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Henrik wurde kreidebleich. Ein Kloß steckte ihm im Hals und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er hätte tot umfallen wollen, als er hörte, wie Tobi antwortete: »Wenn du willst, kannst du mitkommen. Wir brauchen noch jemanden, der uns in den Schlaf bläst.«
Die drei hörten auf zu lachen. Der Anführer schien noch bleicher zu werden, als er ohnehin war. Speichel lief ihm aus dem rechten Mundwinkel. Er stieß ein tierisches Brüllen aus und stürzte sich, den Baseballschläger schwingend, mit seinen Begleitern auf Henrik und Tobi. Henrik blieb wie angewurzelt stehen, zu keiner Bewegung fähig. Er fühlte nur, wie seine Hose im Schritt feucht wurde. Tobi aber verschwand wie der Blitz auf Nimmerwiedersehen um die Hausecke.
Wie eine Dampfwalze brach das Unheil über Henrik herein. Der erste Schlag traf sein Nasenbein und den Oberkiefer. Er klappte wie ein Dominostein zusammen und spürte, wie ihm das Blut aus Nase und Mund quoll. Instinktiv rollte er sich zusammen und presste die Arme schützend über Kopf und Gesicht. Die Schläger traktierten ihn mit Faustschlägen und Tritten. Dabei stießen sie ein animalisches Grunzen und Keuchen aus.
Das Bombardement der Misshandlungen schien nicht enden zu wollen, doch da schrie ein Anwohner plötzlich aus einem der Fenster: »Hey, ihr besoffenen Schweine. Hört auf, Krach zu machen. Ich rufe die Polizei!«
Die drei Kerle hielten inne und schauten sich hastig um. Zwei suchten sofort das Weite. Der Anführer bückte sich mit seiner gespenstisch weißen Fratze noch einmal zu Henrik hinunter, packte ihn am Kragen der Cordjacke und flüsterte: »So geht es einem Pisser, der sich mit den Mächten der Finsternis anlegt.« Danach folgte er eilig seinen Komplizen.
Das Letzte, das Henrik registrierte, ehe er das Bewusstsein verlor, war ein Tattoo an der Innenseite des Unterarms des Gothickerls: In einem Herz, um das sich eine züngelnde Schlange wand, stand geschrieben: »For Tulsadoom in love«.
Als Henrik erwachte, verspürte er rasende Kopfschmerzen, als bearbeite der Drummer von Metallica seinen Schädel. Dann begriff er, dass er nicht mehr im Molocco hockte, sondern in einem Krankenhausbett lag. Augenblicklich setzte seine Erinnerung wieder ein. Stöhnend betastete er vorsichtig den Klumpen, der in der Vergangenheit mal Nase und Oberkiefer gewesen sein musste. Die Nase war mit einer Tamponade ausgestopft, die Oberlippe mit mehreren Stichen genäht. Mit der geschwollenen Zunge tastete Henrik in Zeitlupe den Mund aus und stellte fest, dass ein Frontzahn fehlte. Tränen der Wut und des Schmerzes schossen ihm in die Augen. Er wimmerte und wollte sich im Bett aufrichten, doch wie ein Blitz schoss der Schmerz durch seinen bandagierten Brustkorb, sodass er sich jammernd zurücksinken ließ. Mindestens eine Rippe musste gebrochen sein.
»Immer langsam, Herr Wanker. Kann ich Ihnen helfen?« Eine junge Krankenschwester beugte sich über ihn. Sie war vielleicht zwanzig Jahre alt, hatte eine blonde Kurzhaarfrisur und war ausnehmend hübsch. Ihr üppiger Busen wogte beunruhigend nahe vor Henriks geschundenem Gesicht. Routiniert griff sie nach Henriks Unterarm und tastete den Puls. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte sie freundlich.
»Nein, im Gegenteil«, nuschelte Henrik mühsam.
»Wie?«
»Nein, ich muss pissen!« Was allerdings klang wie: »Üsch musch püschen!«
Die Schwester verstand trotzdem, was er meinte und brachte ihm lächelnd die Urinflasche.
»Üsch glaube, Schü müschen mür helfen, Schweschter«, nuschelte er lüstern.
»Selbstverständlich, Herr Wanker«, antwortete sie. »Ich bin gleich wieder da.« Sie wandte sich um und verließ das Zimmer.
