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„Ich heiße euch herzlich in Karsarillhmeg willkommen. Fühlt euch wohl und seid zum Abendbrot meine Gäste“, wurden sie vom Waldelfenkönig Erithjull begrüßt, der bereits einen Tag vor ihnen die Drachenschule verlassen hatte und daher schon früher angekommen war.
„Was ist denn das für ein Name?“, fragte Erik neugierig.
„Karsarillh bedeutet in deiner Sprache so viel wie Wurzel und Meg heißt Ort. Zusammengesetzt ist das hier also der Wurzelort, was im übertragenen Sinne bedeutet, dass an diesem Ort jeder zu sich selbst finden soll“, antwortete Trulljah.
„Tatsächlich gibt es noch eine andere Erklärung für diesen Namen. Der Überlieferung nach schlug zu einer Zeit, als es weder Menschen noch Zwerge, Trolle oder Elfen gab, während eines mächtigen Ungewitters ein gleißender Blitz dort in den Boden ein, wo heute der tiefe Brunnen mitten auf dem Marktplatz steht. Dabei teilte das Himmelsfeuer einen großen Felsen in zwei gleiche Hälften. Aus diesen formte das Schicksal uns Elfen. Somit erhält der Begriff Wurzelort eine noch tiefere Bedeutung“, fügte der König hinzu.
„Jeder halbwegs gebildete Zwerg weiß, dass wir lange vor den Elfen im Drachenland gelebt haben“, widersprach Rognagg dem König, bevor er von Kronglogg ruppig mit den Worten unterbrochen wurde, dass es nicht angebracht sei, die Worte eines Elfenkönigs anzuzweifeln.
„Lass ihn bitte seine Meinung frei äußern, mein lieber Freund. Im Nasli Karillh und ganz besonders hier in Karsarillhmeg hat jeder das ungeschriebene Recht, seine Meinung jederzeit frei und ungezwungen zu äußern. Wir wollen auch keinen Anspruch darauf erheben, das erste Volk im Drachenland gewesen zu sein. Ich habe lediglich erzählt, dass die Bedeutung des Namens unseres Ortes seine Wurzeln schon in grauer Vergangenheit hat. Wir können gerne unendlich lange über unsere verschiedenen Völker, unser weites Land, unsere Flüsse, Seen und das Meer, die verschiedenen Pflanzen und Tiere, die Leben spendende Sonne und den nächtlichen Sternenhimmel über uns diskutieren und philosophieren, aber streiten werden wir uns im Elfenwald nicht“, erklärte der König unmissverständlich.
„So viel Weitsicht und Meinungsfreiheit würden uns Menschen auch gut zu Gesichte stehen und so manchen unnötigen Streit bereits im Keim ersticken“, nickte Adalberts Vater. „Ich selbst nehme mich da auch nicht aus. Auch ich werde hier noch sehr viel lernen müssen“, fügte er nachdenklich hinzu.
„Dein ehrlicher Wunsch, hier in Karsarillhmeg zu lernen, ist ein schönes Willkommensgeschenk für uns. Darüber wollen wir uns gleich bei unserem Abendmahl ausführlicher unterhalten. Folgt mir bitte.“
Mit diesen Worten schritt der König allen voran, mit seinem Bruder, dem Hengst Antha, an seiner Seite. Er führte sie zu einem großen Lehmhaus, welches im Inneren mit vielen reichlich gedeckten Tischen, auf denen verlockend duftende Speisen angerichtet waren, zum Verweilen einlud.
Viel zu rasch verging der gesellige Abend mit dem guten Essen und interessanten Gesprächen, in denen sich alle Anwesenden näherkamen, während sie den melodischen Balladen lauschten, die von drei jungen Elfenmädchen vorgetragen wurden. Eine der Sängerinnen war die hübsche Marilljah. Knut von Tronte ahnte nicht, dass sein Sohn ständig an dieses Mädchen denken musste, besonders, wenn er seinen bestickten Proviantbeutel öffnete, den er von ihr geschenkt bekommen hatte.
Kapitel 6
Der weiße Wolf
Es war nicht Adalberts Drachenhaut, die ihn im Schlaf warnte, sondern sein Instinkt.
