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Bereits nach wenigen Schritten blieb Jordill jedoch stehen. Nachdenklich sah er auf den Boden, rieb sich das Kinn und deutete dann auf eine Spur vor ihnen.
„Ich habe ja wirklich schon viele Wolfsfährten gesehen, aber Abdrücke, die so groß sind wie diese hier, sind mir bisher noch nie untergekommen“, meinte er nachdenklich.
Nachdem sich der Elf auf den Boden gekauert hatte, wobei er mit seinen Fingern tastend noch weitere Spuren des Wolfes untersuchte, erhob er sich wieder und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, zu der Stelle zurück, wo sie die Nacht verbracht hatten. Die Gefährten guckten ihm neugierig zu.
„Warum schaut er sich denn so genau um? Ich denke, wir haben noch einen anstrengenden Marsch vor uns. Vor einem Wolf brauchen wir uns doch nun wirklich nicht zu fürchten“, wunderte sich Torgorix.
„Ich glaube nicht, dass sich Jordill fürchtet. Viel eher vermute ich, dass ihm etwas an den Spuren seltsam erscheint.“
Nachdem der Elf seine Erkundung abgeschlossen hatte und zur Gruppe zurückgekehrt war, erklärte er den dreien, dass sie in der Nacht unbemerkt Besuch von einem riesigen Wolf gehabt hätten. Über das Verhalten des Wolfes war er sich jedoch nicht ganz schlüssig, denn der Riese hatte sich ihnen im Schlaf in kreisenden Bewegungen immer mehr genähert, bis er sich dann, nur wenige Mannslängen von ihnen entfernt niedergelegt hatte. Dort musste er eine ganze Weile verharrt haben, bevor er sie wieder verlassen hatte. Solch ein seltsames Verhalten eines wilden Wolfes hatte Jordill noch nie erlebt.
„Vielleicht wollte uns der Wolf ja nur bewachen“, überlegte Adalbert, obwohl er selbst kaum daran glauben konnte.
„Warum sollte uns ein fremder Wolf bewachen wollen?“, widersprach Torgorix.
„Ob er uns bewachen wollte oder ob er uns aus einem anderen Grund beobachtet hat, das werden wir jetzt im Moment sicherlich nicht herausfinden. Auf jeden Fall schien er keine Angst vor dir, mein lieber Torgorix, zu haben. Es wundert mich nur, dass ich ihn nicht gespürt habe. Normalerweise habe ich einen sehr leichten Schlaf und wache sofort auf, wenn sich mir ein Lebewesen nähert. Aber eines steht fest, wir sollten in der nächsten Nacht unbedingt eine Wache einteilen.“
Der nächtliche Besuch des Wolfes war in den nächsten Stunden für Torgorix noch Anlass genug, wilde Spekulationen darüber aufzustellen. Ansonsten gab es wenig Ablenkung und der Marsch wurde ab dem späten Nachmittag zusehends beschwerlicher, was nicht nur an dem erneut einsetzenden Schneefall lag, sondern auch daran, dass ihr Weg sie schon seit einiger Zeit nur noch bergauf führte.
Der frische Schnee erschwerte ihnen das Vorankommen zusätzlich, denn er gab den Blick auf den felsigen Untergrund nicht mehr frei, was dazu führte, dass es für sie immer schwieriger wurde, sicheren Tritt zu finden. Besonders Torgorix rutschte häufig aus und Adalbert, dem es selbst nicht viel besser erging, musste immer wieder lachen, wenn der Drache vor sich hin fluchte. Tork hingegen nahm die Situation gelassen hin, obwohl auch seine Keilerbeine nicht für das Gebirge gemacht waren. Nur Jordill war leichtfüßig wie eh und je. Seiner fröhlichen Einstellung konnte so ein bisschen Schnee nichts ausmachen, ganz im Gegenteil, er vergnügte sich glücklich wie ein kleines Kind im Winter. Immer wieder bewarf er die Gruppe mit Schneebällen, bis sich zwischen ihm und Adalbert eine heftige Schneeballschlacht entwickelte. Torgorix und Tork hingegen hatten ihren ganz besonderen Spaß dabei, diese Wurfgeschosse mit ihren Mäulern zu fangen. Erst als der übermütige Drache versuchte, die Schneebälle mit kurzen Feuerstößen in der Luft zu schmelzen, brach Adalbert das lustige Treiben ab. Das Spiel wurde ihm auf diesem rutschigen Gelände zu gefährlich.