Nach kurzer Zeit kam sie in Begleitung eines ebenfalls weiß gekleideten, etwa vierzigjährigen, gut ein Meter achtzig großen und hundert Kilo schweren Mannes mit Halbglatze und dichtem, schwarzen Vollbart zurück. Mit seiner dicht behaarten Pranke ergriff er die Urinflasche.
»Das ist Oberpfleger Marco. Er wird Ihnen behilflich sein, Sie Armer«, sagte die Schwester und verschwand erneut.
»Äh … ich …«, stammelte Henrik. »Ich glaube, das kann ich doch alleine«, und nahm dem Pfleger die Flasche ab.
»Wie Sie wollen«, antwortete der Dicke gleichmütig. »Übrigens: Wenn Sie fertig sind – draußen wartet Besuch auf Sie.« Der Pfleger ließ ihn ohne ein weiteres Wort allein.
Wahrscheinlich war seine Mutter gekommen, die blöde Kuh. Als er die letzten Tropfen mit einer schüttelnden Bewegung in die Flasche drückte, dachte er bitter, dass sie ihm mit Sicherheit wieder Vorwürfe machen würde, weil er sich in Bars rumtrieb. Und dass er ihr absichtlich nur Ärger machen wollte.
Aber es war nicht die Mutter. Zwei uniformierte Polizisten betraten sein Zimmer. Sie nickten Henrik kurz zu, zogen zwei Stühle neben sein Bett und nahmen unaufgefordert Platz.
»Ich bin Polizeihauptmeister Bauer«, stellte sich der eine vor und wies dann auf seinen Kollegen: »Das ist Polizeimeister Wagner. Wir werden Ihnen einige Fragen zur letzten Nacht stellen.« Er räusperte sich, öffnete sein Notizbuch und zückte einen Stift. »Ihr Name?«
Henrik schaute ihn misstrauisch an. »Was soll das heißen: mein Name? Ihr Kollege hat doch meinen Personalausweis in der Hand.« Er zeigte auf Wagner und vermied dabei jede hastige Bewegung, die erneut zu Schmerzen hätte führen können.
Bauer räusperte sich erneut. »Die Fragen stellen wir. Ich darf Sie jetzt bitten zu kooperieren und mir zu antworten.« Seine Worte klangen unwillig, fast schon unfreundlich.
»Na gut, Marshall Dillon. Immer locker bleiben.« Henrik setzte zu einem Grinsen an, gab den Versuch aber schnell mit einem leisen Stöhnen wieder auf. »Mein Name ist Henrik Wanker, geboren am dreiundzwanzigsten November 1985, Sternzeichen Schütze, Schuhgröße dreiundvierzig. Ich liebe Französisch und Fesselspiele. Alles kann, aber nichts muss …«
Der Polizist Wagner stand langsam und bedächtig von seinem Stuhl auf und beugte sich so nah zu Henrik hinunter, dass diesem der üble Mundgeruch des Beamten entgegenschlug – Mettbrötchen mit Zwiebeln.
»So, du Spaßvogel«, flüsterte Wagner drohend, »du bist jetzt ein lieber Junge und hörst mit deinem Blödsinn auf, oder ich stopfe dir dein Pinkelfläschchen mit dem noch warmen Inhalt ins Maul.« Wortlos setzte sich Wagner wieder auf seinen Platz.
»Okay, okay …« Henrik drückte eingeschüchtert seinen Kopf so weit wie es ging ins Kissen zurück. »War nicht so gemeint. Ich gebe jetzt ordnungs- und wahrheitsgemäß meine Anzeige zu Protokoll, Special Agent Bauer. Also, es war so …« Henrik wollte zu einer folkloristischen Schilderung des Überfalls in der vergangenen Nacht ansetzen, aber er wurde von Bauer unterbrochen. »Wir wollten uns eigentlich mit Ihnen vor allem über die Anzeige gegen Sie unterhalten, Herr Wanker.«
»Hä? Was soll das denn heißen?« Henrik war fassungslos.
»Es liegt eine Anzeige wegen nächtlicher Ruhestörung vor. Ein Anwohner hat sich beschwert.« Ohne während des Sprechens den Blick zu heben, kritzelte der Beamte Notizen aufs Papier.
