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Shiva musste seinen Abwehrschirm aktiviert haben, sonst wäre er schon längst tot gewesen. Doch das bläuliche Schimmern um den bewegungslosen Körper des Schurken zeigte, dass etwas nicht stimmte.
Deadlysorc: Shiva wurde von einer Frostaura getroffen. Einer der Trolle muss Magier sein.
Hard2drive: Schon klar. Da hinten zwischen den Pinien sehe ich das Bürschchen.
Etwa fünfzig Meter rechts von ihnen stand ein großer Troll mit einer schwarzen Robe und einem violetten Umhang bekleidet, während seine Artgenossen nur braune, speckige Lederhosen und Wämser trugen.
Das war der Magier. Er starrte Shiva unentwegt an und rührte sich nicht.
Hard2drive: Livingdead, dein Auftritt! Schick deine magersüchtigen Freunde zu dem Bürschchen rüber. Und du, Sorc, heiz' den übrigen Typen ein bisschen ein!
Plötzlich schien die Erde zu beben und zu brodeln. Aus immer breiter werdenden Rissen zu Füßen der Gildenmitglieder erhoben sich wie aus Gräbern fünf Skelette und schritten mit Messern bewaffnet auf den Magiertroll zu. Donnergott schloss sich ihnen an.
Währenddessen ergoss sich ein Regen aus glühender Lava auf die fünf Trolle, die auf Shiva einschlugen. Erschreckt versuchten sie, zu fliehen. Der Paladin stürmte zwischen sie und schlug zweien von ihnen die Köpfe ab. Die Übrigen machten sich Richtung Dorf davon.
Inzwischen hatten die Skelette den Trollmagier erreicht. Diesem gelang es, mit dem Schwert zwei der Gerippe zu zerschlagen, doch dann wurde er von Donnergotts Keule mit einem einzigen Hieb ins Jenseits befördert.
Shiva-Warrior hatte sich aus seiner Erstarrung gelöst und torkelte benommen auf seine Gefährten zu. Ohne Wisemans Heilungszauber hätte er den heimtückischen Überfall der Trolle nicht überlebt.
In der Ferne war zu erkennen, dass sich etwa sechzig Trolle im Dorf um das Lagerfeuer versammelt hatten und die Kämpfer mit lautem Heulen und Kreischen erwarteten.
Hard2drive: Also los! Showtime, Freunde! Sorc, mach sie fertig! Alles Weitere erledigen wir.
Der Himmel über dem Dorf verdunkelte sich und ein tosender Sturm entlud sich über den Köpfen der Ungeheuer. Ein Feuerregen prasselte auf sie herab. Im Nu brannten die Hütten nieder. In Panik versuchten die Trolle zu entkommen, sofern sie nicht lebendigen Leibes verbrannten.
Doch nun setzten sich die Gildenmitglieder in Begleitung von zwanzig Skelettkriegern in Bewegung, um den Feind endgültig zu vernichten. Minuten später war das Gemetzel vorbei.
Nicht nur die Waffen der Gildenmitglieder waren danach blutbesudelt, sondern auch deren Rüstungen und die Kleidung. Die Quest war beendet.
Um Hard2drives Rüstung bildete sich eine gleißende, goldgelbe Aureole als Zeichen dafür, dass er das nächste Level erreicht hatte – Level fünfundneunzig. Zufrieden stieß er das blutige Schwert in den Boden.
Die Schatztruhe mit den verzauberten Gegenständen fanden sie in der niedergebrannten Hütte des Magiertrolls. Für jeden Spielcharakter war ein passendes Item dabei.
Deadlysorc bekam einen Ring, durch dessen Zauberkraft Feinde die Orientierung verloren und hilflos umherirrten. Donnergott erhielt ein Amulett, das ihn für zehn Sekunden unsichtbar machte. Wiseman passte ein Paar Stiefel, mit dem er doppelt so schnell laufen konnte wie gewöhnlich. Livingdead nahm sich einen Umhang, der ihn vor Fernangriffen mit Pfeilen und Speeren schützte. Für Shiva-Warrior erwies sich ein Wams als geeignet, das die Angriffsgeschwindigkeit des Schurken verdoppelte.
