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Der Piemontese Chevalier von Milhe stieß ein wildes Geschrei aus; sein Mut und seine Fassung schienen ihn verlassen zu haben. Vergebens wischte der arme Doktor der Theologie mit einem Taschentuche den Schweiß von seiner Stirn und goß einige Tropfen Wasser in seinen glühenden Mund; alle Sorgfalt und Ermahnungen blieben gegen solche Qualen erfolglos.
Charles Sanson fühlte sich über die Ungleichheit in der Behandlung dieser beiden Männer, die desselben Verbrechens wegen verurteilt worden waren, betroffen; er beschloss deshalb, ihr ein Ende zu machen.
»Genug für heute, Gros,« sagte er zu seinem Gehilfen, »gib dem anderen den Gnadenstoß.«
Es war der Schlag der Barre, der die Brust zerbrach.
Gros gehorchte, nicht ohne einen unruhigen Blick auf den Abgeordneten des Magistrats zu werfen, der der Hinrichtung auf dem Balkon des Rathauses beiwohnte. Ohne Zweifel war derselbe nicht sehr lüstern auf solche Schauspiele, die er vielleicht schon zu oft erlebt hatte, denn er schien nichts zu bemerken.
In diesem Augenblicke kam der Doktor, überrascht, dass er den Grafen Horn, der sich bis dahin so wenig gefasst gezeigt hatte, nicht so laut habe klagen hören wie seinen Genossen, zu ihm zurück, um sein frommes Amt fortzusetzen; er sah, dass ihm der Tod bereits zuvorgekommen sei. Die Schnur hing noch am Halse des unglücklichen jungen Mannes, und mein Ahne benutzte die Anwesenheit des Doktors, der ihn nach der Seite des Rathauses hin deckte, um jene heimlich zurückzuziehen; dann legte er einen Finger auf den Mund und erbat durch dieses Zeichen das Schweigen des ehrwürdigen Priesters, der darauf durch eine leise Kopfneigung antwortete.
Die Exekution war soeben erst vorüber, als eine mit sechs Pferden bespannte Kutsche, der ein Pikör vorritt, und sechs Diener in großer Livree folgten, auf dem Grèveplatze erschien; es war die des Herzogs von Croy d'Havré, dessen Wappen man deutlich auf den Wagenschlägen durch den sie umhüllenden schwarzen Flor sah. Drei andere Equipagen in derselben Zurüstung folgten sogleich und stellten sich wie die erstere auf der Nordseite des Platzes auf. Alle diese Wagen waren ebenso wie das Lederzeug der Pferde und die Livreen der Bedienten in Trauer gehalten; die Fenstervorhänge waren dicht zugezogen, sowohl um den edlen Besuchern das grausame Schauspiel, das sie erwartete, zu entziehen, als um sie selbst vor den Augen einer neugierigen Volksmenge zu schützen. Aber das Volk, unter dem sich mehrere Personen befanden, welche Wappen und Livreen der großen Häuser kannten, wusste bald, dass die Zuletztgekommenen der Prinz von Ligne, der Herzog von Rohan und ein ???Croüy seien, ein Abkömmling des berühmten Arpadgeschlechtes, das sich bis auf Attila zurückführt und mehr Rechte als das Haus Habsburg an die Krone von Ungarn zu haben glaubt.
Diese großen Namen, die in der Menge umhergingen, gelangten auch zu meinem Ahnen, der erstaunt war, darunter nicht den des Marquis von Créquy zu hören. Aber dieses Erstaunen dauerte nicht lange. Plötzlich entstand an einem Ende des Platzes ein großes Geräusch, und zwei Kutschen, die noch pompöser aufgeputzt waren, als die ersten, erschienen und stellten sich neben diesen auf.
Dies war endlich der Marquis von Créquy. Er ließ den Wagenschlag öffnen und stieg mitten auf dem Platze in der Uniform eines Generalobersten und ersten Inspekteurs der königlichen Truppen aus; er trug die Insignien des goldenen Vlieses sowie die Großkreuze des heiligen Ludwig und des heiligen Johann von Jerusalem auf der Brust. Trotz des tiefen Schmerzes, der auf seinem Gesichte lag, ging er festen Schrittes über den Platz.