Kurz vor dem Erwachen hatte er einen schrecklichen Albtraum gehabt, in dem er regungslos zusehen musste, wie sein Freund Tork, der große Keiler, von wilden Bestien zerrissen wurde. In diesem Traum röchelte Tork ihm noch im Sterbenskampf zu, dass er ihn jetzt verlassen müsse und er treu seinen Weg Schritt für Schritt weitergehen solle. Da waren noch andere Worte des treuen Keilers, aber sie wurden immer leiser, bis Adalbert das Traumland verließ.
Bereits im Erwachen spürte Adalbert intuitiv, dass Gefahr drohte. Noch bevor er seine Augen blinzelnd öffnete, hatte er den Griff seines Schwertes Wandrokk fest umschlungen. Als er dann sah, in welchem realen Albtraum er erwachte, gefror ihm das Blut in den Adern.
Direkt an seinem Fußende stand ein riesiger Wolf zum Sprung bereit, dessen triefende Lefzen schrecklich hochgerissen waren und seine Furcht einflößenden Reißzähne zeigten. Aber es waren nicht diese Zähne, die dem Jungen solche Furcht einflößten, sondern die wässrig blauen, toten Augen der Bestie. Adalbert wusste, dass der pechschwarze Wolf nur auf ein winziges Zucken seines Opfers wartete, um loszuspringen. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass es seinem Freund Jordill noch viel schlimmer erging als ihm selbst. Der Hals des auf dem Boden liegenden Elfen war bereits in dem grässlichen Maul eines weiteren Wolfes gefangen, der böse knurrend nur darauf wartete, dass der Leitwolf das Zeichen zum Todesbiss gab. Adalbert sah, wie dem Elfen, dessen Gesicht sich bereits aus Sauerstoffmangel blau gefärbt hatte, Blut den Hals hinunterlief und grünliche Tränen aus den Augenwinkeln flossen. Adalbert machte sich mehr Sorgen um seinen Freund, als um sich selbst, denn trotz der fast aussichtslosen Situation konnte er noch immer auf ein Wunder hoffen, dem Elfen jedoch war nicht mehr zu helfen. Doch wo war Tork? Sollte sein Albtraum gar keiner gewesen sein und der Keiler war tatsächlich tot?
Wieder spürte er den stinkenden Atem des Leitwolfes, der durch die Kühle des Morgens kroch. Er schien dort an seinen Füßen noch auf irgendetwas zu warten. Es sollte kein weiterer Atemzug vergehen, bis Adalbert den Grund für sein Zögern erkannte. Drei weitere Wölfe, die er bisher nicht bemerkt hatte, näherten sich vorsichtig und machten sich ebenfalls bereit, gleich über ihn und Jordill herzufallen. Es war zwar ein schwacher Trost, aber Adalbert wusste, dass der Tod sehr schnell kommen würde und sie nicht endlose Qualen würden erleiden müssen.
In diesem Moment der Verzweiflung schoss plötzlich ein schneeweißer Wolf über ihn hinweg und biss dem grauen Wolf über Jordill in die Schnauze, sodass dieser, vor Schreck und Schmerzen winselnd, seinen tödlichen Biss lockerte. Sofort drehte sich der weiße Wolf dem Leitwolf zu, der sich nun sowohl auf diesen neuen Angreifer als auch auf Adalbert konzentrieren musste. Diese vielleicht einzige Gelegenheit ergriff der Junge, setzte sich ruckartig auf und stieß dem verdutzten Leitwolf seine Klinge Wandrokk tief in die Brust. Obwohl sein Schwert dem Wolf mitten durchs Herz gefahren war, fiel dieser nicht tot zu Boden, sondern bewegte sich zwei, drei Schritte seitwärts von Adalbert weg. Auf diese Weise zog er seinen schwarzen Körper selbst aus der Klinge heraus. Neben ihm formierten sich die vier anderen Wölfe und bildeten eine vernichtende Front gegen den riesigen weißen Wolf. Aber der Retter stellte sich ihnen furchtlos entgegen und wartete todesmutig auf ihren Angriff.