Schließlich blieb ein schwerer, edelsteinbesetzter schwarzer Armreif aus einem unbekannten Metall übrig. Die Gefährten betrachteten ehrfürchtig den seltsamen Gegenstand.
Donnergott: Da ist was eingraviert. Was steht da?
Wiseman: Es ist schwer zu entziffern. Die eingravierte Schrift ist ziemlich verschnörkelt und fast verblasst. Aber … Augenblick. Gleich hab ich's! Da steht: Armreif des schwarzen Schattenmagiers.
Livingdead: Wer ist denn der schwarze Schattenmagier?
Hard2drive: Völlig egal, wer der Kerl ist oder war. Jetzt gehört das Ding mir.
Damit nahm der Paladin Wiseman den Armreif aus der Hand und streifte ihn sich übers Handgelenk.
Donnergott: Was kann das Teil denn?
Deadlysorc: Ja, genau. Welche Eigenschaften hat es? Feuerzauber? Blitze? Naturzauber?
Wiseman: Oder gibt das Item einen Schutzzauber?
Hard2drive betrachtete den Armreif nachdenklich und schüttelte den Kopf. Keine Ahnung. Aber ich werde schon rauskriegen, was damit los ist.
Die Gruppe säuberte ihre Waffen und machte sich bereit für den Abmarsch.
Hard2drive: So, Feierabend für heute. Ich muss jetzt weg und noch ein paar Videos zurückbringen. Macht's gut, Leute.
Sie verabschiedeten sich voneinander.
Save game und Log-out.
Henrik Wanker fühlte sich todmüde. Ihm war übel – vermutlich von der zu hastig verschlungenen Pizza. Und Kopfschmerzen hatte er auch. Er ging ins Bad, um sich vielleicht doch die Zähne zu putzen und den schlechten Geschmack loszuwerden.
Als er in den Spiegel sah, stieß er ein erstauntes Hä? hervor. An seiner linken Wange klebte ein dünner Streifen angetrockneten Blutes. Hatte er sich beim Rasieren geschnitten? Doch ihm fiel ein, dass er das schon seit zwei Tagen nicht mehr getan hatte. Er wischte sich das Zeug aus dem Gesicht. Da zeigte sich, dass die Haut darunter unversehrt war. Es handelte sich also eindeutig nicht um sein eigenes Blut. Aber wo sollte es sonst hergekommen sein? Seltsam.
Doch dann wurde Henrik vollends von seiner Erschöpfung überwältigt, sodass er die Sache schnell wieder vergaß. Wie er war, noch in Jeans und T-Shirt, torkelte er in sein ungemachtes Bett und schlief auf der Stelle ein.
2 | Der geheimnisvolle Fremde
Am anderen Morgen schlief Henrik Wanker erst mal richtig aus. Er wurde am Samstag dem zwölften Juni, elf Uhr dreißig, von der herrlichen Frühlingssonne geweckt, die in sein Schlafzimmer schien.
Nicht nur wegen des fabelhaften Wetters war er gut gelaunt, sondern weil er sich heute die neue Grafikkarte für seinen Computer kaufen wollte. Die Bildqualität von KoF würde sich deutlich verbessern und das Spiel noch mehr Spaß machen.
Vor zwei Jahren hatte sich Henrik einen neuen Computer angeschafft. In Anbetracht des Fortschreitens der technischen Entwicklung entsprach dieser Zeitraum einer kleinen Ewigkeit. Er hatte damals das Geld dafür seiner Mutter abknöpfen können, weil er ihr vorgeschwindelt hatte, dass er den PC für ein Fernstudium brauche.
In Wahrheit hatte sich seine Mutter nie richtig dafür interessiert, welche Leistungen und Noten Henrik in der Schule erzielte. Hauptsache, sie wurde nicht durch irgendwelche blauen Briefe, die ins Haus flatterten, oder durch sonstigen Ärger belästigt. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass seine Mutter jemals einen Elternsprechtag wahrgenommen hatte. Es war ihr nicht nötig erschienen, weil sie die Ansicht vertrat, dass Lernen Henriks Angelegenheit sei und nicht die ihre. Außerdem habe sie viel zu wenig Zeit für so blödes Gequatsche wie: Wo soll der nächste Schulausflug hingehen und wer kann beim nächsten Martinslaternen-Basteln helfen? Dafür sei ihr die Zeit zu kostbar, hatte sie behauptet.