Die Menge machte ehrfurchtsvoll vor dieser großen Persönlichkeit, bei der Ludwig XIV. Pate gestanden hatte, Platz.
Es schien, dass das bei der Hinrichtung beauftragte Magistratsmitglied nur diese Erscheinung erwartet hatte, um dem grausamen Verfahren ein Ziel zu setzen; denn sobald es Herrn von Créquy erblickte, verließ es den Balkon des Rathauses und zog sich zurück, was heißen sollte, dass die Gerechtigkeit nun ihren Lauf gehabt habe.
Der Marquis kam gerade auf meinen Ahnen zu und machte ein sehr strenges Gesicht dabei.
Dann warf er einen düsteren Blick auf ihn und fragte fast drohend:
»Mein Herr, was ist aus Ihren Versprechungen geworden?«
»Hoher Herr,« erwiderte Charles Sanson, »diesen Morgen um acht Uhr lebte der Herr Graf von Horn nicht mehr und die Barre meiner Leute hat nur noch einen Leichnam getroffen.«
Der Geistliche neigte sich zu dem Ohr des Herrn von Créquy und bestätigte dasjenige, was mein Ahne soeben versichert hatte.
»Es ist gut,« sagte er in sanfterem Tone, dem man eine große Erleichterung anhörte, »unser Haus wird sich wohl erinnern, dass, wenn es nichts von dem Regenten oder der Gerechtigkeit des Parlaments erlangen konnte, es doch der Menschlichkeit des Henkers einen außerordentlichen Dank schuldet.«
Man beschäftigte sich sogleich damit, den Körper des Grafen von Horn loszubinden, um denselben in eine der Kutschen, welche der Marquis von Créquy mitgebracht hatte, zu schaffen.
Dieser arme Leichnam war so verstümmelt, dass die Glieder herabhingen und sich vom Rumpfe lösen zu wollen schienen.
Herr von Créquy wollte durchaus, wie als eine Art von Protest gegen die Grausamkeit des Urteils, selbst eines der herabhängenden Beine halten, welches nur noch durch einige Fasern blutiger Haut mit dem toten Körper zusammenhing.
Als diese traurige Pflicht erfüllt war, setzten sich die Wagen wieder in Bewegung und zogen hintereinander nach dem Hotel der Gräfin von Montmorency-Logny, einer geborenen von Horn, wo die Überreste des Grafen in einen Sarg gelegt und dieser auf ein Trauergerüst gestellt wurde. Er blieb daselbst achtundvierzig Stunden stehen, von zahlreicher Geistlichkeit, welche das Totenamt verrichtete, umgeben.
Diese Begebenheit brachte die größten Persönlichkeiten im Staat lebhaft gegen den Regenten und seine Günstlinge auf; sie half Law und seinem System, dessen Katastrophe unvermeidlich war, gar nichts.
War der Graf von Horn wirklich unschuldig?
Man sagt, der Herr Graf von Horn und der Chevalier von Milhe hätten dem Juden keineswegs in der Absicht, ihn zu morden und auszuplündern, ein Rendezvous gegeben, sondern nur um die Wiedererstattung einer ansehnlichen Summe in Bankaktien, die ihm der Graf wirklich anvertraut habe, zu erlangen; der Jude habe nicht allein das ihm Anvertraute ganz abgeleugnet, sondern sich sogar so weit vergessen, Anton von Horn in das Gesicht zu schlagen. Da habe sich der junge Mann, der von seinen Ahnen ein leicht entzündliches und aufbrausendes Blut geerbt, nicht mehr halten können, habe ein Messer ergriffen, das gerade vor ihm auf dem Tische in dem Wirtshause gelegen, und damit auf den Juden einen Stich geführt, der denselben nur an der Schulter verwundete. Der Chevalier von Milhe habe den Mord zu Ende geführt und sich der Brieftasche bemächtigt; der Graf habe um keinen Preis auf eine Teilung des Geldes eingehen wollen.