»Ruhestörung?« Henriks Empörung ließ ihn seine schmerzenden Rippen und den dröhnenden Kopf fast vergessen. »Ich wurde von drei beschissenen Zombies fast zu Tode geprügelt und ihr Staatsschergen sagt dazu Ruhestörung? Wie nennt ihr es dann, wenn jemand vor den Zug geschmissen wird? Gefährlicher Eingriff in den Schienenverkehr?«
Wagner wollte sich wieder von seinem Stuhl erheben, doch Bauer gab ihm ein Zeichen sitzen zu bleiben. »Beruhigen Sie sich bitte, Herr Wanker«, sagte er. »Wir sind sonst gezwungen, Sie aufs Revier vorzuladen. Also: Was haben Sie gestern Abend in der Molocco-Bar gemacht?«
»Kola getrunken«, antwortete Henrik.
Bauer und Wagner sahen sich an. Wagner schüttelte verächtlich den Kopf.
»Was passt Ihnen an meiner Antwort nicht?«, knurrte Henrik. »Kann ein rechtschaffener Bürger nicht nach getaner ehrlicher Arbeit ein belebendes Getränk in einem angesehenen Lokal der Stadt zu sich nehmen?«
Bauer blickte ihn emotionslos an. Seine Stimme hatte allerdings an Schärfe gewonnen, als er antwortete: »Erst einmal, Herr Wanker, ist dieses ›angesehene Lokal‹ ein Umschlagplatz für Drogen und Hehlerware. Zweitens bestehen berechtigte Zweifel daran, dass es sich bei dem ›belebenden Getränk‹ um Kola gehandelt hat. Aber in dieser Hinsicht werden uns sicher Ihre Blut- und Urinproben weiterhelfen. Drittens wurde der ›rechtschaffene Bürger Wanker‹ bereits einmal wegen unerlaubten Drogenbesitzes während einer Razzia in dem angeblich angesehenen Lokal festgenommen. Und viertens …«
Henrik fühlte sich, als könnten Bauers Blicke ihn in Asche verwandeln. Was kam jetzt? Er schluckte.
»Viertens waren Sie, nach Angaben von Zeugen, in Begleitung eines minderjährigen Jungen, in der eindeutigen Absicht, diesen zu verführen und sexuelle Handlungen an ihm vorzunehmen. Als Sie mit Ihrem Opfer auf dem Nachhauseweg waren und die Zeugen Sie zur Rede stellen wollten, sind Sie gewalttätig geworden, sodass sich die Zeugen in einer Notwehrsituation befanden.«
Henrik wurde plötzlich speiübel und schwindlig. Aber Kotzen hätte bei seinen gebrochenen Rippen sicher sehr weh getan. So beschränkte er sich auf ein kurzes Würgen. Ermattet und hilflos lag er in den Kissen. »Und was sagt der Junge zu all dem?«, fragte er vorsichtig.
Bauer räusperte sich verhalten. »Das ist das Problem. Er ist ja weggelaufen. Darum fragen wir Sie, Herr Wanker, wie der bedauernswerte Minderjährige heißt.«
Henrik hatte plötzlich einen Einfall. Er begann theatralisch zu stöhnen, fasste sich an den Kopf und verdrehte die Augen. »Oh, mir ist schlecht!«, keuchte er. »Wo bin ich? Es verschwimmt alles.« Durch halbgeschlossene Lider sah er Bauer an. »Bist du’s, Vater?« Wiederum fabrizierte er ein lautes, lang gezogenes Stöhnen. Und wirklich kam die junge Krankenschwester ins Zimmer geschossen.
»Was ist passiert?«, rief sie und beobachtete beunruhigt, den jammernden Patienten. »Oh Gott! Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte sie die Polizeibeamten vorwurfsvoll.
Bauer und Wagner waren aufgestanden und warfen sich ratlose Blicke zu.
Die Schwester legte ihre Hand auf Henriks Stirn, tastete wieder nach seinem Puls. Der Patient lächelte verzückt, was ihm aufgrund des fehlenden Frontzahnes ein idiotisches Aussehen verlieh. »Mutter?«, flüsterte er.