Womit seine Mutter jedoch damals ihre Tage verbracht hatte, wusste Henrik bis heute nicht. Auf seine Nachfragen hatte sie nur geantwortet, dass sie geschäftlich auf Reisen sei und er sowieso nicht verstünde, was sie Bedeutungsvolles zu erledigen habe. Später beschränkte sie sich darauf, ihn von oben herab anzufahren, dass es ihn nichts anginge, was sie mache. Er solle lieber froh sein, dass er Geld von ihr zugesteckt bekomme. Also hörte er auf, Fragen zu stellen.
Er hatte die Gesamtschule als kaum mittelmäßiger Schüler durchlaufen, sich aber dennoch dazu entschlossen, das Abitur zu machen. Nicht etwa, weil ihn der Ehrgeiz gepackt hatte, sondern weil sein Eintritt ins Arbeitsleben dadurch um drei Jahre aufgeschoben wurde.
Vom Wehrdienst war er verschont geblieben, weil er extrem kurzsichtig war und Senkfüße hatte.
Mit neunzehn Jahren machte Henrik sein Abitur mit einem Notendurchschnitt von drei Komma vier. Damit war klar, dass eine glanzvolle Karriere als Arzt oder Anwalt schwierig sein würde, und er selbst bezweifelte, mit Afrikanistik oder dem Studium marokkanischer Volkstänze rasch viel Geld verdienen zu können.
Sein Vorschlag, daher erst mal ein oder zwei Jährchen zu Hause in Ruhe darüber nachzudenken, wie er seine sicher glanzvolle Karriere starten solle, stieß bei der Mutter auf wenig Gegenliebe. Vielmehr handelte sie kurz entschlossen. Sie schickte ihn zu einem Bewerbungsgespräch zu Herrn Krause, dem Filialleiter eines Discounters in der Vorstadt. Krause stellte ihn ohne Begeisterung, aber auch ohne großes Interesse für seine Schulzeugnisse als Auszubildenden zum Einzelhandelskaufmann ein. »Sozusagen aus alter Freundschaft zu deiner Mutter«, wie er mit eigenartiger Betonung auf dem Wort Freundschaft und einem anzüglichen Grinsen abschließend sagte.
Die zweite Entscheidung, die seine Mutter für ihn traf, war, dass Henrik bei ihr auszuziehen habe. Sie hatte ihm ein Appartement am anderen Ende der Stadt angemietet. Bis zur Beendigung seiner zweijährigen Ausbildung werde sie die Miete zahlen, hatte sie versprochen, danach sei er selbst an der Reihe. Es sei an der Zeit, dass er lerne, auf eigenen Füßen zu stehen. Außerdem sei das bescheidene Reihenhaus mittlerweile zu klein geworden für Mutter und Sohn. Sie sei eine Frau in den besten Jahren und brauche Raum für ihre persönliche Entfaltung.
Das mit der eigenen Wohnung empfand Henrik als gute Idee, den Job im Discounter eher weniger. Er sah aber auch den Vorteil, der darin lag, bald eigenes Geld verdienen zu können. Der Gesellschaft seiner Mutter weinte er keine Träne nach.
Wie sich bald herausstellte, war es mit dem großen Geldverdienen im eigenen Job allerdings nicht weit her. Nachdem Henrik seine Lehre beendet hatte und von Herrn Krause sogar übernommen wurde – aus alter Freundschaft zur Mutter, versteht sich – bekam er gerade mal neunhundertfünfzig Euro ausbezahlt.
Dreihundertfünfzig Euro betrug allein die Miete, die er ja von Stund an selber bestreiten musste. Dazu kamen Strom, Wasser, Telefon und so weiter. Mit dem Rest, der ihm blieb, kam er hinten und vorn nicht zurecht. Henrik Wanker war immer knapp bei Kasse.
Die Mutter steckte ihm zwar zwischendurch mal ein paar Euro zu, wenn er ihr genügend lange etwas vorjammerte, doch es reichte nie aus. Dies lag natürlich auch an seinem Lebensstil.
