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Ich ging nun, hielt mich aber nicht in meinem Quartiere auf, da ich fürchtete, daselbst durch die Leute des Herrn Marquis de la Boissière verhaftet zu werden. Ich steckte einiges Geld, das ich noch besaß, zu mir, sattelte mein Pferd und verließ, sobald ich im Sattel saß, die Stadt in großer Eile.
Ich hatte bereits beschlossen, zu Lande die Nordküste zu gewinnen und mich in irgendeinem Hafen nach Westindien einzuschiffen, woselbst ich wieder in meinen alten Stand als Seemann treten wollte. Indessen wollte ich nicht eine so große Reise antreten, ohne meiner Freundin Lebewohl gesagt zu haben. Ich hegte die Hoffnung, sie bestimmen zu können, dass sie mein Schicksal in einem Lande teile, wo niemand das Handwerk ihres Vaters kennen werde. Um sie zu diesem Entschlusse, mich zu begleiten, zu bringen, wollte ich ihr gestehen, wie ich ohne ihr Wissen durch eine verbrecherische Handlung mich bereits zu ihrem Herrn gemacht habe.
Dicht außerhalb der Mauern wandte ich mich rechts nach dem »verwünschten Gehöft«. Ich war ganz überrascht, die Fenster des Saales verschlossen zu sehen, denn es war noch nicht spät. Erst als ich ganz nahe war, bemerkte ich Lichtstrahlen, die durch die Risse einer Tür drangen, welche zu einem an das Haus stoßenden Schuppen führte, und gleichzeitig glaubte ich ein Stöhnen zu vernehmen, das aus diesem Schuppen kam.
Obgleich ich nicht leicht zu erschrecken pflege, erinnere ich mich doch noch, dass ich zitterte und schauderte wie ein Laub im Winde. Ich hatte mein Pferd an einen Baumstamm gebunden; ich selbst stellte mich an die bezeichnete Tür, legte mein Auge an die breiteste Spalte, und bei dem, was ich erblickte, sträubten sich mir die Haare auf dem Kopfe.
Margarita, meine geliebte Margarita lag auf dem Lederbette ausgestreckt, das dazu dient, die peinliche Frage zu stellen; ihr Henker von Vater, der eher einem Tiger als einem Menschen glich, hatte ihr den spanischen Stiefel angelegt.3 Mit seiner eigenen Vaterhand trieb er vermittelst eines hölzernen Schlägels den Keil ein, der ganz vom Blute seines Kindes gerötet war, und bei jedem Schlage sagte er in wütendem Zorne zu ihr: »Gestehe, gestehe!« – und die Arme rief, sich in Tränen und mit Angstgeschrei zurückwerfend, alle Heiligen des Paradieses und Gott zum Zeugen ihrer Unschuld an.
Ich sah dieser Grausamkeit kaum eine halbe Minute zu, denn ich hatte schon einen Balken aufgerafft, der am Boden lag, und mit einem einzigen Stoße, denn Gott hatte mir eine Kraft verliehen, die ich nie an mir gekannt hatte, zertrümmerte ich die Tür, wie es eine Artilleriepetarde getan haben würde.
Als Meister Jouanne mich erkannte, warf er den hölzernen Hammer von sich, und nachdem er das große Schwert gezogen hatte, das ihm dazu diente, die Edelleute zu enthaupten, bedrohte er mich nicht etwa, sondern schwang es um den Kopf seiner Tochter und tat einen schrecklichen Schwur, dass, wenn ich nur Miene mache, ihr zu helfen, er sofort dieses Haupt von dem Halse, der es trug, abschlagen werde.
Ich fiel schreiend und stöhnend auf die Knie, wie gleichzeitig die arme Margarita schrie und stöhnte. Meister Jouanne fragte mich nun, weshalb ich zu ihm käme und ob ich ihm den Namen des Verführers brächte, den er vergeblich von seiner Tochter durch die Tortur zu erzwingen versucht habe. Da gestand ich ihm meinen Fehler und bewies ihm, dass ich allein der Schuldige sei, nicht sein heiliges, tugendhaftes Kind.
Als der wilde und so grausame Meister Jouanne dies gehört hatte, warf er sich vor dem Torturbette, in Tränen ausbrechend, nieder; er nahm den spanischen Stiefel vom Beine seiner Tochter ab und, dieses ganz blaue und zerquetschte Bein zärtlich in seine Hände nehmend, küsste er die Wunden und verband die zerrissenen Stellen, wobei er sie mit so schmerzlicher Bewegung um Verzeihung anflehte, dass seine Verzweiflung einem Felsen Tränen hätte entlocken können. Dann klagte er laut über das schändliche Benehmen elender Menschen auf dieser Welt und sagte, Gott hätte alle armen Mädchen hässlich und abschreckend erschaffen sollen, weil Tugend und Keuschheit sie nicht vor den Begierden der Edlen und Mächtigen schützten.
