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So kann man allgemein auch sagen, dass Wissenszuwachs immer zugleich auch zu mehr Unsicherheit in Bezug auf die Selbstverständlichkeit dieses Wissens führt (Weingart 2003). Das Gleiche gilt im Prinzip für die Soziale Arbeit und hier spezifisch für jedes Bild von „Praxis der Sozialen Arbeit“, das man sich machen kann. Auch hierzu wird man im Laufe des Studiums, während der Ableistung von Praktika, in der ehrenamtlichen, nebenberuflichen und hauptberuflichen Tätigkeit immer wieder einzelne Erfahrungen machen, die zunächst höchst unterschiedlich sind, aber in denen man (auf der Basis von Theorien und theoretischen Schlüssen) immer wieder Muster entdecken kann. Da sich jedoch die Erfahrungen, die man macht, immer wieder unterscheiden werden, wird es gewinnbringend sein, auch hierzu immer wieder unterschiedliche Theorien zu entwickeln, die sich durchaus auch gegenseitig widersprechen dürfen, solange sie jeweils in sich schlüssig aufgebaut sind und daher etwas begreiflich machen können. Je mehr solcher Theorien man kennenlernt, umso komplizierter wird es aber auch, begründet zu entscheiden, welche Theorie nun die „beste“, „überzeugendste“ oder gar „wahrste“ ist. Denn „in sich“ machen sehr viele Theorien Sinn.
Wenn man sich näher mit Theorien der Sozialen Arbeit beschäftigt, macht man daher bald die Erfahrung, dass viele von ihnen jeweils spezifisch verstehbar machen, was Praxis Sozialer Arbeit und was „gute Praxis“ Sozialer Arbeit sein könnte. Man bezeichnet diese Einsicht in die „Inkommensurabilität“ verschiedener Theorien in der Wissenschaftssoziologie auch als sog. Duhem-Quine-These, unter Bezugnahme auf ihre beiden Referenzautoren Pierre Duhem und Willard V.O. Quine (Weingart 2003, 58).

Mit Inkommensurabilität bezeichnet man die Unversöhnbarkeit zweier Aussagen(-systeme) bei gleichzeitiger Ebenbürtigkeit der getroffenen Aussagen in Hinsicht auf ein bestimmtes Kriterium, z. B. „Wissenschaftlichkeit“.
Diese widersprüchliche Vielfalt von in sich jeweils stringent erscheinenden Theorien begegnet einem logischerweise nicht nur dort, wo es um ausgewiesene „Theorien der Sozialen Arbeit“ geht, sondern auch in anderen Wissenschaftsbereichen, so etwa bei psychologischen, soziologischen, philosophischen, erziehungs- oder politikwissenschaftlichen Theorien. Überall macht man die Erfahrung, dass eine bestimmte Theorie in überzeugender Weise die Welt beschreibt, während eine andere Theorie in ebenso überzeugender Weise die Welt gänzlich anders beschreibt. Das anfangs oft irritierende Ergebnis dieser Beobachtung ist, dass man auf einmal nicht mehr eine, sondern zwei und mehr Welten vor sich sehen kann – wenngleich es unmöglich ist, in exakt demselben Moment mehrere dieser Welten zugleich zu sehen. Letzteres hängt mit der oben erwähnten Inkommensurabilität der Weltsichten zusammen, die durch unterschiedliche Theorien hervorgebracht werden.

Wenn man sich auf dieses Ergebnis einlässt, wird es nach und nach möglich, verschiedene „theoretische Brillen“, durch die man die Welt betrachten kann, aktiv auf- und auch wieder abzusetzen. Theorien werden dann als „Werkzeuge“ handhabbar – eben genauso, wie Brillen Werkzeuge sind.
Dass man je nach „Theorie-Brille“, die man benutzt, Unterschiedliches sehen kann, obwohl man damit auf den ersten Blick doch vermeintlich immer auf ein und dasselbe schaut, gilt für alle Aspekte im Studium der Sozialen Arbeit: z.B. für die Betrachtung von „Kindern“, „Jugendlichen“ oder „Menschen mit Beeinträchtigungen“ (also spezifische sog. „AdressatInnengruppen“ der Sozialen Arbeit), aber auch für die Betrachtung von „Professionalität“, für die Frage danach, was eigentlich eine „Fachkraft“ in der Sozialen Arbeit ausmacht oder was das Typische am Habitus von „SozialpädagogInnen“ ist.