Ab und zu ging er zum Beispiel zur Rennbahn, und wenn er einen heißen Tipp von einem der Stalljungen bekam, wurde auch mal der eine oder andere Fuffi gesetzt. Scheiß Gäule! Aber was sollte es? Man lebt nur einmal – dafür aber mit Klasse!
Zwischendurch brauchte Henrik auch schon mal Bares, um mit seinen Freundinnen in der Kit-Kat-Bar zu feiern. Er war dort ein gern gesehener Gast und die billigste Flasche Schampus kostete in diesem Lokal hundertzwanzig Euro. Das musste man schon investieren, wenn eine der Schlampen lieb zu ihm sein sollte.
Heute nun war wieder mal Zahltag! Gut gelaunt pfeifend eilte Henrik in die Stadt, schnurstracks zu Billie, dem Pfandleiher. Er war dort Stammkunde. Immer mal wieder brachte er ihm ein paar Löffel aus Mutters Silberbesteck, eine alte Uhr oder Manschettenknöpfe, die noch von seinem Vater stammten. Das Zeug lag in irgendwelchen Schubladen oder auf dem Dachboden rum. Die Alte würde den Trödelkram sowieso nicht vermissen. Heute hatte er etwas ganz Besonderes zu verpfänden. Das würde ihn auf einen Schlag flüssig machen.
Henrik war vor dem Laden des Pfandleihers angekommen. Durch das mit einem Stahlgitter gesicherte Schaufenster lugte er in den Raum hinein.
Billie saß hinter seinem Tresen und überprüfte irgendwelche Listen, die vor ihm ausgebreitet lagen.
Beschwingt öffnete Henrik die Ladentür, die jeden Eintretenden mit einem lauten Klingelton ankündigte.
»Ach nee! Mein bester Kunde«, murmelte Billie mit einem kurzen Blick auf den Besucher. Er kniff das linke Auge halb zu, als er Henrik über die randlose Lesebrille hinweg anschaute, die tief auf seinem Nasenrücken saß. Sein linker Mundwinkel hing dabei leicht abschätzig herab.
Billies Alter war schwer zu schätzen, es lag irgendwo zwischen Mitte vierzig und sechzig. Sein Schädel war bis auf ein paar graue Haarstoppeln kahl. Der Körper wirkte dagegen wegen seiner muskulösen Arme und dem ausladenden Brustkorb auffallend durchtrainiert. Die etwas abgeplattete Nase ließ den Verdacht aufkommen, dass er früher mal geboxt hatte.
Nachdem Billie Henrik offenbar genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte, brütete er weiter über seinen Papieren.
»Hi, Billie, ich hab’ heute was ganz Wertvolles für dich.« Henrik kramte in der Innentasche seine Cordjacke herum und legte dann vorsichtig einen in Zeitungspapier gewickelten Gegenstand auf den Tresen.
Billie schielte gelangweilt herüber. »Na und? Pack’s aus und mach’s nicht so spannend.«
Henrik nickte und wickelte mit fahrigen Händen das Papier ab. Zum Vorschein kam ein breiter, goldener Armreif. Erwartungsvoll hielt er dem Pfandleiher das Schmuckstück hin.
Der nahm es entgegen, schaute es von allen Seiten an und drehte es mehrfach prüfend um. »Nicht schlecht. Wo hast du das Teil her?« Misstrauisch sah er Henrik in die Augen.
Dem standen feine Schweißperlen auf der Oberlippe und er zwinkerte nervös. »Äh … das ist … ein Erbstück … von meiner Mutter«, sagte er stotternd.
»So, so. Ein Erbstück.« Billie zog ein Vergrößerungsglas unter dem Tresen hervor und betrachtete den Reif noch eingehender. »Zur Hochzeit meinem geliebten Schatz Sarah …«, las er langsam vor.
»Hä?«, meinte Henrik.