Als sie bei der bereits sehr früh einsetzenden Dämmerung eine geeignete Stelle für ihr Nachtlager fanden, meinte Adalbert: „Für heute reicht es. Wir haben ein gutes Stück zurückgelegt und können uns jetzt eine erholsame Nachtruhe gönnen.“
„Der Platz ist zwar sehr gut, aber wir könnten doch bestimmt noch eine kleine Weile weiter marschieren“, erwiderte Jordill.
„Ich weiß, dass wir alle noch eine Menge Energie haben, aber ich möchte unbedingt, dass Torgorix heute noch zur Drachenschule fliegt und dem ehrwürdigen Rat berichtet, wo wir jetzt sind. Außerdem möchte ich gerne wissen, wie es Merthurillh geht und ob er schon aus seinem Heilschlaf erwacht ist.“
Der scharfsinnige Elf vermutete, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Tatsächlich hatte der Junge bereits vor einiger Zeit bemerkt, dass der schwere Keiler Tork größere Schwierigkeiten damit hatte, sicheren Tritt zu finden. Mit der zunehmenden Dunkelheit nahm auch die Gefahr zu, dass ein solcher Fehltritt dazu führte, dass er in die Tiefe stürzte. Da einige Hänge, die sie in den letzten Stunden passiert hatten, sehr steil abfielen, wäre ein solcher Sturz vermutlich tödlich gewesen. Dabei bestand nicht nur Gefahr für das Leben des Keilers, was schon schlimm genug gewesen wäre, sehr leicht konnte er dabei auch ein weiteres Mitglied der Gruppe mit in die Tiefe reißen.
Um seinen Freund Tork nicht zu beschämen, behielt Adalbert diesen Anlass für das zeitige Nachtlager lieber für sich. Es gab aber noch einen weiteren Grund, über den er mit den anderen nicht sprechen wollte. Er vermisste seinen Freund Merthurillh so sehr, dass er unentwegt an ihn denken musste. Er befürchtete, dass sich seine Freunde zurückgesetzt fühlen würden, wenn er ihnen das erzählte, und vielleicht auch enttäuscht wären. Da ihm jeder einzelne seiner Gefährten ans Herz gewachsen war, wollte er sie nicht verletzen.
„Ich freue mich darauf, zur Drachenschule zu fliegen. Schon den ganzen Tag über habe ich mich danach gesehnt. Es kribbelt mir so zu sagen in den Schwingen. Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich gerne sofort losfliegen“, erwiderte der Drache und erhob sich in die Luft, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Wenn ich gleich etwas trockenes Holz gesammelt und ein wärmendes Feuer entzündet habe, freue ich mich auf ein schönes Gespräch mit dir“, sagte Jordill zu Adalbert, während er dem davonfliegenden Drachen hinterhersah.
Kapitel 5
Verpatzte Landung
Bereits seit gestern Nachmittag spürte Erik seinen Hintern nicht mehr. Entweder hatte sich sein Allerwertester endlich an die monotonen Auf- und Abbewegungen im Sattel gewöhnt oder er war einfach nur betäubt und das böse Erwachen stand ihm noch bevor. Wie auch immer, im Moment war es ihm so ganz recht.
Am Vorabend waren sie endlich am westlichen Rand des Nasli Karillhs angekommen. Mächtige Buchen und Eichen, die dicht bei dicht standen, verwehrten den Ankömmlingen jede Sicht in den Wald hinein.
„Wie sollen wir denn in diesen Wald kommen? Wohin ich auch schaue, es gibt nirgends einen Weg. Da werden wir wohl morgen weiterreiten müssen“, sagte Erik leicht resigniert zu dem mächtigen Ritter neben ihm.