Als Habitus bezeichnet man durch Sozialisation erworbene, vorbewusste „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1987, 101), die z. B. in Lebensstil, Geschmack, Kleidung oder Sprache einer Person zum Ausdruck kommen. Der Habitus hängt laut Bourdieu mit der sozialen Stellung in der Gesellschaft oder einem bestimmten sozialen Feld zusammen und bildet ein System von Dispositionen, das als Erzeugungsmodus menschlicher Praxisformen erklärbar sowie letztlich auch voraussehbar machen soll, warum Menschen in einer bestimmten Weise in ihrer sozialen Umwelt agieren
Und auch bei der Betrachtung von so unterschiedlichen, und auf den ersten Blick so angenehm eindeutig wirkenden Dingen wie „psychischen Störungen“, „sozialen Dienstleistungsorganisationen“ oder „rechtlichen Regelungen“ lässt sich feststellen: Letztlich entscheidet die „Theorie-Brille“, die man gerade aufgesetzt hat, darüber, was man darunter verstehen bzw. nicht verstehen kann. Zur nochmaligen Verdeutlichung dieses Umstands wählen wir ein Beispiel aus der auf Studierende oftmals klar und eindeutig wirkenden Nachbardisziplin der Psychologie.

Wenn es in der klinischen Psychologie bspw. um „psychische Störungen“ geht, so macht es nicht einfach „in der Sache“, sondern qua Theorie einen Unterschied, ob man dabei bspw. an eine „Angststörung“ oder an eine „Inkongruenz“ denkt. Denn diese beiden Label verbinden sich nicht notwendigerweise mit unterschiedlichen empirischen Phänomenen, sondern ergeben sich aus theoretisch inkommensurablen Theorieverständnissen. Das wird besonders deutlich, wenn man beide Zuschreibungen – „Angststörung“ und „Inkongruenz“ – einmal probehalber auf dasselbe empirische Phänomen bezieht. Nimmt man dafür eine Person an, die regelmäßig große Ängstlichkeit verspürt, so kann man bei dieser Person den – theoriegestützten! – Anfangsverdacht einer „Angststörung“ äußern. Dann geht man davon aus, dass die Ängstlichkeit der Person als ein erlerntes Verhaltensmuster zu begreifen ist, das in bestimmten Situationen (die man dann zunächst noch genauer einzugrenzen versucht) auftaucht, und das dann – bspw. durch Unterstützung von PsychotherapeutInnen – auch wieder verlernbar ist. Man könnte allerdings bei derselben Person mit demselben Gefühl von Ängstlichkeit auch zunächst eine „Inkongruenz“ feststellen, und damit – anders theoriegestützt! – davon ausgehen, dass hier ein dauerhafter Widerspruch zwischen der Art und Weise, wie die Person empfindet und der Art und Weise, wie die Person gerne empfinden würde, vorliegt, was dann wiederum zu einem subjektiven Gefühl von Ängstlichkeit führt. Auch als „Inkongruenz“ könnte diese Ängstlichkeit wiederum angegangen werden mithilfe von therapeutischen Unterstützungsmethoden und einer dahinterstehenden Theorie. Jedoch eben in anderer Weise und auf Grundlage der – theoriebasierten! – Annahme eines letztlich anderen Leidens. Das hängt vor allem mit unterschiedlichen Vorstellungen davon zusammen, wie Personen „funktionieren“. Es gibt also sehr unterschiedliche Behandlungs-, aber auch Persönlichkeitstheorien innerhalb der Psychologie, von denen hier nur einmal zwei, nämlich eine kognitiv-behaviourale und eine humanistischpersonzentrierte, angerissen wurden.