»Na, das steht da, du Einfaltspinsel! Zur Hochzeit. Ein Geschenk deines Vaters an deine Mutter.« Billie schüttelte missbilligend den Kopf. »Und was sagt dein Vater dazu, dass du das Ding verscherbelst?«
»Äh … der ist auch tot. Ganz tragische Geschichte. Autounfall …, äh … dunkel und nasse Straße. Mein Vater wurde geblendet von der Sonne und kam – zack! – von der Straße ab.« Dabei machte Henrik mit der linken Hand eine entsprechende Bewegung, um den dramatischen Ablauf des Unfalles zu verdeutlichen.
»Es war dunkel und dein Vater wurde von der Sonne geblendet.« Mit offenem Mund starrte der Pfandleiher Henrik an.
»Nein, nein, nein! Ich meinte, er wurde vom Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden LKW geblendet. Ja, genau so war’s.« Dabei nickte Henrik hastig zur Bekräftigung. Schweißränder zeigten sich unter den Achseln seines T-Shirts.
»So, so. In der Tat gaaanz tragisch«, meinte Billie und betrachtete erneut den Armreif.
Henrik gestattete sich ein erleichtertes Aufatmen und faselte: »Ja, es war eine schwere Zeit für mich, als ich mit zehn Jahren ins Waisenhaus musste, ganz allein, keine Verwandten.« Er schniefte gerührt und strich sich eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel. »Jeden Tag bekamen wir mittags Kohlsuppe. Nur am Sonntag gab es zusätzlich Tofuwurst und als Nachtisch ungezuckerten Grießbrei.«
Billie hörte schweigend zu. Er saß da, in der einen Hand den Armreif, mit der anderen stützte er sein Kinn ab und blickte Henrik unverwandt an. Es wurde mucksmäuschenstill. Nur das Ticken der antiken Standuhr in der Ecke war zu hören.
Nach einer Weile stand der Pfandleiher auf. »Na schön«, seufzte er, ging zu der altmodischen Registrierkasse, entnahm ihr einen Geldschein und reichte ihn Henrik. »Hier hast du zwanzig Euro.«
Fassungslos starrte Henrik den Pfandleiher an.
»Na, nimm schon, Kleiner. Eine Quittung brauchst du ja wohl nicht.« Billie wedelte mit dem Geldschein vor Henriks Nase herum.
»Hä? Das ist doch wohl nicht dein Ernst? Meine Mutter sagt, das Ding ist locker dreihundert Mäuse wert.« Henriks Gesicht war nun vor Wut puterrot angelaufen.
»Wer hat was gesagt?«, fragte Billie lauernd.
»Äh, ich meine natürlich meine Stiefmutter. Ja, die Stiefmutter, die mich mit neun Jahren aus dem Waisenhaus adoptiert hat.«
»So, jetzt reicht es mir, Bürschchen.« Drohend baute sich Billie vor Henrik auf. Mit dem Zeigefinger tippte er auf dessen schwammigen Brustkorb. »Du nimmst jetzt das Geld und machst dich aus dem Staub, oder du nimmst den Armreif zurück und machst dasselbe. Ich will dich auf jeden Fall nie mehr in meinem Geschäft sehen. Und jetzt: Zieh Leine!«
Henrik glotzte verdutzt abwechselnd auf Geldschein und Schmuckstück. Dann griff er nach dem Armreif, steckte ihn hastig wieder in seine Jacke und schrie den Pfandleiher an: »Das wird dir noch leid tun, du dummer Wichser! Wir sprechen uns.«
Als Billie einen schnellen Schritt auf ihn zu machte, drehte Henrik sich erschrocken um, riss die Tür auf und flüchtete aus dem Laden. Von draußen bedachte er den Pfandleiher mit dem Stinkefinger, dann rannte er um die nächste Hausecke. Mit Wuttränen in den Augen machte er sich auf den Weg nach Hause. Unterwegs rempelte er eine alte Frau an, die mit ihrem Dackel spazieren ging.
»Pass doch auf, du dumme Schachtel!«, giftete er sie an, worauf ihn der Hund wütend ankläffte.
»Schnauze, du Flasche!«, schrie er, hastete weiter, böse vor sich hinfluchend und mehrmals auf die Straße spuckend.
Erst daheim beruhigte er sich langsam wieder und schmierte sich ein paar Brote mit Erdnussbutter als Trostspender. Noch mit Tränen in den Augen setzte er sich an seinen Computer.