Was Charles Sanson anbetraf, so schnitt er in dem letzten Augenblicke, den er bei dem leblosen Körper zubrachte, eine Haarlocke von dem so schnell kalt gewordenen Haupte des jungen Mannes. Er legte sie in eine Hülle und adressierte sie an die Marquise von Parabere mit den wenigen Worten:
»Das versprochene Andenken.«
Cartouche
Der Verbrechertyp des 18. Jahrhunderts.
Am 15. Oktober 1721 hatte Paris das Fieber wie am Tage nach einem großen Siege. Die ganze Bevölkerung war auf den Straßen; auf den Promenaden, in den Kaufläden, Wirtshäusern und selbst in den Salons begegnete man sich nur mit einer Nachricht, die noch immer eine Menge von Ungläubigen fand:
»Cartouche ist ergriffen worden.«

Cartouche ist das Ideal der Diebe des 18. Jahrhunderts geblieben. In der Sphäre des Verbrechens repräsentiert er vollständig die Übergangsperiode, in der er lebte. Man findet in diesem Übeltäter etwas, das an den Straßenräuber des Mittelalters und an den Gauner unserer Zeit erinnert. Wie der erstere greift er oft zur brutalen Gewalt, aber die List bleibt doch seine Lieblingswaffe, darin ist er vollkommener Meister. Er hat schon einen Begriff von allen den Vervollkommnungen, die seine Nachfolger in die immer schwieriger werdende Kunst, sich des Gutes anderer zu bemächtigen, brachten, und man kann von ihm sagen, dass er der Vorgänger der Diebe unserer Generation gewesen sei.
Die Kraft der Kühnheit Cartouches, sein an Entwürfen so fruchtbarer Geist, seine körperliche Geschicklichkeit, die Energie, mit der er allen Entbehrungen und Anstrengungen widerstand, besonders aber seine wahrhaft ausgezeichnete Schlauheit bezeichneten ihn natürlich als Chef aller dieser Banden, die eine ebenso große Menge tätig Handelnder als Verbündeter aller Art zählten.
Gewisse Abenteuer, bei denen der Aristokratie angehörige Personen eine Rolle spielten, die den Salons hinlänglichen Stoff zu Klatschereien gaben, brachten ihn in die Mode; eine glückliche Entweichung, einige originelle Streiche machten ihn populär.
Der zum Nachteil des Erzbischofs von Bourges begangene Diebstahl belustigte eine Zeitlang alle Neuigkeitskrämer.
Der Herr Kardinal von ???Gesvres, Erzbischof von Bourges, verreiste von Paris und wurde etwas oberhalb von Saint-Dénis durch die Truppe Cartouches angehalten und ausgeplündert. Man nahm ihm sein geistliches Kreuz und den Priesterring, zehn Louisdor, die Seine Eminenz in der Börse hatte, eine Pastete von Rotkehlchen und zwei Flaschen Tokaierwein, die er Herrn von Breteuil abgewonnen hatte, ein ziemlich mageres Lösegeld für einen solch edlen Fang.
Die satirische Laune der Zeit machte hierüber ihre skandalöse Chronik.
Man behauptete, dass die Diebe den Abbé Cerutti, der bei dem Prälaten im Wagen saß und noch sehr jung und recht hübsch war, für eine Dame im Priesterrock angesehen hätten und dass, als der Herr Kardinal sich sehr beleidigt über eine solche Vermutung gezeigt, Cartouche seine Untergebenen mit den Worten zurechtgewiesen habe:
»Ich will euch lehren, vor der Geistlichkeit Ehrfurcht zu haben. Seht doch diese verteufelten Kerle, die den Kardinal von Bourges angreifen! Wißt ihr nicht, dass er nie seinen Zehnten annehmen will, wenn die Felder seiner Zinszahler verhagelt sind?«
Die Frau Marquise von Beauffremont wurde auch die Heldin einer dieser wenig authentischen Geschichtchen. Man behauptete, dass sie einen Freipaß gegen die Nachtdiebe besäße und dass es erstaunenswert sei, welchen Kredit sie bei Cartouche habe; hier folgt der Grund für diese hübschen Vorteile.