Doch dieser kam nicht, denn plötzlich schwirrten unzählige Pfeile durch die Luft und bohrten sich in die Körper der dunkelgrauen und pechschwarzen Wölfe. Mit schrecklichem Geheul drehten diese sich plötzlich um, als wenn sie von irgendjemandem ein heimliches Zeichen bekommen hätten, und rannten so schnell, wie es sonst nur unverletzte Tiere können, in den nahen Wald.
Rasch drehte sich Adalbert zu Jordill um und erkannte, dass der Elf noch lebte und sich gerade wackelig vom Boden erhob. Dann sah er zu ihrem Lebensretter, dem weißen Wolf, der von zwei Pfeilen getroffen, am Boden lag und sich nicht mehr bewegte. Rasch hielt er nach Tork Ausschau, aber er konnte den Keiler nirgends entdecken.
„Tork ist tot“, hörte er Jordills traurige Stimme, die krampfhaft nach Luft und Fassung zu ringen schien.
Tot? Das konnte doch nicht wahr sein!
„Sarkaroll sut ragosdnith“, erklang hinter einem Busch eine tiefe Stimme.
„Auch ich grüße euch und danke für die Rettung in höchster Not“, antwortete Jordill in der Menschensprache, damit sein Freund verstehen konnte, was gesprochen wurde.
Jetzt traten fünf riesige Männer aus einem der Büsche hervor und kamen direkt auf sie zu. Adalbert vermutete sofort, dass es sich bei diesen fünf vermummten Gestalten um die geheimnisvollen Kapuzenmänner handeln musste, von denen ihm schon die kleine Birgit an der Drachenschule erzählt hatte.
In einem Abstand von knapp drei Mannslängen blieben sie unerwartet stehen und der Anführer sagte leise wieder etwas in der Elfensprache.
„Er bittet uns, uns zuerst um unseren Freund Tork zu kümmern. Ihre Gegenwart sei nicht so wichtig wie die Trauer um die Toten“, übersetzte Jordill, wobei er sich erneut mit dem Handrücken über die Wange strich, um sich eine weitere grünliche Träne wegzuwischen.
Adalbert wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Einerseits wollte er natürlich zuerst nach Tork schauen, obwohl er sich vor dem fürchtete, was er wohl zu sehen bekommen würde. Andererseits waren da diese seltsamen Männer, die ihre Gesichter so tief in den großen Kapuzen verbargen, dass er außer einem dunklen, undefinierbaren Schatten nichts erkennen konnte. Selbst die Hände steckten in Handschuhen. Nicht zuletzt gab es auch noch den riesigen weißen Wolf, der bestimmt doppelt so groß war wie sein treuer Hofhund Moritz. Warum hatte er ihnen wohl geholfen? War das vielleicht sogar der Wolf, der in der vorletzten Nacht an ihrem Lager gewesen war?
Ohne diese Fragen beantworten zu können, ging er zu seinem Elfenfreund, der einige Schritte entfernt reglos vor einem völlig zerfetzten Körper stand. Überall um sie herum waren grässliche Fleisch- und Fellstücke verteilt und unglaublich viel Blut verspritzt. Das Blut ihres treuen Freundes Tork.
„Dieses Ende hatte mein Onkel nicht verdient“, klagte Jordill leise, als er sich zu dem toten Körper hinabbeugte und eine Stelle zärtlich streichelte, die vielleicht einmal der Kopf des Ebers gewesen sein mochte. Nun rannen auch Adalbert die Tränen unkontrolliert aus den Augen. Schon wieder wurde er mit dem Tod eines lieben Freundes konfrontiert.
„Wir werden diese bestialischen Ungeheuer jagen, bis wir jedes einzelne von ihnen zur Strecke gebracht haben!“, zischte er wütend zwischen seinen Zähnen hindurch.
„Das werden wir nicht tun, mein Freund. Erstens haben wir für diese Rache im Moment keine Zeit und zweitens können wir die Narsokk-Wölfe nicht töten. Hast du nicht gesehen, dass sie trotz der vielen Pfeilwunden nicht bluteten?“
Adalbert nickte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, was er bereits vorher im Unterbewusstsein wahrgenommen hatte, ohne es tatsächlich zu realisieren. Diese Bestien hatten weder geblutet noch waren sie ihren tödlichen Verletzungen erlegen. Lediglich Schmerzen schienen sie zu empfinden.