„Nun stell dich doch nicht immer so an! Du benimmst dich wie ein kleines Kind! Nimm dir doch mal ein Beispiel an meinem Sohn Adalbert. Den hörst du nicht wegen jeder Kleinigkeit rumjammern. Bei all deiner Heulerei kann ich mir gar nicht vorstellen, wie du es geschafft haben sollst, das wertvolle Horn von Fantigorth zu stehlen und damit auch noch die strapaziöse Reise bis ins dunkle Ostland zu unternehmen“, spottete Knut von Tronte.
„Lass mich doch in Ruhe! Wenn du nicht gewesen wärst, dann wäre der schwarze Drache Fantigorth gar nicht tot und ich hätte sein Horn nie in die Hand bekommen. Außerdem hast du auch noch den Sohn von Merthurillh ermordet!“, konterte der Junge.
„Jetzt reicht’s! Runter mit dir vom Pferd, damit ich dir eine Lektion erteilen kann, die du so schnell nicht vergessen wirst. So lasse ich nicht mit mir reden. Schon gar nicht solch einen Dreikäsehoch wie dich!“, brauste der Ritter auf, der an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen worden war.
„Keiner erhält hier eine Lektion, die mit Gewalt erlernt werden soll!“, mischte sich der Elf Trulljah ein, während der prächtige Hengst Antha sich schnell zwischen die Pferde der beiden Streithähne schob. Diese Worte des Elfen brachten den Ritter zur Vernunft und er entschuldigte sich bei Erik für seine raue Art.
„Du musst wissen, meine Nerven liegen blank. In wenigen Tagen hat sich mein ganzes Leben nicht nur völlig verändert. Wenn ich richtig darüber nachdenke, habe ich eigentlich noch nie etwas wirklich Sinnvolles für unser Drachenland getan. Ich habe zwar vordergründig den Bauern geholfen, wenn sie ein Drachenproblem hatten, aber dabei habe ich nie meinen Kopf angestrengt und mir Gedanken über diese Wesen gemacht. Welch schlimmes Schicksal habe ich über die armen Eltern des silbernen Drachen Allturith gebracht. Welche Schmerzen habe ich über all die Eltern, Brüder, Schwestern und Kinder gebracht, denen ich in meinem Wahn ein Familienmitglied genommen habe! Mein eigener Sohn hatte mehr Weitsicht als ich und flehte mich an, Merthurillhs Sohn nichts zu tun, aber ich sah nur einen verhassten Drachen, den ich unbedingt töten wollte. Nun stehe ich vor einem Scherbenhaufen, der einmal mein Leben war, und versuche krampfhaft, einen Weg der Tugend zu finden, damit mein Leben nicht völlig umsonst war. Vielleicht kannst du das heute noch nicht verstehen, denn du bist noch sehr jung, Erik, aber dieser Scherbenhaufen lässt sich nicht so leicht zur Seite fegen. Daher möchte ich mich bei dir aufrichtig für meine rauen Worte entschuldigen.“
„Es tut mir auch leid, was ich gesagt habe. Ich mache oft Blödsinn und sage Dinge, die ich gar nicht so meine oder die mir schon im nächsten Moment leidtun“, nahm Erik die Entschuldigung des mächtigen Mannes an.
„Irgendwie sind wir zwei uns sogar in gewisser Weise ähnlich. Jeder von uns muss einen neuen Weg finden, um seinem Leben einen vernünftigen Sinn zu geben. Komm, lass uns einander die Hände reichen und den Weg in die Zukunft gemeinsam gehen.“ Bei diesen Worten streckte Knut von Tronte seine Hand aus, die Erik gerne ergriff.
Sichtlich erfreut über die Beilegung des Streits, kam Trulljah auf das erste Gesprächsthema der beiden Menschen zurück: „Wir müssen keinen Eingang in den Elfenwald suchen, denn der Weg liegt direkt vor uns.“
„Ich möchte nicht an deinen scharfen Augen und deinem hellen Verstand zweifeln, aber durch diese dichten Bäume komme ich sicherlich nicht hindurch“, erwiderte der Ritter zweifelnd.
„Doch, das wirst du. Aber auch dein Sohn Adalbert war sehr überrascht, als er damals sah, wozu der Nasli Karillh mit seinen Baumwandlern in der Lage ist.“
„Es kommt mir irgendwie nicht richtig vor, wenn ich unseren Wald um Einlass bitte, wo du doch neben mir stehst“, wandte sich der Elf nun an den Hengst, der vor seiner dramatischen Wandlung der jüngere Bruder des Waldelfenkönigs Erithjull gewesen war.