Als sie eines Morgens um zwei Uhr nach Hause gekommen war und sich von ihren Frauen hatte entkleiden lassen, schickte sie die letzteren fort und setzte sich, um zu schreiben, an den Kamin. Plötzlich hörte sie ein dumpfes Geräusch in demselben und sah gleich darauf einen bis an die Zähne bewaffneten Mann mitten in einer Wolke von Ruß, Schwalbennestern und Kalk herabstürzen. Da der nächtliche Besucher bei seinem schnellen Sturze Feuerbrände und Kohlen mitten in das Zimmer geworfen hatte, so nahm er die Feuerzange und legte, ohne sich um die Wirkung zu kümmern, die ein so sonderbarer Eintritt ausüben musste, alle die herausgestoßenen Brände wieder in den Kamin, stieß einige Stückchen Kohle, damit sie nicht den Teppich verbrannten, mit dem Fuße zurück und wandte sich dann erst an Madame von Beauffremont.
»Dürfte ich Sie wohl zu fragen wagen, Madame,« sagte er zu ihr in höflichem Tone, »mit wem ich die Ehre habe zu sprechen?«
»Mein Herr,« stotterte die vor Schrecken zitternde Marquise, »ich bin Frau von Beauffremont; da ich Sie aber durchaus nicht kenne und Sie mir nicht das Aussehen und die Manieren eines Diebes zu haben scheinen, so kann ich wirklich nicht erraten, warum Sie mitten in der Nacht und obendrein durch den Kamin in mein Zimmer kommen.«
»Madame,« antwortete der Unbekannte, »Sie wollen mich entschuldigen; als ich hier eindrang, wusste ich durchaus nicht genau, welches Zimmer ich gezwungen sein würde zu belästigen. Erlauben Sie mir daher, um einen Besuch abzukürzen, den Sie ohne Zweifel für unpassend halten werden, Sie um die Güte zu bitten, mich bis an die Tür Ihres Hotels begleiten zu wollen.«
Dabei zog er ein Pistol aus seinem Gürtel und nahm eine brennende Kerze in die Hand.
»Aber, mein Herr!«
»Haben Sie die Güte, sich zu beeilen, Madame,« sagte er, den Hahn seiner Waffe spannend. »Wir werden zusammen die Treppe hinuntergehen, und Sie werden dann gütigst befehlen, dass man öffne.«
»Sprechen Sie leiser, mein Herr, sprechen Sie leiser, der Marquis von Beauffremont könnte Sie hören«, erwiderte die unglückliche Frau ganz außer sich.
»Nehmen Sie einen Mantel um, Madame, bleiben Sie nicht im Morgenkleid; es ist draußen abscheulich kalt.«
Alles geschah nach dem Willen des kühnen Besuchers. Madame von Beauffremont war darüber, als der Mann schon das Hotel verlassen hatte, noch so erschrocken, dass sie sich eine Weile in der Loge des Schweizers niedersetzen musste. Bald darauf hörte sie an das Fenster des Schweizers, das auf die Straße hinausging, klopfen, und die Stimme des Mannes mit der Pistole sagte:
»Herr Schweizer, ich habe in dieser Nacht ein oder zwei Meilen über die Dächer gemacht, um den Polizisten, die mir folgten, zu entwischen. Sagen Sie nicht Ihrem Herrn, dass hier ein Galanteriestreich geschehen und dass ich der Liebhaber Frau von Beauffremonts sei, sonst würden Sie es mit Cartouche zu tun haben, und übrigens wird man übermorgen von mir etwas durch die Stadtpost erfahren.«
Frau von Beauffremont ging wieder hinauf und weckte ihren Gatten, der behauptete, sie habe nur Albdrücken oder einen schlechten Traum gehabt.
Zwei oder drei Tage später erhielt sie einen Brief voll Entschuldigungen und durchaus ehrfurchtsvollen und sehr gewandt ausgedrückten Danksagungen, in dem ein Pass für sie und ihre Familie eingeschlossen war. Bei dem Briefe befand sich noch eine kleine Schachtel, in der ein schöner Diamant ohne Fassung lag. Madame Lempereur, die Juwelierin, schätzte ihn auf zweitausend Taler ab, welche Summe Herr von Beauffremont für die Kranken des Hotel-Dieu an den Schatzmeister von Frankreich ablieferte.