„Wie kann das sein?“, fragte er verwundert.
„Die Narsokk-Wölfe sind keine lebenden Wesen. Das siehst du auch an ihren seltsamen Augen. Sie wurden schon vor Hunderten von Jahren von dem schwarzen Druiden Rettfill gezüchtet, um Angst und Schrecken über dem Land zu verbreiten. In der Elfensprache bedeutet das Wort narsokk ungefähr so viel wie blutleer. Den Grund für diesen Namen hast du heute selbst erkannt.“
Als Adalbert sah, wie liebevoll Jordill den Kadaver streichelte, musste er daran denken, wie oft der Elf frech über den Keiler hinweggesprungen war oder Rad schlagend über seinem Kopf geturnt hatte. Bei diesen Gedanken liefen die nächsten Tränen aus seinen Augen, doch er schämte sich nicht dafür.
„Wenn wir Tork schnell in den Elfenwald bringen, kann er dann die nächste Wandlung vollziehen?“, fragte Adalbert mit einem schwachen Hoffnungsschimmer in seiner Stimme.
„Nein, das geht nicht. Die Narsokks haben von ihm nichts übrig gelassen, das noch zu retten wäre. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihn hier so liegen zu lassen.“
„Das können wir nicht tun! Wir müssen unseren Freund doch wenigstens begraben“, entgegnete Adalbert entsetzt.
„Wie sollen wir das machen? Der Boden ist so hart gefroren, dass wir kein Grab für ihn ausheben können. Wir werden Tork unter ein paar Steinen begraben und ihn erst einmal hier liegen lassen müssen. Erst wenn wir die Drachenlady Murwirtha gefunden haben, können wir ihn zum Nasli Karillh mitnehmen“, war Jordills traurige Erklärung, die Adalbert zu gut verstand, auch wenn er überhaupt nicht damit einverstanden war.
In diesem Augenblick trat der Anführer der Kapuzenmänner ein paar Schritte auf sie zu und flüsterte erneut ein paar leise Worte zu Jordill. Auch jetzt konnte Adalbert keinen klaren Blick auf das Gesicht des riesigen Mannes erhaschen.
„Sie mögen es nicht, wenn man sie so direkt ansieht“, warnte Jordill seinen Freund, der diesen Hinweis sofort verstand und seine Neugier zügelte. Irgendwann würde er das Gesicht des Fremden schon noch zu sehen bekommen, davon war er überzeugt.
„Der Anführer der fünf Estrilljahner, wie wir Elfen die Kapuzenmänner nennen, hat mich gebeten, dass sie sich um Tork kümmern dürfen. Sie wollen dafür sorgen, dass seine Überreste zum Elfenwald gebracht werden. Außerdem folgen sie bereits seit mehreren Tagen den Spuren der Narsokk-Wölfe, um sie zu erlegen.“
„Aber wie wollen sie das machen, wenn die Wölfe trotz tödlicher Verletzungen nicht sterben?“
„Glaube mir, die Estrilljahner sind dafür bestens ausgerüstet!“, war die seltsame Antwort Jordills.
„Was sind denn Estrilljahner? Und was können sie schon gegen untote Wölfe ausrichten? Du hast doch selbst gesehen, dass sie mit ihren Pfeilen den Bestien nichts anhaben konnten“, murrte Adalbert.
„Nicht jetzt! Das erkläre ich dir später, wenn wir alleine sind. Der Anführer hat übrigens gesagt, dass der weiße Wolf noch lebt. Wir sollten uns bei ihm für seine Hilfe bedanken, bevor auch er stirbt.“
Adalbert war überrascht. Wie konnte der Wolf denn noch leben? War er etwa auch ein blutleeres Monster? Warum hatte er ihnen dann geholfen?