Ebenso wie es mehrere in sich schlüssige theoretische Vorstellungen „psychischer Störungen“ gibt, gibt es mehrere in sich schlüssige theoretische Vorstellungen davon, was als „Praxis der Sozialen Arbeit“ zu verstehen ist. Diese Vorstellungen gehen zu großen Teilen auf solche Theorien zurück, in die wir in diesem Buch einführen, und die dezidiert versuchen zu beschreiben, was Soziale Arbeit im Kern ist.
Entsprechend lassen sich diese Theorien als „Theorien der Sozialen Arbeit im engeren Sinn“ bezeichnen (Füssenhäuser/Thiersch 2015, 1743; Hammerschmidt et al. 2017, 11). Ab Kap. 3 des vorliegenden Bandes geben wir einen strukturierenden Einblick in die Vielfalt und die Gemeinsamkeiten dieser Theorien. Zunächst erscheint es uns jedoch vorrangig, noch auf eine weitere Unterscheidung hinzuweisen, die systematisch auf einer anderen Ebene liegt und die wir bis zu diesem Punkt bewusst außer Acht gelassen haben: die Unterscheidung zwischen „wissenschaftlichen Theorien“ und sog. „Alltagstheorien“ (Hamburger 2003, 102; Joas/Knöbl 2004, 14).
Theorie und Erfahrung überlagern sich – wie wir schon gesehen haben – nicht nur dort, wo man versucht im strengsten Sinne „wissenschaftliche“ Aussagen zu treffen, sondern ständig und überall, wo man überhaupt Aussagen über etwas trifft. Damit wird Theorie auch nicht an jeder Stelle nach streng wissenschaftlichen Prinzipien genutzt (weshalb Theoriebildung andersherum auch nicht notwendigerweise etwas mit dem so oft belächelten „Elfenbeinturm“ der Wissenschaft zu tun hat).
Das besondere an wissenschaftlichen Theorien ist jedoch, dass sie für sich in Anspruch nehmen, in einem höheren Maß als nichtwissenschaftliche Theorien an bestimmten Gütekriterien orientiert zu sein. Zu diesen Gütekriterien gehören etwa Eigenschaften wie hohe argumentative Konsistenz und Transparenz, Erklärungskraft und logische Widerspruchsfreiheit bzw. -reflexivität. Erst, wenn Theorien sich diesen Kriterien unterwerfen, haben sie überhaupt eine Chance, sich als wissenschaftliche Theorien legitimieren zu können. Alltagstheorien dagegen sind vereinfacht gesprochen solche Theorien, die relativ unabhängig von einem Rückbezug auf diese Kriterien entworfen und auch wieder verworfen werden können – und genau genommen auch noch einmal vielfältig danach unterscheidbar sind, welche Prinzipien den Alltag derjenigen Person, welche die jeweilige Alltagstheorie entwirft, bestimmen (Weingart 2003). Denn im Horizont dieser Prinzipien – wie bspw. des Prinzips: einfache Handhabbarkeit – müssen nichtwissenschaftliche Theorien gut funktionieren. Sie rücken damit zugleich oftmals in die Nähe von Bewältigungstechniken.
Allgemein und in Abgrenzung zu wissenschaftlichen Theorien gesprochen lässt sich sagen, dass Alltagstheorien lebenspraktisch notwendig sind, aber sich dort auch ständig in ihrer Nützlichkeit bewähren müssen. Alltagstheorien helfen Menschen also dabei, sich einen Reim auf die eigenen Erlebnisse in der Welt zu machen, und dann auch noch in dieser Welt zu handeln.
Warum, so könnte man nun fragen, sollte man sich angesichts dieser hohen Funktionalität von Alltagstheorien dann überhaupt mit wissenschaftlichen Theorien der Sozialen Arbeit auseinandersetzen? Reicht es zum praktischen Handeln nicht eben doch aus, sich auf diejenigen „Praxiserfahrungen“ zu verlassen, welche man mithilfe der eigenen Alltagstheorien entwickelt hat, und diese Praxiserfahrungen dann vielleicht noch zusätzlich – da wo es geht – möglichst reflektiert mit Kolleginnen und Kollegen „aus der Praxis“ zu teilen?