Noch sicherer und noch nie irgendwo gedruckt ist der Streich, den Cartouche dem Leutnant von der Polizeiwache spielte, indem er ihm am hellen Tage sein Silberzeug raubte.
Der Leutnant speiste in einem Saale des Erdgeschosses seines Hauses, dessen Fenster auf den Hof hinausgingen. Eines Tages gegen Mittag, als er sich eben zu Tische setzen wollte, öffnete sich das Hoftor mit Geräusch, und er sah eine prächtige Kutsche vorfahren, bei der zwei große Teufel von Lakaien, in Scharlach gekleidet und mit Tressen auf allen Nähten, hinten aufstanden.
Ein ernst und streng aussehender Greis stieg aus dem Wagen und verlangte, nachdem er sich als ein Engländer von hohem Stande genannt hatte, den Herrn Leutnant von der Polizeiwache zu sprechen.
Man führte ihn in den Speisesaal. Als der edle Fremde das Mahl des Beamten auf dem Tische bemerkte, erschöpfte er sich in Entschuldigungen, weigerte sich, Platz zu nehmen, und versicherte in einem Kauderwelsch, das keinen Zweifel an der Nationalität, zu der er sich bekannt hatte, ließ, dass er dem Leutnant nur einige Worte zu sagen habe; dabei zog er diesen in eine Ecke des Zimmers und war bemüht, sich so zu stellen, dass der andere gezwungen war, den Fenstern den Rücken zuzuwenden.
Er erzählte ihm, wie ein anonymer Brief ihn benachrichtigt habe, dass die Banditen in der folgenden Nacht sein Hotel angreifen würden; er bat um Schildwachen und versprach den Polizeisoldaten hundert Guineen, wenn sie sich des berüchtigten Cartouche würden bemächtigen können, gegen den der edle Lord eine wahrhaft britische Erbitterung an den Tag legte, dann empfahl er sich seinem Wirte, der ganz glücklich über die neue und angenehme Bekanntschaft war, dieselbe durchaus an den Wagen begleiten wollte und, auf der Schwelle stehenbleibend, eine Weile die prächtige Equipage, wie sie davonrollte, betrachtete.
Aus dieser Betrachtung riss ihn das Geschrei seines Dieners, der bei seiner Rückkehr in den Speisesaal bemerkt hatte, dass alles Silberzeug von der Tafel genommen sei.
Cartouche – denn er war es gewesen – hatte seine Rolle so gut gespielt, dass der Leutnant noch seinen Besucher gegen die Anschuldigungen seiner Leute verteidigte und versicherte, er habe sich nicht einmal der Tafel genähert. Aber einige Soldaten, die gerade über den Hof gegangen waren, hatten die beiden Leute des vornehmen Fremden sich nachlässig gegen die offenen Fenster lehnen sehen; die Tafel war nur wenige Schritt davon entfernt, und es wurde nun sehr wahrscheinlich, dass, während der falsche Engländer die ganze Aufmerksamkeit des Herrn Leutnants zu fesseln wusste, die großen Lakaien, nur die Arme auszustrecken brauchten, um reinen Tisch zu machen.
Eine kurze Weile später wurden diese Vermutungen zur Gewissheit, denn ein Kommissionär brachte dem Herrn Leutnant ein Dutzend Löffel und Gabeln von schönem Zinn, damit er seinen Verlust dadurch ersetzen könne.
Der hervorspringende Zug in allen Unternehmungen Cartouches ist der geistreiche Scherz, der sie fast immer begleitet. Der Dieb begnügt sich nicht damit, seine Opfer zu berauben, sondern zieht sie noch soviel als möglich auf. Das ist auch ein Geheimnis seines großen Rufes; er begriff recht gut, dass ihm viel verziehen werden würde, wenn er die, denen er Furcht machte, auch amüsierte.