Ich trat näher und teilte ihm meinen Plan mit, mein Vaterland zu verlassen; ich erklärte ihm, dass ich Margarita gern als meine Gattin mit mir nehmen wolle.
Meister Jouanne zeigte sich bewegter, als ich ihn je gesehen hatte, aber er blieb fest, und sich zu seiner Tochter wendend, sagte er, dass sie die Antwort zu erteilen habe. Sofort ergriff das junge Mädchen seine Hände, die sie so hart angegriffen und mit Blut bedeckt hatten, küsste sie und erwiderte, dass sie ihren Vater, der nur sie allein als Trost und Stütze in seinem einsamen Leben habe, nicht verlassen wolle, wenn ich ihr auch den Thron Indiens, wohin ich sie führen wolle, anbieten könnte.
Meister Jouanne umarmte seine Tochter sehr innig und zeigte mir die Tür, wobei er rief, er sei Henker, aber nicht Mörder, er wolle mich an diesem Tage nicht töten, aber ich möge mich hüten, in der Stadt oder Umgegend wieder zu erscheinen, wenn mir mein Leben lieb sei.
So ging ich denn gesenkten Kopfes und mit zerrissenem Herzen; als mein Fuß die Schwelle der Tür berührte, hörte ich hinter mir lautes Schluchzen, und als ich mich umdrehte, sah ich Margarita ohnmächtig in den Armen ihres Vaters.
Ich eilte zu ihr. Meister Jouanne stieß mich sehr roh zurück. Als ich nun an der Verzweiflung des Mädchens sah, dass ihre Seele ebenso bekümmert über diese Trennung war wie die meinige, und als ich erkannte, dass sie mich ebenso liebte wie ich sie, konnte mich nichts mehr bestimmen, fortzugehen. Ich bat daher den Vater, mir Margarita zur Frau zu geben, und sagte, dass wir alle drei in irgendeine ferne Gegend, wo wir unbekannt leben könnten, ziehen wollten.
Aber dieser Vorschlag sagte ihm ebenso wenig zu wie die früheren. Er antwortete mir, dass dieser späte Wechsel seines Handwerks seinen Schwiegersohn nicht abhalten werde, ihn zu verachten und diese Verachtung auch auf sein Kind zu übertragen, dass dieses, da es zu seinen Gunsten auf den eigenen freien Willen verzichtet habe, nur dann mein werden könne, wenn meine Liebe stark genug wäre, dem Hasse und dem Schimpfe zu trotzen, die ihrer beider Erbteil sei. Wenn ich ohne Scham die Tochter des Henkers verführt habe, könne ich meinen Fehler nur dadurch wieder gutmachen, dass ich selbst Henker werde wie er. –
Hier endigt das Manuskript meines Ahnen.
Er gibt ebenso wenig den Schluss seiner Geschichte, als er uns über die Vorfälle seines Lebens, die vorausgegangen waren, Bericht erstattet.
Colombe und Margarita hatten wahrscheinlich seinem Herzen zwei Wunden geschlagen, die ohne Aufhören bluteten und an die er nur mit Schmerz und Widerstreben rührte.
Die Folgen dieser beiden bis zum Wahnsinn getriebenen Leidenschaften waren ungleich, aber beide traurig.
Er heiratete Margarita Jouanne.
Ich finde in dem Protokoll einer zu Rouen vollzogenen Hinrichtung den Beweis, dass der wilde Meister Jouanne von seinem Schwiegersohne verlangte, dass er die Bedingungen ihres Handels rücksichtslos erfülle.
Dieses Protokoll sagt:
»Da Meister Pierre Jouanne, der Scharfrichter, dem genannten Martin Eslau die Glieder zu zerbrechen hatte, zwang er seinen neuerdings verheirateten Schwiegersohn, einen Schlag mit der Eisenbarre auf den Delinquenten zu führen, wobei genannter Schwiegersohn in Ohnmacht fiel und von der Volksmenge mit Spottgelächter begrüßt wurde.«
Dieses Glück, das Charles Sanson so teuer erkauft hatte, sollte wie ein Traum vorübergehen. Margarita verließ ihn bald, um in eine bessere Welt zu gehen, nachdem sie ihm einen Sohn geschenkt hatte. Sie starb an der Krankheit, die man die Auszehrung nennt und deren Sitz mehr in der Seele als im Körper liegt.