Unsere Antwort auf diese Frage lautet, dass sich Fachkräfte der Sozialen Arbeit durchaus nicht ihr gesamtes, an das Studium anschließendes Berufsleben über intensiv mit wissenschaftlich hergestellten Theorien der Sozialen Arbeit beschäftigen müssen. Sie werden dies wahrscheinlich, zumal sie nicht selbst WissenschaftlerIn werden, auch aus Zeit- und Kraftmangel gar nicht leisten können. Die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien im Studium wird sich jedoch auch für diejenigen StudienabsolventInnen als außerordentlich nützlich erweisen, die im Anschluss an ihr Studium nicht den Weg in die Wissenschaft, sondern in andere Berufsfelder wählen. Und zwar, weil sie hierdurch erste Schritte in Richtung eines „reflektierten Umgangs mit der Praxis“ gehen können.
Genau hierin – in einem vergleichsweise höheren Maß an Reflexivität und argumentativer Sorgfalt – unterscheiden sich wissenschaftliche Theorien in der Regel von sog. Alltagstheorien. Das liegt vor allem an den unterschiedlichen Umständen ihrer jeweiligen Entstehung. Wie der Begriff andeutet, entstehen Alltagstheorien geradezu „nebenbei“ im Alltag, d.h. sie werden von situativ handelnden Menschen im Kontext dauernden Handlungsdrucks immer wieder entworfen, zur Entscheidungsgrundlage gemacht und z.T. auch schnell wieder verworfen. Dies ist situativ äußerst sinnvoll, um überhaupt handlungsfähig zu bleiben. Es zeigt sich jedoch auch, dass sich die meisten Alltagstheorien gerade aufgrund des Drucks, unter dem sie in der Regel entstehen, als wenig konkurrenzfähig mit wissenschaftlich orientierten Theorien erweisen, die geduldiger und umsichtiger entwickelt werden.
Wie wir noch zeigen werden (Kap. 5), ist zwar auch wissenschaftliche Theoriebildung Handlungsdruck ausgesetzt. Im Gegensatz zu Alltagstheorien bezieht sich dieser Handlungsdruck aber in der Regel nicht auf diejenigen Situationen, die durch die Theorie wissenschaftlich analysiert werden sollen. Das dient der sorgfältigeren Analyse ebendieser Situationen, wie u.a. Hans Thiersch in seinen Überlegungen zu einer alltags- und lebensweltorientierten Sozialen Arbeit für die Theoriebildung zur Sozialen Arbeit ausgeführt hat (Kap. 3.2).
Eine wesentliche Aufgabe des Studiums der Sozialen Arbeit als einer wissenschaftlich fundierten Ausbildung ist es also, über die Formulierung von Praxiserfahrungen mithilfe von Alltagstheorien hinauszugehen und damit den Blick dafür zu schulen, wie gerade Erzählungen über „Praxiserfahrungen“ in der Sozialen Arbeit theoretisch zustande kommen.
Die auf den ersten Blick vielleicht bequemer erscheinende Alternative zur Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien liegt darin, von anderen berichtete „Praxiserfahrungen“ entweder unhinterfragt für „objektiv“ zu halten und bedingungslos zu akzeptieren, oder – wo sie nicht zu den eigenen Alltagstheorien passen – ohne nähere Begründung abzulehnen und sich auf die eigenen „Praxiserfahrungen“ zu verlassen.
Langfristig würde eine solche Strategie jedoch einem Trugschluss gleichkommen. Denn mit diesem Vorgehen wäre es nicht möglich zu benennen, was zur Praxis dazu gehört, warum dies so ist und was darüber hinaus – spätestens hier zeigt sich die Wichtigkeit des Ganzen für die Soziale Arbeit als Beruf – eigentlich mit welcher Begründung „gute Praxis“ sein könnte. Fachkräfte, die hier nur spontan äußern können, dass sie das „irgendwie richtig“ finden und auch andere kennen, die das aus ihnen nicht weiter bekannten Gründen auch denken, werden – auch „in der Praxis“ – keine sonderlich gute Figur machen.