In energischem Ton wandte sich die Schwester an die Beamten. »Wie Sie sehen, meine Herren, braucht Herr Wanker absolute Ruhe. Er leidet offensichtlich an einer Amnesie. Ich bitte Sie, umgehend das Zimmer zu verlassen, sonst muss ich den Doktor rufen.« Sie machte eine eindeutige Handbewegung in Richtung Tür.
Achselzuckend setzten sich die Polizisten in Bewegung. Bevor sie die Tür erreichten, drehte Wagner sich noch einmal um und sagte: »Wir werden uns wieder bei Ihnen melden, Wanker. Da können Sie sicher sein.«
»Du solltest nicht so ungesunde Sachen zum Frühstück essen, du Büttel«, flüsterte Henrik.
Wagner glaubte, sich verhört zu haben, aber es war unmöglich, der Sache auf den Grund zu gehen, denn die Schwester schob ihn hinter Bauer in den Korridor hinaus und schloss nachdrücklich die Tür.
4 | Rätselhafte Nachrichten
Am nächsten Morgen hatte Henrik es eilig, das Krankenhaus zu verlassen. Die Ärzte wollten zwar, dass er noch ein oder zwei Tage zur Beobachtung und zur Durchführung weiterer Untersuchungen in stationärer Behandlung blieb, doch er verspürte keine Lust, erneut Besuch von der Polizei zu bekommen. Noch immer fühlte er sich wie unter den Presslufthammer geraten. Sein Körper war von Prellungen und Blutergüssen übersät. Inzwischen hatte man zwar die Nasentamponade entfernt, aber sein Gesicht besaß die Farbe und Konsistenz eines überreifen Pfirsichs. Nach wie vor litt er unter übelsten Kopfschmerzen. Trotzdem packte er seine Sachen zusammen, so schnell es ihm in diesem Zustand möglich war. Er konnte sich ja zu Hause erholen. Nachdem er die Erklärung unterschrieben hatte, auf eigene Verantwortung das Krankenhaus verlassen zu haben, ließ er sich für seine letzten Euros ein Taxi bestellen.
Daheim angekommen legte er sich sofort wieder ins Bett, um zu schlafen. Aufgrund der ständigen Übelkeit wollte ihm das aber nicht gelingen. Stöhnend humpelte Henrik ins Bad und schluckte zwei Aspirintabletten. Er hustete, spuckte altes, klumpiges Blut aus und betrachtete sorgenvoll seine Zahnlücke im linken Oberkiefer. Voll Selbstmitleid begann er zu schluchzen und schleppte sich weiter ins Wohnzimmer. Dort bemerkte er, dass der Anrufbeantworter blinkte.
In seiner Abwesenheit hatte das Gerät sechs Anrufe aufgezeichnet. Lustlos drückte er auf den Abspielknopf, um die Nachrichten abzuhören.
Anruf Nummer eins: Zunächst nur Stille und leises Rauschen. Dann ein leichtes Räuspern. Schließlich: »Äh … Hallo, Alter! Ich bin's, dein Kumpel Tobi. Lebst du noch? Wenn ja, melde dich bei mir. War'n ziemlich beschissener Abend gestern, hä?« Klicken. Tobi hatte aufgelegt.
In Henrik stieg Wut auf. Dieser Witzbold nannte den Albtraum, in dem er fast totgeprügelt worden wäre, einen beschissenen Abend! Er schwor sich, diesem pickligen Penner richtig tief in den Arsch zu treten, sobald er wieder halbwegs bei Kräften war. Erst überredete der ihn, in diese zwielichtige Bar zu gehen. Dann provozierte er die verrückten Gruftis und ließ ihn als Krönung des Ganzen bei der Schlägerei feige im Stich. Schließlich war es ihm gewissermaßen auch zu verdanken, dass ihn die Polizei für einen beschissenen Pädophilen hielt. Es ärgerte ihn, dass er sich mit diesem ausgeflippten Milchgesicht jemals eingelassen hatte.
Erst als er sich wieder beruhigt hatte, hörte Henrik die nächste Ansage ab.
Anruf Nummer zwei: »Warum meldest du dich nicht? Man kann doch von seinem Sohn erwarten, dass er sich ab und zu mal nach dem Befinden seiner Mutter erkundigt. Aber nein! Dir ist völlig egal, wie es mir geht. Der Sohn von Frau Brinkmann bringt seiner Mutter jede Woche einen Strauß Blumen vorbei. Jede Woche! Und du? Noch nicht einmal zum Muttertag!« Klick.