Charles Sanson sah Cartouche am 27. Oktober zum ersten Mal. Er war im Châtelet, und eine ansehnliche Menschenmenge drängte sich vor der Tür des Gefängnisses. Jedermann wollte sagen können: »Ich habe ihn gesehen!« Und die Erlaubnis, den Banditen besuchen zu dürfen, wurde wie gewöhnlich als eine hohe Gunst gesucht. Die Frauen zeigten sich am neugierigsten auf dieses unmoralische Wild; die Mätresse des Regenten, Frau von Parabere, wollte trotz der grausamen Erinnerung, die ihr dies erwecken musste, als eine der ersten die Züge dieses Menschen betrachten, dem man ebenso viel Glück als Verbrechen zuschrieb. Sie kam, als Grisette verkleidet, nach dem Châtelet, begleitet von den Herren de Nocé und de Fresnel.
Infolge eines Fluchtversuches, der nicht mit Erfolg gekrönt wurde, brachte man Cartouche in die Conciergerie.
Cartouches Prozess zog sich nicht in die Länge. Am 26. November erließ der Gerichtshof seinen Spruch.
Am 27. morgens erlitt Cartouche die Tortur. Ein Bruchschaden, den die Ärzte bei ihm feststellten, ersparte ihm die Tortur des Wippens; die der spanischen Stiefel dagegen litt er bis zum achten mit außerordentlicher Festigkeit und Ruhe; er weigerte sich, irgendein Geständnis zu machen.
Als man ihn wieder auf die Matratze gelegt hatte, brachte man ihn in die Kapelle der Conciergerie, wo der Pfarrer von Saint-Barthélemy, der ihn auf das Schafott begleiten sollte, sich bemühte, diese verstockte Seele zu rühren.
Während diese traurige Szene in der Torturkammer vorging, hatte der Zimmermann Befehl erhalten, auf dem Gréveplatze fünf Räder und zwei Galgen aufzurichten.
Das Gerücht von der Hinrichtung Cartouches und seiner Genossen hatte sich in der Stadt verbreitet; der Grèveplatz und die anstoßenden Straßen waren daher gedrängt voll Menschen, und die Fenster waren zu ansehnlichen Preisen vermietet worden. Fünf Geräderte und zwei Gehängte – das war ein vollständiges Fest!
Um zwei Uhr nachmittags traf aber der Befehl ein, vier Räder und einen Galgen wieder abzunehmen; der, welcher stehenblieb, war bestimmt, daran in effigie einen gewissen in contumaciam Verurteilten namens Le Camus zu hängen.
Gegen vier Uhr begab sich Charles Sanson mit seinen Knechten nach der Conciergerie.
Unterwegs zeigte Cartouche, der hinten in dem Karren so ausgestreckt lag, dass er den Rücken gegen die Bank stützte, auf der der Scharfrichter saß, große Unruhe. Ein paarmal versuchte er sich umzuwenden, um vorwärts blicken zu können, aber dies gelang ihm nicht.
Endlich konnte er es nicht mehr aushalten und fragte Charles Sanson, ob die anderen Wagen voraus seien.
Als er zur Antwort erhielt, es seien keine anderen da als der seinige, wurde seine Aufregung sehr groß, und als er nur ein Rad erblickte, wurde er bleich, und große Schweißtropfen rollten über sein Gesicht; er konnte seinen Speichel nicht mehr hinunterschlucken und murmelte mehrmals:
»Die Verräter!«
Dieser bisher so starke Mann wurde nun wirklich schwach, als er sich überzeugt hatte, dass dem traurigen Schauspiel, für das er sich die erste Rolle aufbewahrt hatte, die Mitspieler fehlen würden.
Als der Sekretär des Gerichtshofes sich ihm näherte, erklärte Cartouche, dass er noch Geständnisse machen wolle, und wurde nach dem Rathause geführt, wo sich noch Herren vom Parlamente befanden.