Antha wieherte bestätigend, warf seinen Kopf nach oben und ließ seine pechschwarze Mähne flattern, bevor er im gestreckten Galopp auf die Bäume zuschoss. Dort stellte er sich auf die Hinterhand und wieherte erneut, wobei seine Vorderhufe wild in die Luft schlugen. Es dauerte nur einen winzigen Augenblick, bis sich die Baumwandler respektvoll vor ihm verneigten und den geheimen Pfad in den seltsamen Elfenwald freigaben.
Nun war es an dem Ritter Knut von Tronte und an Erik, verdutzt zu staunen, als sie sahen, wie sich diese Bäume bewegten, ohne dass der Wind etwas damit zu tun hatte. Auch Rognagg war erstaunt, während Kronglogg schon oft hier gewesen war.
„Was für ein Zauber ist das denn?“, staunte Adalberts Vater.
„In der Zwischenzeit dürftest du erfahren haben, dass es viel mehr in unserem schönen Drachenland gibt, als du es dir je vorzustellen wagtest“, beruhigte ihn der Elf. „Lasst uns nun den Wald betreten und dort übernachten. Ihr werdet sehen, wie sich der Elfenwald hinter uns schließt und dafür sorgt, dass wir ganz unbesorgt die Nacht verbringen können. Sicherlich werden wir bereits erwartet.“
Trulljah machte sich auf, den beiden Zwergen und dem Hengst zu folgen, die bereits im Wald verschwunden waren. Dann wandte er sich noch einmal um.
„Nun kommt schon, die Baumwandler werden nicht ewig auf uns warten. Ihr könnt euch auch später im Wald noch genug über sie wundern“, forderte der Elf seine noch immer staunenden Gefährten auf.
***
Es war schon kurz vor Mitternacht, als Torgorix endlich an der Drachenschule ankam. Sicherlich hätte er die Strecke von dort, wo er sich von seinen Weggefährten Adalbert, Jordill und Tork verabschiedet hatte, bis zur Drachenschule wesentlich schneller bewältigen können, aber er genoss jeden einzelnen Augenblick seines herrlichen Fluges. Oft machte er kleine Pausen, um entweder vor Wonne jauchzend in steile Schluchten abzutauchen oder ganz dicht über die rauen Felskämme hinwegzuschießen. Natürlich versuchte er auch ein paar Flugmanöver nachzufliegen, die er oft bei der begnadeten Luftkünstlerin Zaralljah gesehen hatte. Doch dazu bedurfte es unendlich viel Übung und eines angeborenen Flugtalents. Richtig gut zu fliegen war schon eine seltene Gabe, aber in der Luft mit den Wolken so zu spielen, wie es die Kriegerin Zaralljah konnte, war eine Gnade des Schicksals. Bei ihr sah alles so einfach und verspielt aus, aber bereits das einfachste ihrer Flugmanöver nachzufliegen, erschien Torgo fast unmöglich.
Ganz nebenbei hatte er natürlich auch immer wieder seine Landungen geübt. Er hatte das Gefühl, dass er sich unsterblich blamiert hatte, als er bei seinen Freunden die zwei traurigen Bauchlandungen hingelegt hatte – von den höllischen Schmerzen einmal abgesehen, die er krampfhaft zu verbergen versucht hatte. Das sollte ihm nicht noch einmal passieren. Besonders sein Freund Adalbert sollte morgen von einer perfekten Landung überrascht werden, wenn er wieder zu ihnen zurückkam.
Je später die klirrend kalte Nacht wurde, desto schöner funkelten die unzähligen Sterne am Himmelszelt. Da keine einzige Wolke den Blick auf die Sterne verdeckte, konnte er den Himmel über sich in vollen Zügen genießen. Besonders das Sternbild des Urdrachen Wargos, welches ihn schon seit seiner frühesten Erinnerung fesselte, beglückte seine junge Drachenseele. Wenn er nachts zum Himmel hinaufsah, kam es ihm beinahe so vor, als hörte er den Ruf des mächtigen Wargos, der alle Drachen einmal zu sich in die Sternennacht hinaufrief.