Schnell lief der Junge zu dem sterbenden Wolf. Seine Eile lag nicht nur daran, dass er sich um diesen unerwarteten Retter kümmern wollte, er musste auch unbedingt fort von diesem schrecklichen Schlachtfeld. Der Estrilljahner machte einen kleinen Schritt zur Seite und ließ Adalbert hindurch. Als er mit seiner Schulter gerade an dem verhüllten Anführer vorbei ging, bemerkte der Junge, wie dieser kurz seinen Kopf eine Winzigkeit anhob und seinen Körpergeruch hörbar einsog. Dabei konnte er einen flüchtigen Blick auf das Gesicht des Estrilljahners werfen, was er sofort bereute. Dieser winzige Moment hatte genügt, dass Adalbert die blass-graue, schuppige Haut des Mannes erkennen konnte. Die tiefliegenden Augen waren einfach nur pechschwarz, ohne Iris oder Pupillen, und machten auf ihn einen leblosen Eindruck, ähnlich wie bei den Narsokk-Wölfen. Und dann war da noch dieser seltsame Mund, der viel eher aussah, wie ein riesiger Raubvogelschnabel.
Adalbert fürchtete sich vor dem, was er gerade gesehen hatte und verstand nun Jordills Warnung, dass es die Estrilljahner nicht mochten, wenn man sie ansah. Schnell tat er so, als hätte er nichts gesehen, auch wenn er befürchtete, dass der Estrilljahner ihm das nicht abnehmen würde, und ging mit einem Gefühl der Angst weiter auf den weißen Wolf zu. Diesmal achtete er ganz bewusst darauf, die anderen Estrilljahner nicht anzusehen.
„Hallo, weißer Freund, warum hast du dein Leben riskiert, um uns zu retten?“, fragte er, als er sich vorsichtig zu dem Wolf hinunterkniete. Aus seinen Augenwinkeln konnte der Junge erkennen, wie die Estrilljahner einen Schritt auf ihn zugingen. Er vermutete, dass sie dies taten, um ihm notfalls beizustehen, falls der Wolf doch noch einmal die Kraft für einen letzten Angriff finden und diesen gegen ihn richten würde.
Daher hob er kurz die Hand und sagte, ohne zu ihnen hinüberzublicken, laut und deutlich, dass sie zurückbleiben sollten, da er keine Angst vor dem Wolf habe.
Als hätte er seine Worte verstanden, drehte der Wolf seinen Kopf zu ihm und schaute ihn an, als wenn er direkt in seine Seele blicken würde. Sofort erinnerte sich Adalbert an den schrecklichen und alles verändernden Tag, an dem der sterbende Drache Allturith seinen letzten Atemzug getan und seine Seele auf ihn übertragen hatte. Wieder kämpfte er mit den Tränen. Warum mussten bloß so viele der Lebewesen sterben, die er seit diesem Tag kennengelernt hatte?
Die Pfeile der Estrilljahner steckten tief in der Brust und in der Flanke des Wolfes. Das herausquellende warme Blut verfärbte das seidig weiße Fell und tropfte auf den kalten Boden, wo es sofort gefror.
Adalbert griff in seine Tasche und zog das kleine Fläschchen mit Merthurillhs Tränen hervor, aus denen die Waldelfen das geheimnisvolle Heilöl bereitet hatten, mit welchem er bereits seinen Elfenfreund Antharill zu retten versucht hatte, bevor dieser sich in den Hengst verwandelt hatte.