Hard2drive ritt durch den Wald von Sleepysoul. Er wollte allein sein und ohne seine Gilde durch die Fantasywelt reisen, um seine Enttäuschung zu verarbeiten. Vielleicht bekam er Gelegenheit, ein paar Gnome oder Trolle zu zerhäckseln. Auf jeden Fall musste irgendwer für die Demütigung büßen, die er bei diesem verlausten Pfandleiher erlitten hatte.
Obwohl im Real Life Frühling war, umgab den Krieger hier ein bunter Herbstwald. Pausenlos fielen Blätter von den Buchen und Eichen um ihn herum. Der Waldweg war bedeckt von einem dichten Laubteppich. Das Gebiet, das er gerade durchquerte, hatte Hard2drive zuvor noch nicht erforscht.
Das Geniale an Kingdom of Fantasy war die revolutionäre eternity-at-random-Technik oder kurz ear. Es bedeutete, der Spieler erreichte nie das Ende der virtuellen Spielewelt, weil es kein Ende gab. Der Computer generierte immer aufs Neue Landstriche und Zauberwelten.
Es gab einige Spieler, die lediglich weiter und weiter reisten, dadurch ständig Länder, Meere, Berge und Kontinente erschufen und sich an den immer neuen Anblicken und Entdeckungen berauschten. Sie lösten gar keine Quests mehr und gingen Kämpfen aus dem Weg, um ja nicht von ihrer schöpferischen Arbeit, eine neue Welt zu erschaffen, abgelenkt zu werden.
Viele von ihnen waren schon so weit gereist, dass sie den Weg zurück in ihr Ausgangsgebiet nicht mehr finden würden, selbst wenn sie es wollten. Ab und zu meldeten sich diese Forscher und Entdecker über den Chatmodus und berichteten über erstaunliche Völker, Tiere und Pflanzen, die ihnen auf ihrer ewigen Odyssee begegneten.
Mit diesen Leuten, die in Henriks Augen Spinner waren, hatte er nichts gemeinsam. Sein Bestreben war es, immer stärker und mächtiger zu werden, um es mit jedem Gegner aufnehmen zu können. Dafür durchspielte er eine Quest nach der anderen, um mächtige und einzigartige Gegenstände zu finden, die ihn im Kampf unbesiegbar machten.
Hard2drive erreichte soeben ein Dorf, das in einer breiten Waldlichtung lag und von einem Flusslauf durchzogen wurde. Die Bewohner waren freundlich gesinnt und gehörten der Rasse der Elben an: hochgewachsene, edle Geschöpfe mit langen, wallenden Haaren und bunten, weiten Gewändern, die vorwiegend Ackerbau und Viehzucht betrieben.
Die Welt des Kingdom of Fantasy befand sich etwa auf dem Entwicklungsstand des Mittelalters. Es gab keine Industrie, keine Fabriken. Die Bevölkerung lebte vorwiegend in Dorfgemeinschaften. Regiert wurde das Land von Fürsten. Sie hausten in Burgen oder Festungen, die sich in der Nähe von Siedlungen befanden. Die Herrscher waren vor allem Spieler, die sich ihre Position in langen, erbitterten Kämpfen erstritten hatten. Daneben gab es aber auch viele sogenannte Gilden oder Bruderschaften, wobei es sich letztendlich um herumvagabundierende Banden von Kämpfern und Banditen handelte. Sie erfüllten ihre Quests, indem sie plünderten oder im Auftrag der Fürsten in die Schlacht zogen.
Vor einem Gasthof hielt Hard2drive an und stieg vom Pferd. Ein Stallbursche kümmerte sich um das Tier, während der Paladin den Gasthof betrat. Die meisten Gäste an den Tischen und an der Theke waren wie der Wirt und das Schankpersonal Computercharaktere. Sie konnten nicht aktiv am Spiel teilnehmen, sondern auf Anforderung immer nur die gleichen Handlungen ausführen, zum Beispiel Nahrungsmittel und Waren verkaufen. Andere erteilten Auskünfte zur aktuellen Quest oder lieferten Wegbeschreibungen zu Personen oder Ortschaften, die ein Spieler suchte.