Als Torgorix sich der Drachenschule näherte, rief ihm schon aus weiter Ferne die wunderschöne Drachenlady Coralljah zu: „Willkommen, mein geliebter Sohn!“
„Woher wusstest du, dass ich heute komme?“, fragte Torgorix überrascht und setzte zur Landung an. Nun durfte nichts schiefgehen, denn vor seiner Mutter wollte er sich nicht blamieren. Vor lauter Aufregung, endlich das Tor zur Drachenschule so anzufliegen, wie es sich für einen richtigen Drachen gehörte, bemerkte er nicht, dass direkt vor dem Plateau, auf welchem er gleich landen wollte, starke Leewinde herrschten. Diese richtig zu berechnen, damit man tatsächlich dort landete, wo man es geplant hatte, setzte viel Erfahrung voraus.
„Pass auf …“, rief seine Mutter noch ängstlich warnend, aber da war es bereits zu spät. In dem einen Moment noch unmittelbar vor der Landezone zu sein und sich bereits im nächsten Augenblick vier oder fünf Mannslängen darunter zu befinden, verwirrte Torgorix so sehr, dass er unsanft gegen die kalte Felswand prallte, an der es keinen Halt mehr gab. So stürzte er senkrecht in die Tiefe und versuchte verzweifelt, von der tödlichen Wand wegzukommen, um nicht auf dem Felsboden aufzuschlagen. Doch seine besorgte Mutter kam ihm im richtigen Moment zu Hilfe. Sie hatte sofort gemerkt, dass diese Landung nichts werden konnte und sie wusste, wie gefährlich es war, beim Sturz nicht rechtzeitig so weit von dem Gestein wegzukommen, dass man die Flügel ausbreiten konnte, um wieder den nötigen Auftrieb für einen kontrollierten Flug zu erhalten. Also stürzte sie sich ihrem Sohn hinterher und zog ihn mit ihren mächtigen Pranken weit genug weg in Sicherheit.
„Nun flieg mir nach und tu genau, was ich dir vormache!“, rief sie ihm zu.
Seine missglückte Landung hatte dem jungen Drachen sehr deutlich gezeigt, wie unerfahren er tatsächlich noch war und was er noch alles erlernen musste. Seine Flugmanöver, die er mit Jordill einstudiert hatte, kamen ihm jetzt richtig lächerlich vor. Wie sollte er den erfahrenen Drachen etwas von neuen Flugideen erzählen, wenn er noch nicht einmal in der Lage war, vernünftig in dem riesigen Höhleneingang der Drachenschule zu landen?
Seine Mutter war nur eine knappe Flügelspanne vor ihm und flog die Höhle viel höher an, als er es zuvor getan hatte. Als der Fallwind sie dann erwischte, landete sie perfekt im Eingang der Schule.
„Jetzt bist du dran!“, riss die Stimme seiner Mutter Torgorix aus seinen verzweifelten Gedanken. Er sah nach vorne, dachte noch, dass er doch eigentlich viel zu hoch sei, und stand einen Wimpernschlag später direkt hinter seiner Mutter auf der Landezunge.
„Mach dir nichts draus. Auch ich habe mich schon verschätzt und bin abgestürzt“, hörte er die Stimme von Lady Zaralljah.
Für Torgorix war es schon schlimm genug, dass seine Mutter Zeugin seiner demonstrierten Unfähigkeit geworden war. Warum musste ausgerechnet die von ihm so verehrte Lady Zaralljah ebenfalls sehen, was er am liebsten für immer verschwiegen hätte.
„Du hast dich bestimmt noch nie so blamiert wie ich gerade“, antwortete er niedergeschlagen.