Blödes Theater! Um ein Haar wäre er abgekratzt. Hatte sie sich da um sein Befinden gesorgt? Henrik gab sich keine Rechenschaft darüber, dass seine Mutter vom Krankenhausaufenthalt gar nichts erfahren hatte, und spulte weiter.
Anruf Nummer drei: »Herr Wanker? Hier spricht Braun, ihr Vermieter. Sie sind mit Ihren Mietzahlungen zwei Monate im Verzug. Ich werde mich in Kürze wieder melden.« Klick.
Henrik zog eine Grimasse. Braun, dieser dumme Zausel. Der Kerl sollte sich wegen der paar lausigen Kröten nicht ins Hemd pissen. Er ließ das Gerät weiter laufen.
Anruf Nummer vier: Sekundenlanges Rauschen. Dann Klick. Wer nicht will, der hat schon, dachte Henrik. Dann der nächste …
Anruf Nummer fünf: »Äh …Wo bist du, Alter? Machst mir richtig Sorgen, Mann. Also, wenn du Lust hast, könnten wir morgen Pizza essen gehen. Okay? Dein Kumpel Tobi zahlt auch.« Klick.
Henrik grinste spöttisch, aber schon halb versöhnt. Wenigstens ein schlechtes Gewissen schien der Torfkopf zu haben. Okay, weiter zum letzten Anruf.
Anruf Nummer sechs: Rauschen … Rauschen … zehn Sekunden … fünfzehn … Henrik wollte schon die Stopptaste drücken, da hörte er ein leises Kichern und nach einer kurzen Pause eine ihm wohlbekannte Stimme: »Seid gegrüßt, edler Paladin.« Er meinte, das unverschämte Grinsen dieses schleimigen Druiden direkt vor sich zu sehen. »Ich hoffe, es geht Euch gut? Oder fühlt Ihr Euch etwa inkommod?« Wieder das unverschämte Kichern. Dann: »Mein hochherziger Lord Dragon bittet Euch zu einer Audienz anlässlich unseres diesjährigen Gildentreffens in Blackmount Castle. Es geht um den bewussten Gegenstand, der sich in Eurem Besitz befindet, Euch aber bedauerlicherweise nicht gehört.« Schweigen. Tulsadoom atmete zischend ein und aus. »Ihr wisst doch, wovon ich rede, oder? Natürlich wisst Ihr das!« Klick.
Henriks Kopfschmerzen wurden unerträglich. Ihm wurde schwarz vor Augen. Unbeschreiblicher Hass erfüllte ihn. Er stieß unartikulierte Schreie aus und biss in die Knöchel seiner geballten linken Faust, was ihm aufgrund des ausgeschlagenen Zahnes noch mehr Schmerzen verursachte. Wie irr spuckte er immer wieder auf den Boden. Und plötzlich wurde ihm alles klar: Diese drei Gruftis aus Franks Bar, die ihm so übel mitgespielt hatten, waren Handlanger von Tulsadoom, die ihm in dessen Auftrag einen Denkzettel verpasst hatten. Die Einschüchterung sollte bewirken, dass er beim Gildentreffen klein beigab und Lord Dragon freiwillig den Armreif ablieferte. Aber die Rechnung würde nicht aufgehen. Er würde Lord Dragon den stinkenden Penis des Druiden ins hochherzige Maul stopfen und anschließend sein Schwert so tief in den Hintern des Schattenmagiers schieben, dass kein Echolot es mehr orten konnte.
Henrik war gerade auf dem Höhepunkt seiner Amokstimmung angelangt, als es an der Tür klingelte. Wutschnaubend und humpelnd wie der Glöckner Quasimodo bewegte er sich in den Korridor. Er vermutete, dass es Tobi war, der mit ihm Pizza essen gehen wollte. Deshalb riss er die Tür auf und schrie: »Was willst du gepierctes, pickelgesichtiges Klappergestell von mir?« Aber vor der Tür stand Herr Braun, sein Vermieter.
Henrik glotzte ihn verblüfft mit weit aufgerissenen Augen und halb geöffneten Mund an. Speichel tropfte ihm seitlich an der geschwollenen Unterlippe vorbei.
