodenkombinationen verwendet werden.
Die Physik ist als Wissenschaft grundsätzlich an allen möglichen Erfahrungen (also: empirisch über die Sinne vermittelten Eindrücken) interessiert, die sie zugleich mit einer bestimmten Art wissenschaftlicher Theorien begreifen kann. Ob im Zuge der in der Physik theoretisch relevant gemachten Erfahrungen jemand auch „praktisch arbeitet“, ist für PhysikerInnen nicht von primärem Interesse.
Anders sieht es in der Sozialen Arbeit aus. Wenn über Soziale Arbeit gesprochen wird, so bezieht man sich in der Regel auf Erfahrungen, die nicht nur empirisch über die Sinnestätigkeit irgendwie einfangbare Momente darstellen, sondern die zugleich auch regelmäßig als „Praxis“ bestimmter Akteure in den Blick genommen werden. Diese Momente werden – um einen in diesem Zusammenhang häufig zu findenden Ausdruck zu verwenden – dann oft auch direkt als „Praxiserfahrungen“ bezeichnet.
Dass dies so ist, könnte im Umkehrschluss auch für die Rolle relevant sein, welche Theorien in der Sozialen Arbeit zukommt. Von ihnen wird erwartet, irgendwie „praxisrelevant“ zu sein. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig, noch einmal auf das zurückzukommen, was wir oben bereits erarbeitet haben: Für eine Vorstellung davon, was Praxis ist, braucht man Theorie. Jede Vorstellung von der „Praxisrelevanz“ einer Theorie bemisst sich damit logisch zwangsläufig ebenfalls an einer theoretischen Vor-Vorstellung davon, was diese „Praxis“, für welche die Theorie relevant sein soll, überhaupt ist.
Denn „Praxis“, oder konkreter: „Praxiserfahrungen“, sind – und hier ist es dann wieder nicht grundsätzlich anders als bei der Physik (!)– nur dann überhaupt als Praxiserfahrung wahrnehmbar, wenn man sie, bewusst oder unbewusst, in Zusammenhang mit Theorie bringt, die es ermöglicht ein Bild davon zu skizzieren, was denn Praxis eigentlich sein soll. Erst hierdurch wird es möglich, die konkrete Erfahrung überhaupt als „Praxiserfahrung“ zu begreifen, oder spezifischer: als „eine Erfahrung, die etwas mit der Praxis zu tun hat“.
Was man nun zusätzlich noch braucht, um von einer Praxiserfahrung sprechen zu können, die etwas mit „Sozialer Arbeit“ zu tun hat, ist – noch mehr Theorie. Es reicht nämlich nicht, eine ganz abstrakte Vorstellung davon zu haben, was Praxis im Allgemeinen ist. Man braucht darüber hinaus auch noch eine Vorstellung davon, was eigentlich „Soziale Arbeit“ ist, um eine dann konkretere Vorstellung von der „Praxis der Sozialen Arbeit“ zu entwickeln. Erst mit dieser wiederum theoretischen Vorstellung kann man dann in einer sinnvollen Art und Weise von Praxis Sozialer Arbeit sprechen.
Mit anderen Worten: Man braucht an jeder Stelle, an der man von einer „Praxiserfahrung“, die für die Soziale Arbeit relevant ist, spricht, an jeder Stelle also, an der von einer „Praxiserfahrung in der Sozialen Arbeit“ ausgegangen wird, sowohl eine theoretische Vorstellung von „Praxis“, als auch eine – bewusste oder unbewusste – „Theorie der Sozialen Arbeit“; ein generelles Bild davon also, was Soziale Arbeit – über die einem konkret begegnende Erfahrung hinaus – ist.
Erst im Zusammenspiel zwischen einer konkreten Wahrnehmung und einer theoretischen Idee davon, was „Praxis der Sozialen Arbeit“ sein könnte, kann es also gelingen, auch eine „Praxiserfahrung in der Sozialen Arbeit“ zu machen, die als solche verbalisierbar ist. Hierdurch erst hat man das zustande gebracht, was Peirce eine „Abduktion“ nennt, und kann damit anfangen, mehr als ein „leeres Starren“ auf die Welt zustande zu bringen.
Wie Theorie und Erfahrung bei der Benennung dessen, was „Praxiserfahrungen in der Sozialen Arbeit“ sind, zusammengebracht werden, unterscheidet sich im Einzelfall natürlich sehr. Denn grundsätzlich ist es möglich, in jedem einzelnen Moment einer Erfahrung wieder eine neue Theorie zur Beschreibung dieser Erfahrung heranzuziehen.Auch dies ist den meisten Menschen aus ihrem Alltag bekannt. Ein Beispiel:

Lernt man neue Freunde kennen, so hat man oft noch ein ziemlich anderes Bild von einem Menschen als im fortgeschrittenen Stadium der Freundschaft. Bezogen auf das Verhältnis von Theorie und Erfahrung heißt das, dass sich durch unterschiedliche Erfahrungen mit der befreundeten Person auch die eigene Theorie dazu, wer diese Person eigentlich ist, verändert. Konkret gesprochen verändern Menschen also ihre Theorie zur gegenüberstehenden Person allmählich und versuchen damit ihren (neuen) Erfahrungen gerecht zu werden, obwohl es doch vermeintlich stets um „dieselbe“ Person geht. Die gängige Rede vom „sich besser Kennenlernen“ kann dabei allerdings irreführend sein, denn sie verleitet zu der Annahme, dass man eine immer bessere Theorie zum Gegenüber entwickeln könnte, bis man diese Person schließlich „ganz und gar“ kennt – und zwar so, wie sie „eigentlich“ ist. Ein solch „kumulatives“ Verständnis von Wissensgenerierung durch Theorien gilt heutzutage als überholt (Bachelard 1978; Kuhn 1962). Eher dürfte es so sein, dass man durch den laufenden Abgleich zwischen Erfahrung und Theorie dazu neigt, verschiedene Theorien zum jeweiligen Gegenstand (in diesem Fall: der befreundeten Person) zu entwickeln, die man dann je nach Situation parat hat, um eine Handlung oder eine Äußerung des befreundeten Gegenübers sinnvoll zu interpretieren. Und das scheint durchaus sinnvoll zu sein, denn über je mehr verschiedene Theorien zu einer Person man verfügt, umso handlungsfähiger bleibt man im Umgang mit ihr, weil es mit höherer Wahrscheinlichkeit gelingt, Sinn in den Äußerungen und Handlungen des Anderen zu sehen. In paradoxer Weise wird man jedoch zugleich die Erfahrung machen, dass immer mehr verschiedene Bilder zu der befreundeten Person dazu führen, dass man immer weniger darüber weiß, wer dieser Mensch „eigentlich“ ist.