„Da irrst du dich aber gewaltig. Ich gehöre zwar heute zu den besten Fliegern an der Drachenschule, aber das war nicht immer so. Auch ich habe einmal ganz klein und unerfahren angefangen. Mein heutiges Können habe ich im Wesentlichen drei Tatsachen zu verdanken. Zum einen hatte ich schon als Jungdrachin den unbeirrbaren Wunsch, eines Tages zu den besten Fliegern des Drachenlandes zu gehören. Zum anderen war mein geliebter Vater ein unglaublich erfahrener Kampfdrache, der mich schon früh in die Künste des kriegerischen Fliegens einwies. Und schließlich kam noch mein eiserner Wille hinzu. Für mich gab es kein Versagen, ich hätte nie aufgegeben. Wenn ich etwas nicht schaffte, dann übte ich es so lange, bis ich es konnte. Das hat manchmal Ewigkeiten gedauert, aber ich habe nie aufgehört. Ich bin immer einmal mehr in die Luft gestiegen, als ich gelandet bin. Das wurde dann auch zu meinem Lebensmotto. Wenn du hinfällst, musst du nur aufstehen, etwas daraus lernen und es erneut versuchen“, erklärte Zaralljah, die sonst nie so gesprächig war. Ihre Worte schenkten dem jungen Torgorix neuen Mut und er vergaß beinahe seinen verpatzten Anflug.
„Morgen früh werden wir zwei etwas üben gehen. Was hältst du davon?“, fragte sie ihn aufmunternd.
„Das wäre toll!“, strahlte er sie an.
„Danke“, sagte Torgorix’ Mutter leise zu ihr.
„Sehr gerne. Dein Sohn hat viele Talente, die wir unbedingt fördern müssen. In seinem Alter konnte ich noch nicht einmal bis zum nächsten Hügel gleiten und unser Torgo fliegt schon vom Kalten Finger bis hierher“, raunte diese zurück.
***
„Nun bist du an der Reihe, mein junger Flugkünstler Torgorix, uns zu berichten, was bisher geschehen ist“, forderte der weiße Lorhdrache Okoriath den Jungdrachen auf, von der ersten Etappe der Eisgruppe zu erzählen.
Torgorix, der sich bei dieser Anspielung auf sein fliegerisches Können sehr unwohl fühlte, hatte in der vergangenen Nacht nur Zeit für einen kurzen Schlaf gehabt, denn der Drachenrat war gleich am nächsten Morgen einberufen worden. Okoriath, der weise und stets besorgte Anführer des Drachenrates, wollte schnellstmöglich über alle Ereignisse des Drachenlandes, seien sie auch noch so unbedeutend, informiert werden. Die Geschehnisse der vergangenen Tage hatten ihn noch stärker davon überzeugt, dass der bösartige Druide Snordas, der in den dunklen Höhlen des Ostlandes krankhaft nach Rache für seinen Lehrmeister Rettfill strebte, der seinerzeit den Krieg gegen das restliche Drachenland verloren hatte, alle Vorbereitungen für einen bevorstehenden Überfall traf. Die Frage war nur, wann und wo Snordas’ Angriff stattfinden würde und ob er genügend Horden hinter sich hatte, um einen Krieg zu entfesseln.
„Ich weiß gar nicht, wie ich hier vor dem ehrwürdigen Rat sprechen soll“, begann Torgorix zögernd.
„Sprich bitte einfach so, wie es dir in den Sinn kommt, mein junger Secundus. Du brauchst ja schließlich keinen Vortrag über die Geschichte unserer Ahnen zu halten, sondern sollst uns nur von den letzten Tagen berichten, die du mit Adalbert, Jordill und Tork verbracht hast“, versuchte der Lorhdrache dem jungen Drachen die Nervosität zu nehmen.
So berichtete Torgorix von den Wanderungen, von den riesigen Wolfsspuren an ihrem Nachtlager und schließlich von seinen neuen An- und Überflugmanövern bei absoluter Dunkelheit, wobei ihm ein gewisser Stolz anzumerken war. Als er davon erzählte, wurden nicht nur der Lorhdrache und seine Mutter zunehmend aufmerksamer, sondern auch der alte Drachenritter Rostorrh und die anthrazitfarbene Drachenlady Zaralljah. Als erfahrene Kämpfer erkannten beide sofort die strategischen Möglichkeiten, die sich aus diesen Flugbewegungen ergeben könnten.
„Wie bist du denn auf diese grandiose Idee gekommen?“, fragte der mürrische Kämpfer Rostorrh, dessen ganzer Körper von unzähligen Narben übersät war.