Am anderen Tage um ein Uhr nachmittags übergab man ihn zum zweiten Mal dem Scharfrichter. Er war nicht mehr derselbe Mensch; zwar hatte er noch die Freiheit seines Geistes bewahrt, aber er hatte aufgehört, einen hässlichen Zynismus zu erheucheln; seine Festigkeit war nicht geringer geworden, aber sie hatte ihren Charakter von Prahlerei verloren, und man sah einige Tränen in seinen Augen, die gar nicht zum Weinen gemacht zu sein schienen.
Sein beklagenswerter Instinkt nahm aber nochmals einen Aufschwung.
Als er auf dem St. Andreaskreuze lag und ein schauderndes Stöhnen dem dumpfen Geräusche der eisernen Barre, die Fleisch und Knochen zerschmetterte, als Echo gefolgt war, rief Cartouche mit widerhallender Stimme wie ein Spieler, der seine Stiche zählt:
»Eins!«
Das war aber auch alles.
Seine erzwungene Fassung brach unmittelbar darauf, und er hörte nun nicht mehr auf, das göttliche Erbarmen anzuflehen.
Die Orders, die zum Rade verurteilten, wurden durch einen geheimen Artikel, den man das »Retentum« nannte, gemildert. So vielfach Cartouches Verbrechen auch gewesen, war ihm doch die Wohltat des »Retentums« bewilligt worden; man hatte ihm den letzten Teil seines grausamen Leidens ersparen wollen, aber der Sekretär des Gerichts hatte in seiner Aufregung oder in der Verwirrung bei einer so außerordentlichen Hinrichtung vergessen, dem Scharfrichter das »Retentum« zu bezeichnen.
Trotz seines geschwächten Zustandes hatte Cartouche eine so kräftige Körperkonstitution, dass er erst nach dem elften Schlage mit der Barre ganz zerbrochen sein konnte, und ich kann trotz der späteren Aussage des Sekretärs versichern, dass er noch länger als zwanzig Minuten lebte, nachdem er auf das Rad geflochten war.
Ein Attentat auf Ludwig XV.
François Damiens
Charles Sanson, der zweite, starb am 12. September 1726, kaum fünfundvierzig Jahre alt. Seine Witwe ließ ihm in der Kirche Saint-Laurent, unter Beistand der ganzen Geistlichkeit der Gemeinde, einen großen Trauergottesdienst abhalten. Eine Menge Armer folgte dem Sarge, denn da er gefühlvoller und umgänglicher als Sanson von Longval gewesen, datieren von ihm die Gewohnheiten des Mitleids und der Wohltätigkeit, durch die der größte Teil meiner Vorfahren sich bemüht hat, die grausamen Pflichten ihres Standes zu versöhnen.
Charles Sanson hinterließ drei Kinder: eine Tochter, Anna Renée Sanson, geboren 1710, die einen gewissen Zelle in Soissons heiratete, und zwei Söhne, Charles Jean Baptiste Sanson und Nicolaus Charles Gabriel Sanson, von denen der erste im April 1719, der jüngere im Mai 1721 geboren worden war.
Das jugendliche Alter dieser beiden Erben des Schwertes des Gesetzes wäre eine gute Gelegenheit für Martha Dubut gewesen, eine Nachfolge im Amt für ihre Söhne abzulehnen. Sie war jedoch anderer Meinung, tat im Gegenteil eifrige Schritte, damit Charles Jean Baptiste mit dem finstern Amte bekleidet werde, das sein Vater vakant gelassen.
Das strenge Gesicht dieser Frau, das ich noch unter meinen Familienporträts finde, beweist, dass sie von ungewöhnlicher Härte gewesen sein müsse. Sie hielt sich verpflichtet, ihren Söhnen das Erbteil des Vaters unberührt zu erhalten.
Von dem Kriminalleutnant und dem Generalprokurator unterstützt, hatten ihre Schritte Erfolg. Charles Jean Baptiste war kaum sieben Jahre alt, als diese Artemisia des Schafotts ihn zum Scharfrichter ernennen ließ. Während seiner Minderjährigkeit versahen zwei Stellvertreter in seinem Namen das Geschäft, zuerst Georg Hérisson, der später Scharfrichter von Melun wurde, dann ein gewisser Prudhomme.