Auch bereits im Studium wäre eine solche Strategie nicht hilfreich. Mit ihr wäre es deutlich schwerer für Sie, zu erschließen:
● worin eigentlich der Sinn eines Hochschulstudiums gegenüber einer Berufsausbildung liegen sollte, wenn Sie doch eigentlich „nur“ praktisch arbeiten wollen,
● was von Ihnen in einer Hausarbeit erwartet wird,
● was eigentlich damit gemeint ist, wenn von Ihnen in einer mündlichen oder schriftlichen Prüfung im Studium „Eigenständigkeit“ in der Argumentation, aber trotzdem keine „reine Meinung“ erwartet wird und nicht zuletzt
● was eigentlich als relevantes Wissen für einen Abschluss in einem Studiengang der Sozialen Arbeit gelten könnte.
Die angedeuteten Unzulänglichkeiten von Alltagstheorien werden gerade dort relevant, wo es darum geht, mit einer gewissen Expertise über Praxis sprechen zu können und begründet in dieser zu handeln – also bei einer der zentralen Herausforderungen, vor denen angehende Fachkräfte der Sozialen Arbeit stehen. In ihrer Nützlichkeit hierfür stechen wissenschaftliche Theorien Alltagstheorien in aller Regel aus. Zur Verdeutlichung der Begrenztheit von Alltagstheorien in der Erschließung von Praxis Sozialer Arbeit wählen wir abschließend noch eine Alltagstheorie, die Laien auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen mag.

Die Alltagstheorie „Praxis Sozialer Arbeit ist überall dort, wo Sozialarbeiterinnen versuchen, Menschen zu helfen“, erscheint auf den ersten Blick sehr plausibel. Was aber, wenn Sie ein Team von drei Fachkräften in einem offenen Jugendclub haben, von denen nur eine Fachkraft ausgebildete Sozialarbeiterin ist, die anderen beiden sind Erzieherinnen? Betreiben die Erzieherinnen dann keine Praxis Sozialer Arbeit, sondern „Erziehung“? Oder machen diese dann notwendigerweise etwas anderes, ja gar weniger Anspruchsvolles? Was passiert, wenn ein Jugendlicher das heutige Gespräch mit einer der Fachkräfte gar nicht als hilfreich empfunden hat? Entsprach das Gespräch dann trotzdem Ihrem Verständnis von „Praxis Sozialer Arbeit“? Und was passiert, wenn die Sozialarbeiterin des Jugendclubs nach Dienstende nach Hause geht, um später am Abend zuhause mit ihrer Tochter ein einfühlsames Gespräch über deren derzeitige Ängste in der Schule zu führen? Betreibt sie dann dort immer noch praktische Soziale Arbeit, oder versucht sie einfach nur, ihrer Tochter als Mutter beizustehen? Oder würden Sie sagen: „Das kommt darauf an?“ Aber worauf? Und was macht eigentlich die eine der beiden Erzieherinnen, falls sie ein ähnliches Abenderlebnis mit ihrer Tochter haben sollte und sich dabei bewusst einer Gesprächsführung bedient, die sie auch tagsüber im Jugendclub oft anwendet? Ist das dann doch wieder Praxis Sozialer Arbeit, obwohl sie sich weder im Jugendclub aufhält noch überhaupt formal als Sozialarbeiterin ausgebildet oder angestellt ist?
Diese Fragen „aus der Praxis“ verdeutlichen, welche engen Grenzen sog. Alltagstheorien haben. Zugleich wird am gegebenen Beispiel aber auch nochmals deutlicher, inwiefern es nicht sinnvoll ist, von einer scharfen Trennung zwischen Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit auszugehen. Die verbreitete Annahme, Theorie und Praxis seien zwei Dinge, die an sich nichts miteinander zu tun hätten, ist zwar eine wesentliche Quelle für den Argwohn vieler Studierender gegenüber der Beschäftigung mit Theorie in ihrem Studium. Wir hoffen jedoch, mit unseren Ausführungen deutlich gemacht zu haben, dass diese Annahme bei genauerer Betrachtung nicht haltbar ist. Im Studium der Sozialen Arbeit scheint es zwar auf den ersten Blick die Möglichkeit zu geben, sich „nur mit Praxis“ zu beschäftigen. Wählt man diese Option, so sollte man allerdings nicht davon ausgehen, dass diese Beschäftigung sich jenseits von Theorie vollzieht, da man von Praxis nicht anders als theoretisch sprechen kann (und dieses Sprechen stellt im Übrigen zugleich auch schon wieder eine bestimmte Form von Praxis dar, die sich wiederum theoretisch entschlüsseln lässt usw.).