Herr Braun war ein kleiner, drahtiger Mittsechziger, der immer ein kariertes Jackett, weißes Oberhemd, dezente Krawatte und penibel gebügelte Bundfaltenhosen trug. Das dünne, graue Haar war sorgfältig nach links gescheitelt. Wenn er über Henriks Begrüßung oder dessen ramponiertes Aussehen geschockt war, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Schön, dass ich Sie mal persönlich antreffe, Herr Wanker«, sagte er kühl und mit unbewegtem Gesichtsausdruck.
Verblüfft stotterte Henrik: »Ach, Sie sind es, Braunie! Äh, ich meine natürlich Herr Braun. Wie geht’s denn so und wie geht’s der verehrten Frau Gemahlin?«
In den letzten Wochen war er Braun geschickt aus dem Weg gegangen und hatte so getan, als ob niemand daheim sei, sobald der Vermieter im Haus aufkreuzte. Doch nun hatte der Mann ihn erwischt.
»Herr Wanker, ich mache es kurz.« Braun entnahm der Innentasche seines Jacketts einen Briefumschlag und hielt ihn Henrik entgegen. »Sie sind zwei Monate mit Ihren Mietzahlungen in Verzug.«
Henrik starrte den Umschlag an, als ob der Milzbrandsporen enthielte. »Herr Braun, es ist mir … es tut mir so leid«, stotterte er. »Meine liebe Mutter musste ins Krankenhaus – schwere Lungenentzündung, die Arme. Der rechte Lungenflügel wurde entfernt. Sie glauben gar nicht, was das alles kostet, diese Arztrechnungen für die Medikamente Penicillin, Aspirin, Kodein und Kokain …«
»Kokain?« Das Gesicht des Vermieters nahm einen misstrauischen Ausdruck an.
Henrik redete unbeirrt weiter. »Deshalb hatte ich sogar einen Nebenjob als Zeitungsausträger für ›die Bäckerblume‹ angenommen. Nacht für Nacht habe ich Zeitungen verteilt, bis ich endlich auch das Geld für die ausstehende Miete zusammenhatte.« Henrik schnäuzte gerührt in sein Taschentuch und betrachtete interessiert das Ergebnis, ehe er fortfuhr: »Und dann wurde ich letzte Nacht, kurz vor Ende meiner Tour, von der Russenmafia überfallen.«
»Russenmafia«, echote Braun.
»Vielleicht waren es auch Rumänen. Jedenfalls umzingelten mich fünf Kerle – alle Bodybuilder. Zwei konnte ich in die Flucht schlagen, doch die übrigen haben mir von hinten einen Baseballschläger übergezogen. Dann wurde ich besinnungslos. Oh, es hat sooo wehgetan.« Henrik schluchzte jammervoll in sein Taschentuch.
Herr Braun schien davon wenig beeindruckt zu sein. »In zwei Tagen ist die ausstehende Miete auf meinem Konto oder ich lasse die Wohnung räumen. Guten Tag!« Er warf den Umschlag in den Korridor hinein, drehte sich auf dem Absatz um und stieg eilig die Treppe hinab.
Henrik bückte sich mühsam, hob den Brief auf und riss missmutig den Umschlag auf. Wo sollte er bloß die darin abverlangten siebenhundert Euro hernehmen?
Übers Geländer spähte er vorsichtig ins Treppenhaus hinunter. Als er sicher war, dass Braun das Haus verlassen hatte, schrie er: »Verpiss dich, du aufgeblasener Schwachmat!« Danach war ihm wohler.
Er schlug die Tür hinter sich zu und setzte sich auf die Couch, um nachzudenken, was durchaus nicht einfach war, denn sein Schädel brummte schlimmer als je zuvor. Er musste unbedingt seine Mutter besuchen, um an Geld zu kommen.
Aber etwas anderes war noch viel wichtiger. Doch was war das gewesen? Wenn er nur endlich wieder hätte klar denken können … Diese verfluchten Kopfschmerzen und diese Übelkeit! Henrik versuchte, sich zu konzentrieren.
Was, um Himmels willen, lief hier nicht richtig? Irgendetwas hakte ganz gewaltig und war systemisch absolut nicht korrekt.
Und dann – schlagartig – wurde ihm bewusst, was nicht stimmte: Die Geschichte mit dem Schattenmagier und dem magischen Armreif waren Dinge, die sich im Game abspielten, im Kingdom of Fantasy.