Er öffnete das Gefäß und stellte es vorsichtig so neben sich in den Schnee, dass es nicht umfallen konnte. Dann beugte er sich über den Wolf und flüsterte ihm ins Ohr: „Bleib ruhig, mein Schöner. Ich werde dir gleich die Pfeile aus deinem Körper ziehen und dich dann heilen. Den Tod von Tork konnte ich leider nicht verhindern, aber du wirst heute ganz sicher nicht sterben!“
Schnell, aber trotzdem möglichst behutsam, zog der Junge den Pfeil aus der blutverschmierten Brust heraus, warf ihn zur Seite und beobachtete den Wolf besorgt. Dieser hatte sich kaum bewegt. Nur das schmerzverzerrte Jaulen bewies, dass er noch immer lebte. Aus der offenen Wunde strömte das Blut, als ob es ein reißender Gebirgsbach wäre. Rasch griff Adalbert zu der kunstvoll verzierten Flasche und tröpfelte vorsichtig etwas von der heilenden Flüssigkeit in die Wunde. Es zischte so ähnlich, wie wenn Fett in die Glut eines Lagerfeuers tropfte. Sofort stiegen hellgraue Dämpfe aus der Verletzung empor. Nun wiederholte Adalbert die Prozedur auch beim zweiten Pfeil. Noch bevor er das Fläschchen wieder zugeschraubt hatte, begannen die ersten Wunden bereits, sich zu schließen. Jordill war inzwischen dazugekommen und hatte dem Wolf tröstend den Kopf gestreichelt. Als Adalbert den zweiten Pfeil herausgezogen hatte, presste der Elf seine Stirn an die des Wolfes, um ihm Kraft zu geben, damit er diese schmerzhafte Behandlung überstehen konnte.
„Morgen wirst du wieder laufen können, mein Freund“, tröstete er den Wolf, wobei er manchmal traurig zu den Überresten seines Onkels hinüber sah, als wenn dieser plötzlich, wie durch ein Wunder, wieder auferstehen könnte.
Adalbert konnte im Moment nichts mehr für die Wunden des Wolfes tun, rutschte zu Jordill heran und forderte den Elfen auf, doch wieder zu Tork zurückzugehen, um den Estrilljahnern dabei behilflich zu sein, die sterblichen Überreste für den Transport vorzubereiten.
„Ich werde dir gleich folgen, möchte mich aber zuvor noch bei unserem neuen Freund für seinen mutigen Rettungsversuch bedanken“, erklärte Adalbert und legte behutsam den großen Kopf des Wolfes in seinen Schoß.
Jordill führte ein leises Gespräch mit dem Anführer der Kapuzenmänner und kam dann noch einmal zu Adalbert zurück, um ihm zu berichten, was der Estrilljahner ihm gesagt hatte.
„Es tut dem Anführer wirklich leid, dass sie den weißen Wolf getroffen haben. Sie wussten nicht, in welcher Verbindung er zu uns stand. Außerdem stand er mitten in der Schusslinie zu den Narsokk-Wölfen. Der Estrilljahner nannte mir seinen Namen und bat mich, dass ich ihn dir sagen sollte“, begann Jordill, bevor er von Adalbert ungeduldig unterbrochen wurde.
„Sag schon, wie heißt er und warum nennt er mir seinen Namen denn nicht selbst?“, fragte Adalbert, der nun wieder vorsichtig zu dem Fremden sah.
„Sie sprechen nicht gerne mit Menschen oder Zwergen, denn in der Vergangenheit haben sie sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Besonders die Menschen haben sie wegen ihres Aussehens stets wie Aussätzige behandelt und verspottet. Das führte dazu, dass sie ihr Antlitz vor euch stets verbergen und nur sprechen, wenn es unbedingt notwendig ist“, erklärte der Elf.
„Na da bin ich ja wirklich froh, dass es diesmal nicht nur wir Menschen sind, die alleine für alles Schlechte verantwortlich sind, sondern dass es auch mal die Zwerge trifft“, erwiderte Adalbert leicht gereizt.
Schon seit vielen Tagen beschäftigte ihn der Gedanke, dass die Menschen wohl noch nicht viel Gutes für das Drachenland geleistet hatten. Ganz im Gegenteil, er hatte das Gefühl, dass sein eigenes Volk eigentlich mehr dazu beigetragen hatte, das harmonische Leben in seiner Heimat zu erschweren oder gar völlig zu zerstören. Wie schön musste die Zeit gewesen sein, von der Merthurillh ihm erzählt hatte, als es Frieden zwischen den verschiedenen Völkern des Drachenlandes gegeben hatte und die Drachen sogar die Höfe der Bauern bewacht hatten.