Je früher man diesen Gedanken im Laufe der eigenen Beschäftigung mit Sozialer Arbeit akzeptiert, desto leichter fällt es, sich darauf einzulassen, was von Studierenden der Sozialen Arbeit oft als Zumutung empfunden wird – obgleich es unseres Erachtens den zentralen Gewinn einer akademischen Ausbildung ausmacht: Sich auf die theoretische Auseinandersetzung mit dem einzulassen, was einen meist zunächst als Praxis interessiert.

1. Warum kommen Sie sowohl im Zuge wissenschaftlichen als auch nichtwissenschaftlichen Sprechens über eine Beobachtung niemals ohne Theorie(n) aus? U. Was versteht Peirce unter einer „Abduktion“?
2. Was versteht Peirce unter einer „Abduktion“?
3. Was brauchen Sie konkret an theoretischen Vorstellungen, um überhaupt von einer „Praxiserfahrung in der Sozialen Arbeit“ sprechen zu können?
4. Welche Vor- und Nachteile sog. „Alltagstheorien“ lassen sich gegenüber wissenschaftlichen Theorien ausmachen?

Joas, H., Knöbl, W. (2004): Was ist Theorie? In: Joas, H., Knöbl, W.(Hrsg.): Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt/M., 13-38
1.2 Zum Unterschied zwischen Rezepten und Theorien der Sozialen Arbeit

Theorien der Sozialen Arbeit haben das Ziel, Wissen zu Sozialer Arbeit zu generieren. Was dabei als „wertvolles“ Wissen gilt, ist durchaus umstritten. Weitgehende Einigkeit besteht jedoch darin, dass sich dieses Wissen nicht einfach wie ein Rezept „in der Praxis anwenden“ lässt. Das hängt einerseits damit zusammen, dass es insgesamt fraglich ist, ob rezeptartige Theorien überhaupt existieren. Diese grundsätzliche Diskussion werden wir im folgenden Kapitel aber nur streifen. Stattdessen werden wir uns auf einen zweiten Zusammenhang konzentrieren: Dass Theorien der Sozialen Arbeit keine einfach anwendbaren Rezepte sind, hängt ganz maßgeblich damit zusammen, dass sie auf einer zu abstrakten Ebene ansetzen, um eine solche Art von technologischen Ableitungen auch nur potenziell zu ermöglichen. Das wiederum entspricht ihrem Programm, wie wir im Folgenden zeigen werden.
Ebenso wie bei manchen Studierenden der Sozialen Arbeit pauschale Abwehrreflexe gegen Theorie zu finden sind, stößt man zuweilen auch auf eine buchstäblich umgekehrte Haltung, nämlich diejenige, dass mit Theorie gerade die große Hoffnung verbunden wird, sie könne die (spätere) Berufspraxis direkt anleiten. Die Vorstellung lautet dann in etwa: „Wenn ich die Theorie lerne, weiß ich, was ich in der Praxis zu tun habe!“
Die „Sprachspiele des theoretischen Wissens“ werden im Falle solcher Vorstellungen immer nur dort für relevant gehalten, wo sich „in ihnen der Gang der Handlung spiegelt“ (Dewe 2008, 168). Mit anderen Worten: Nur dort, wo in einer Theorie Auskünfte darüber getroffen werden, was in einer konkreten Handlungssituation zu tun ist, wird sie für voll genommen.