Aber das Tattoo am Arm des Gothics war ganz klar Real Life, ebenso die Nachricht des verdammten Magiers auf dem Anrufbeantworter.
Die Grenzen von Realität und Spiel schienen allmählich zu verschwimmen. Was bedeutete das?
Am Abend saß er dann wieder versöhnt mit Tobi zusammen im Türkenimbiss um die Ecke. Tobi schlang gierig und mit Appetit seine Pizza Diavolo hinunter, während Henrik ihm voll Neid zusah. Er war noch nicht in der Lage, feste Nahrung zu sich zu nehmen. Der Imbissbudenbesitzer konnte ihm nur eine Tasse Instanthühnerbrühe anbieten.
»Ist ja völlig abgefahren, die Geschichte, die du mir da erzählst, Alter.« Tobi schmatzte hingebungsvoll und stopfte sich das nächste Pizzastück in den Mund. »Und du bist sicher, dass du wirklich mit diesem Druiden am Telefon geplaudert hast?«
»Ich habe nicht mit ihm geplaudert, du Vollidiot! Er hat auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Verstehst du das jetzt endlich?«
Tobi blieb vor Schreck der Bissen im Halse stecken, als Henrik ihn so anfuhr, doch nach kurzer Zeit kaute er vergnügt weiter.
»Und glaub’ mir, diese verlogene Schwuchtelstimme hör’ ich aus jedem Kirchenchor ‘raus«, grummelte Henrik und schlürfte vorsichtig einen winzigen Schluck Brühe. »Die Schlägertypen aus dem Molocco stecken ebenfalls mit dem Kerl unter einer Decke.«
»Nun ja …«, meinte Tobi unsicher und wischte sich mit dem Handrücken den fettverschmierten Mund ab. Die Pizza war vertilgt. Mit einem letzten bedauernden Blick schob er die leere Schachtel beiseite. Ein winziges Stück Pepperoni klebte weiterhin unbemerkt an seinem Nasenpiercing. »Nun ja … wir könnten Frank mal fragen, ob der was weiß.«
Henrik horchte auf. »Was hat denn dein Bruder mit der Sache zu tun?«
Tobi grinste. »Es ist so: Einmal im Monat trifft sich im Molocco eine Gruppe KoF-Spieler zu einer LAN-Party. Die Typen nehmen gemeinsam an Schlachtzügen oder Arenakämpfen teil.«
Henrik sah den Freund mit offenem Mund ungläubig an. »Und das sagst du mir erst jetzt? Das könnte eine Menge erklären.«
Tobi stand auf und legte acht Euro auf den Tisch. »Na, dann! Komm, wir besuchen Frank.«
Henrik schüttelte den Kopf. »Später. Für heute hab’ ich die Nase voll.« Dabei tastete er vorsichtig seine geschwollene und nicht ganz gerade Nase ab. »Ich schlucke noch zwei Aspirin und haue mich danach sofort ins Bett.«
Die beiden traten auf die Straße hinaus. Tobi sagte: »Geht klar, Alter«, und erkundigte sich: »Sehen wir uns morgen im Game?«
Henrik hob die Schultern. »Mal sehen. Vielleicht am Abend. Morgen muss ich endlich mal die Krankmeldung bei meinem Chef abgeben. Der ist sowieso schon angepisst. Und dann muss ich zu meiner Mutter und Geld besorgen. Vielleicht kann ich mich am späteren Abend kurz einloggen.«
»Geht klar, Alter«, meinte Tobi wieder. Er hob grüßend die Hand. Dann machten sich beide auf den Weg nach Hause.
5 | Besuch bei Mutter
Nachdem er ausgeschlafen hatte – so gegen Mittag –, suchte Henrik auf direktem Weg seine Mutter auf, denn er war zu der Einsicht gelangt, dass es wichtiger sei, zuerst Geld zu besorgen. Die Krankmeldung bei seinem Arbeitgeber konnte noch warten.
Sarah Wanker wohnte in einer Reihenhaussiedlung in einem Stadtviertel, in dem vorwiegend Rentner und Angehörige der Mittelschicht lebten. Die Vorgärten waren penibel gepflegt, ohne die Spur eines Unkräutleins.