Lediglich ganz hinten, am letzten Tisch, saß neben dem lodernden Kaminfeuer ein weiterer Spieler. Es handelte sich um einen Druiden im sechzigsten Level, der interessiert zu Hard2drive herübersah.
Druiden hatten die Fähigkeit, sich in Tiere zu verwandeln, zum Beispiel in Wölfe, Bären oder Adler und nahmen im Kampf deren Eigenschaften an. Weiterhin waren sie hervorragende Fallensteller, in deren Hinterhalt schon so mancher Feind elendiglich verendet war. In einer Gilde wurden sie vorwiegend als Kundschafter eingesetzt, da sie in Tiergestalt enorm schnell und ausdauernd waren und weite Strecken in kurzer Zeit zurücklegen konnten.
Der Druide winkte Hard2drive freundlich zu und gab ihm ein Zeichen, dass er sich zu ihm setzen solle. Hard2drive kam näher, blieb schweigend vor dem Mann stehen und wartete ab.
Tulsadoom: Seid gegrüßt, edler Paladin. Mein Name ist Tulsadoom von der Gilde der ehrwürdigen Schlangenmutter. Es ist mir eine Ehre, den großen und mächtigen Hard2drive kennenzulernen, dessen Heldentaten in der Schlacht von Parthenon in den Hallen der Ahnen besungen werden und dessen Ruhm in unserer virtuellen Welt unvergänglich sein wird.
Der Druide lächelte breit und zeigte dabei zwei Reihen blendend weißer Zähne. Zusammen mit seinem weißblond gelockten Haar und der kaffeebraunen Haut sah er aufreizend arrogant und irgendwie verlogen aus.
Hard2drive gefiel der Kerl nicht, deshalb sagte er weiterhin kein Wort.
Tulsadoom: Aber wollt Ihr Euch nicht setzen, Euer Hochwohlgeboren? Es wäre mir eine große, wenn auch unverdiente Freude, Euch an meinem Tisch in dieser bescheidenen Herberge willkommen zu heißen.
Tulsadoom stand umständlich auf und verbeugte sich theatralisch tief vor Hard2drive, sodass seine blonden Locken den Boden berührten.
Zögernd nahm der Paladin Platz. Er fand diesen weibischen Schwätzer zum Kotzen, aber er musste wissen, was der von ihm wollte.
Der Druide setzte sich ebenfalls wieder, verzog angewidert das Gesicht, als er eine Staubflocke mit spitzen Fingern aus seinen Haaren entfernte, und zeigte dann erneut sein süßliches Lächeln. Er machte dem Schankwirt ein Zeichen, der ihnen daraufhin zwei Tonhumpen mit einem bierartigen Gebräu vorsetzte.
Henrik fand dieses Getue lächerlich. Was hatte er davon, wenn seinem Computercharaker virtuelles Bier vorgesetzt wurde? Wollte der Kerl ihn provozieren?
Hard2drive: Was willst du von mir, Druide? Komm bitte schnell zur Sache! Ich will kein geschwollenes Gesabber hören, my boy.
Tulsadooms Miene verdüsterte sich. In seinen Augen vermeinte der Paladin, eine Spur von Hass zu erkennen. Doch dann kehrte das breite Lächeln wieder zurück, das aus einer Zahnarztwerbung zu stammen schien.
Tulsadoom: Warum so ungehalten, strahlender Held von KoF? Ich bin ein großer Bewunderer Eurer Herrlichkeit und entzückt von dem Glanz, der durch Eure Anwesenheit auch auf meine unwürdige Person fällt.
Hard2drive meinte, aus diesen Worten des Druiden nun ganz eindeutig Spott herauszuhören. Er erhob sich langsam und zog sein Schwert. Drohend baute er sich vor dem Lächler auf.
Tulsadoom: Nun, nicht so hastig, edler Freund. Wer wird denn gleich so ungehalten sein?
Die Stimme des Druiden gewann eine Spur an Schärfe.
Tulsadoom: Außerdem wisst Ihr doch, dass man in einem Gasthof niemanden töten darf. Der Gamemaster bestraft das mit dem Verlust von fünf Erfahrungsleveln.