Die Idee, dass Theorien das praktische Handeln sozusagen rezeptartig anleiten können, ist zugegebenermaßen faszinierend. Denn wäre dies so, und wäre es auch im Falle von Theorien der Sozialen Arbeit so, dann würde eine ausführliche Beschäftigung mit Theorien im Studium reichen, um zu wissen, was man später in der Praxis zu tun hat. Eine Theorie der Sozialen Arbeit wäre dann als eine Art Technologie der Sozialen Arbeit zu verstehen. Damit wäre garantiert, dass bestimmte Ziele mit bestimmten Handlungen erreicht werden können, wenn man sich nur 1:1 an diejenigen Handlungen hält, welche die Theorie beschreibt.

Ein Beispiel für eine rezeptartige Technologie der Sozialen Arbeit wäre bspw. eine Theorie, die eine Antwort auf die Frage zu bieten hätte: Wie bringe ich den vor mir in der Schulstation sitzenden Schulverweigerer dazu, ab der kommenden Woche wieder dauerhaft am Unterricht teilzunehmen?
Aus gutem Grund sind solche Theorien im vorliegenden Buch nicht zu finden. Zwar wird innerhalb der wissenschaftlichen Debatte zur Sozialen Arbeit viel über Praxis gesprochen und geschrieben. Dabei wird auch über das sog. „Theorie-Praxis-Verhältnis“ gestritten (May 2010, 17 ff.; Winkler 2017). Strittig ist in der wissenschaftlichen Debatte zur Sozialen Arbeit z.B., ob Theorien in der Pflicht sind, ethische und/oder (fach)politische Leitlinien für das Handeln in der Sozialen Arbeit bereitzustellen, oder ob sie dies zugunsten einer analytischen Wissensproduktion zu unterlassen bzw. hintanzustellen haben (Rauschenbach/Züchner 2012). Unstrittig ist jedoch, dass die Benennung ethischer und/oder fachpolitischer Leitlinien für das Handeln von PraktikerInnen nicht das Gleiche ist wie eine Erarbeitung von rezeptartigen Technologien (Kessl/Otto 2012).
In der Sozialen Arbeit hat es wie auch in ihren Nachbardisziplinen, immer wieder Versuche gegeben, solche „Technologien“ zu entwickeln oder Theorien mit einem technologischen Anspruch zu versehen.

So findet man Beispiele für Theorien mit technologischem Anspruch etwa im Kontext von Schule und Lehrerbildung. Hier gibt es eine Vielzahl von allgemein- und fachdidaktischen Ansätzen der Schulpädagogik, in denen es ausdrücklich darum geht, Technologien des Lehrens und Lernens zu konzipieren, die ganz auf die Rationalisierung der Wissensvermittlung im Unterricht ausgerichtet sind. Und auch in der Sozialen Arbeit wird man fündig, wenn es um technologische Modelle geht. Ein geläufiges Beispiel hierfür ist etwa die Diskussion um Methoden der Sozialen Arbeit. Die Grenze zwischen strukturierten, d. h. zunächst einmal auf eine Strukturierung des Handelns von Professionellen ausgerichteten Vorgehensweisen, und technisierten Vorgehensweisen, die mit der Vorstellung verbunden sind, man könnte durch bestimmte Handlungsabläufe gewünschte Effekte bei AdressatInnen des professionellen Handelns erreichen, sind hier fließend (Galuske 2013). Ein weiteres Beispiel bieten Ansätze einer sog. „evidenzbasierten Sozialen Arbeit“ (Otto et al. 2009; Otto et al. 2010a). Sie operieren mit dem Versprechen, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse das praktische Handeln in der Sozialen Arbeit zumindest mittelbar wirkungsvoller zu machen, indem sie es mit Manualen und festgelegten Organisationsabläufen flankieren, die sich als angeblich „erfolgreich“ in Bezug auf vorher festgelegte Kriterien herausgestellt haben. Und zuletzt gibt es jenseits der Diskussion um Methoden sogar technologisch-empiristische Theorieprogramme der Sozialen Arbeit, die sich als praxisanleitende Theorien sozialarbeiterischen Handelns verstehen (Rössner 1975). Diese haben sich aber im engeren Diskurs um Theorien der Sozialen Arbeit bisher kaum durchgesetzt.