Der Henker von Paris
Ankunft in Paris
Zu Ende des Jahres 1685 verließ mein Ahne Charles Sanson von Longval die Normandie, wo er die Asche dieser Margarita Jouanne zurückließ, die er mit einer so traurigen Mitgift geheiratet hatte.
Er nahm den Vorschlag, der ihm gemacht wurde, an, nach Paris zu kommen und seine provinzielle Jurisdiktion mit der der Hauptstadt des Königreichs zu vertauschen.
Die lange Reihe der plötzlichen Todesfälle, die auf den Stufen des Thrones die königliche Familie dezimiert hatten, die geheimnisvollen Prozeduren der Chambre ardente, dieses Gerichtshofes, der bei Gelegenheit der Wiederanwendung des durchdringenden Giftes der Borgia, das man das Sukzessionspulver genannt hatte, errichtet worden war, das alles hatte aufgehört, und nichts würde die ruhige Klarheit des Horizontes getrübt haben, wenn eine der unpolitischsten Handlungen unserem Vaterlande, das unglücklicherweise nur zu sehr an die religiösen Streitigkeiten gewöhnt war, nicht eine neue Ära von Widerwärtigkeiten bereitet hätte. Ich meine die Widerrufung des Edikts von Nantes.
Auch andere Umstände verdüsterten die erste Zeit des Aufenthaltes Sansons von Longval zu Paris. Bei seiner Ankunft hatte er in dem Hause des Schandpfahles bei den Hallen wohnen müssen, das von dem Volke mit dem Namen »das Hotel des Henkers« belegt worden war. Nichts als eine solche Wohnung war weniger geeignet, die Melancholie, die an ihm nagte, zu zerstreuen. Dieses Haus war ein düsterer achteckiger Bau, auf dem sich eine durchbrochene Haube von Holz befand, die sich auf einem Pivot drehte und in einen spitzen Glockenturm auslief. Die Verbrecher, die zur Strafe des Schandpfahles verurteilt waren, wurden in dieser Laterne befestigt, in der man ihnen der Reihe nach das Gesicht nach den vier Himmelsgegenden drehte. Man wird sich erinnern, dass diese Art von Ausstellung gewöhnlich an den Markttagen stattfand, damit ihr eine desto größere Volksmenge beiwohne und durch ihre Spöttereien und Verhöhnung noch mehr zur Demütigung beitragen könne.
Die Nebengebäude bestanden aus einem Pferdestall und einem Anhange in Form eines Schuppens, wo man die Nacht über die Körper der Hingerichteten aufbewahrte, ehe sie begraben wurden.
In diesem sonderbaren Schuppen lernte das Haupt meiner Familie einen eigentümlichen Ehrgeiz kennen, als er diese Opfer seines grausamen Berufes, diese bleichen Körper betrachtete, denen er eine letzte und traurige Gastfreundschaft gewährte. Wenn er dadurch, dass er den Tod gab, die Geheimnisse des Lebens finden könnte! Wenn er, ehe er diesen menschlichen Körper auf den Schindanger warf, wie ihm befohlen worden, ihn untersuchte, statt zu dem tötenden Schwerte zu dem Messer greifend, das mit Fleiß durchwühlt, die Mysterien des Organismus sondierte, um daraus nützliche Erfahrungen zur Erleichterung der menschlichen Leiden und zu dem großen Kampfe des Lebens gegen den Tod, der das unwiderstehliche Gesetz der Natur ist, zu ziehen!
Dieser Gedanke bemächtigte sich ganz und gar seines Geistes, und gewiss war er in der Nacht, als er ihn zum ersten Male zur Ausführung brachte, nicht weniger erregt als André Bésale, der sich über die religiösen Skrupel seiner Zeit fortsetzte und zuerst die Ehrfurcht vor den Toten zu verletzen wagte, um die Fackel der Anatomie anzuzünden.
Seine Bemühungen blieben nicht unfruchtbar; wir haben von ihm interessante Beobachtungen über das Spiel der Muskeln und der Gelenke sowie mehrere Rezepte gegen die Affektionen dieses Teiles des Organismus aufbewahrt gefunden.
Das Studium der Anatomie und die Bereitung gewisser Hilfsmittel haben sich übrigens in meiner Familie erhalten. Keiner von uns hat sich davon zurückgezogen, und wir hatten unter anderem einen Balsam, dessen Wirksamkeit gegen die eingewurzeltsten Schmerzen anerkannt war.
Wir verkauften diese Mittel sehr teuer, ich gebe es zu, aber nur der Aristokratie und reichen Leuten, den Armen gaben wir sie umsonst; das glich sich wieder aus.