„Das war nicht meine Idee. Jungritter Adalbert hat sich das ausgedacht. Er hat mich aufgefordert, mit nächtlichen Flugübungen zu beginnen, damit ich nicht nur bei schönem Wetter fliegen kann. Außerdem hatte er die Idee, wie ich trotz völliger Dunkelheit immer genau meinen Standort und meine Flughöhe erfahren konnte. Ohne Adalbert wäre ich heute bestimmt noch immer der kleine Drache, über den sich alle anderen ständig lustig gemacht haben“, erklärte er.
„Immer wieder schafft es dieser Knabe, mich zu verblüffen“, murmelte Rostorrh vor sich hin und begann, viele Fragen zu den Einzelheiten des Flugmanövers zu stellen. Doch letztendlich kam er zu dem Schluss dass die Idee zwar gut, aber in der Realität nicht umsetzbar sei.
„Warum gibt mein alter Freund Rostorrh der Idee von Adalbert nicht eine Chance? Für mich hört sich der Plan tatsächlich durchführbar an“, fragte Lady Coralljah. Schon früher war ihr aufgefallen, dass der sture Drachenkämpfer dem Jungen nicht so recht zu trauen schien.
„Ich würde mich vielleicht davon überzeugen lassen, wenn es tatsächlich einer von uns schaffen sollte, ohne jegliche Sicht das zu vollbringen, was sich unser schlauer Adalbert mal wieder ausgedacht hat“, antwortete dieser knapp.
„Kann es sein, dass unser geschätzter Rostorrh ein kleines bisschen eifersüchtig auf Adalbert ist?“, frotzelte der Lorhdrache und sprach damit aus, was auch die anderen dachten. Eine Antwort blieb jedoch aus.
„Den Beweis dafür, dass Adalberts Plan tatsächlich funktioniert, kann ich euch gerne vorführen, denn ich bin bereits völlig blind geflogen!“, erklärte Torgorix, um den Ruf seines Freundes zu retten, wozu jedoch nicht der geringste Anlass bestand, da nur Rostorrh an ihm zweifelte. Schnell erklärte er, wie ihm Jordill ein Tuch über die Augen gebunden hatte und ihn dann sicher mit seinen Pfiffen bis zur Landung dirigiert hatte. Die Bauchlandung erwähnte er natürlich nicht.
Zaralljah ließ sich schnell die Bedeutung der verschiedenen Pfiffe erklären und schlug dem Rat dann vor, dieses Manöver vor aller Augen selbst auszuprobieren. Wortrillh, den Anführer der Ratswache, bat sie freundlich, ihr mit seinen Pfiffen die Höhe durchzugeben. Wie es für einen wortkargen Grenzgänger typisch war, war es dem Elfen nicht anzumerken, ob er diesen Auftrag gerne ausführte oder nicht.
Der Lorhdrache jedoch nahm diese Einladung zu einer Flugvorführung der besonderen Art sehr gerne an und verlegte kurzerhand die Sitzung des Rates auf den Pass hoch oben über der Drachenschule.
Etwas enttäuscht ging wenig später Torgorix schweigend neben Zaralljah die vielen Gänge zum Pass hinauf, denn insgeheim hätte er dieses Manöver nur zu gerne selbst vorgeführt.
„Mach dir nichts draus, mein junger Freund. Ich möchte lediglich vermeiden, dass irgendjemand hier darüber lacht, wenn deine Landung nicht hundertprozentig klappen sollte“, tröstete sie ihn ungewohnt liebevoll.
***
Bereits am Vortag, nach einem ausgiebigen Tagesmarsch mitten durch die Baumwandler hindurch, waren Knut von Tronte, Erik, die beiden Zwerge Kronglogg und Rognagg, der Elf Trulljah und der Hengst Antha, der diese Gruppe insgeheim anführte, im Dorf inmitten des Elfenwaldes angekommen. Die Gruppe, die unterschiedlicher kaum hätte sein können, erreichte ihr Ziel, kurz nachdem die orange schimmernde Sonnenscheibe über den verschneiten Wipfeln des östlichen Nasli Karillh untergegangen war.