„Sein Name ist Sardornosh. Es ist ein elfischer Name, denn die Estrilljahner sind ferne Verwandte von uns“, riss ihn Jordill aus seinen Gedanken heraus. „Sardornosh bedeutet Adlerblick. Die Estrilljahner sind Meister der Magie, daher haben sie sich auch vor vielen Generationen von uns losgesagt, denn ihre Magie ging viel weiter, als wir es der unsrigen erlaubt hätten. Wir haben schon immer darauf geachtet, dass die Magie nur zum Wohl und nie zum Schaden der Natur und aller Lebewesen eingesetzt wurde. Doch dieses Elfenvolk war damit nicht einverstanden. Sie waren damals der Meinung, dass böse, dunkle Magie zu guter werden würde, wenn sie gegen die Feinde der Elfen eingesetzt würde. Da wir das jedoch niemals zugelassen hätten, kam es zur Trennung unserer Völker. Aus ihnen gründete sich im Laufe der folgenden Generationen das Volk der Estrilljahner. Mehr möchte ich dir jetzt nicht erzählen. Wir werden einen geeigneteren Zeitpunkt finden, um unser Gespräch zu vertiefen.“
„Du klingst schon fast wie der weise und erfahrene Antharill“, stellte Adalbert fest.
„Danke für das Kompliment, aber jetzt werde ich endlich zu Tork gehen, zumindest zu dem, was die Narsokk-Wölfe von ihm übrig gelassen haben.“
Noch immer streichelte Adalbert liebevoll den großen Kopf des weißen Wolfes und sah seinem trauernden Freund hinterher. Plötzlich registrierte er, dass die Estrilljahner nicht mehr da waren. Gerade eben noch hatten sie dort drüben gestanden und jetzt waren sie wie vom Erdboden verschwunden. Das konnte nur Magie sein, wobei sich Adalbert darüber Gedanken machte, ob es gute oder schlechte Magie war, die dieses Volk plötzlich unsichtbar machen konnte. Irgendwie zog ihn diese geheime Kraft geradezu magisch an.
Tief in seiner Brust spürte er, dass er sich mit etwas beschäftigte, mit dem er sich eigentlich nicht befassen durfte, aber dieser ungeheuren Anziehungskraft konnte er sich kaum widersetzen. Es kam ihm vor, als ob er sich gerade auf einen See begeben hätte, dessen Oberfläche sich erst vor kurzem in eine Eisfläche verwandelt hatte. Jeden Moment konnte das junge Eis unter seiner Last brechen und ihn in die eisige Kälte der Tiefe reißen, aus der es keine Rettung mehr gab.
„Steh auf, mein weißer Wolf. Mehr kann ich im Moment nicht mehr für dich tun. Aber wenn du irgendwann einmal in Gefahr gerätst, dann wünsche ich mir, dass ich es sein darf, der dir zur Hilfe kommt.“
Adalbert kraulte dem Wolf das Kinn und fasste ihm in sein dichtes Kragenfell, als dieser mit zittrigen Beinen versuchte, aufzustehen. Als Adalbert nun zu Jordill ging, folgte ihm der Wolf wackelig auf dem Fuß.
„Die Estrilljahner haben Tork mitgenommen“, sagte Jordill und klang irgendwie erleichtert. Adalbert sah sich um und stellte fest, dass er nur noch das gefrorene Blut entdecken konnte. Die anderen sterblichen Überreste waren alle verschwunden.
„Wie haben sie das denn bloß gemacht?“, wunderte sich der Junge.
„Mit Magie, der Form, die wir nicht anwenden, denn sie kann den Sprecher der geheimen Formel schnell zu einem Sklaven des Bösen machen. Trotzdem bin ich froh, dass mir die Aufgabe erspart geblieben ist, Tork … für den Transport … vorzubereiten. Ich möchte ihn lieber so in Erinnerung behalten, wie er war, bevor … vor heute.“
„Lass mich bitte die Wunde an deinem Hals ansehen, denn sie blutet noch immer“, bat Adalbert seinen Freund, um ihn etwas abzulenken. Wieder waren nur wenige Tropfen aus dem geheimnisvollen Fläschchen nötig, um die blutenden Wunden des Elfen zu schließen. Doch bei Jordill zischte es nicht und es stiegen auch keine grauen Wölkchen empor.