Ich kehre jetzt wieder zu Sanson de Longval zurück. Die Wohnung in dem Hause des Schandpfahls, das mitten auf einem lärmenden und bevölkerten Markte lag, umgeben von Buden, die dazu gehörten, schien ihm weder heimlich genug für seine Arbeiten, noch paßte sie für seine Gemütsstimmung.
Diese Erwägungen bestimmten Sanson von Longval, sein Haus des Schandpfahls zu verlassen, weil sein Amt ihn nicht nötigte, daselbst zu wohnen. Es gab damals in Paris ein fast wüstes Stadtviertel, das man Neu-Frankreich nannte; es ist die Stelle, die heute ein Teil des Faubourg Poissonnière einnimmt.
Nach Neu-Frankreich, neben der Sankt-Annenkirche, verlegte Charles Sanson seine Wohnung, nachdem er das Haus des Schandpfahles für sechshundert Livres, für damalige Zeit eine bedeutende Summe, vermietet hatte. Wir werden später sehen, dass meine Familie sich in diesem Viertel fest einrichtete und es nicht mehr verließ. Nur ich habe es aufgegeben, als ich nach meiner Verzichtleistung mit allen Erinnerungen an die Vergangenheit brechen wollte.
Die ersten Jahre nach der Ankunft Charles Sansons von Longval in Paris bieten nichts Bemerkenswertes.
Fast alle Todesurteile wurden durch eine Kammer des Parlaments erlassen, die sich die Kriminalkammer nannte. Die gerichtlichen Formen waren kurz und summarisch.
Wenn ein Angeklagter darauf bestand, das Verbrechen, das man ihm zur Last legte, zu leugnen, befahl der Hof meistens die vorbereitende Frage, und man suchte ihm durch schreckliche Qualen das Geständnis zu entreißen, das er verweigerte. Wenn in anderen Fällen die Schuld durch hinreichende Beweise festgestellt schien, so fügte die Kriminalkammer, indem sie das Todesurteil erließ, hinzu, dass der Verurteilte, ehe er zur Hinrichtung geführt würde, der gewöhnlichen und außergewöhnlichen Frage unterworfen werden solle, um seine Mitschuldigen, wenn er solche hätte, anzugeben.
Dieses Geschäft des Torturmeisters gehörte glücklicherweise nicht zu den Amtspflichten des Scharfrichters, es wurde von Beamten, die besonders angestellt waren, verwaltet. Einer meiner Großonkel war mit diesem Amte bekleidet, denn es scheint, dass man in meiner Familie gezwungen war, alle diese Scheußlichkeiten miteinander zu vereinigen. Er hat darüber Berichte hinterlassen, bei denen einem die Haare zu Berge stehen. Ich will ein für allemal dieses Verfahren angeben.
An dem Tage, an dem das Urteil vollzogen werden sollte, begab sich der erste Kommis der Kriminalkanzlei, von einem Huissier des Châteletplatzes begleitet, in die Torturkammer. Dies war ein großer düsterer Saal, damit man nicht deutlich die Gesichtszüge sehe, und hermetisch verschlossen, um zu verhindern, dass das Schmerzgeschrei nach außen dringe. Der Verurteilte wurde darauf eingeführt, man ließ ihn niederknien und las ihm laut das Urteil vor. Dann wurde er ergriffen, gebunden und von dem Torturmeister auf der Folterbank ausgestreckt. In diesem Augenblicke traten zwei Parlamentsräte ein, abgeordnete Kommissarien, um ihn zu befragen.
Das Verhör begann sogleich. Zwischen jeder Frage wurde eine neue Tortur bei dem Delinquenten angewandt; man presste ihm die Glieder in einem Schraubstock, man zerriss ihm das Fleisch und zerbrach ihm die Knochen. Warum sollte man auch noch diesen Körper schonen, der am Abend ein Leichnam sein würde?
Auf wiederholte Aufforderungen, die man an ihn richtete, dass er seine Mitschuldigen nennen solle, antwortete der Unglückliche meistens nur durch Schmerzgeschrei und Seufzer. Mehrere kamen bei diesen schrecklichen Qualen um; man berechnete, was ihnen noch an Kräften bleibe, um zu leiden, und manchmal täuschte man sich in dieser hässlichen Rechnung.
Die Stärksten konnten nicht dieser barbarischen Probe über eine gewisse Grenze hinaus widerstehen. Wenn blutiger Schaum auf ihre Lippen trat und der Schweiß des Todeskampfes sich auf den bleichen Schläfen zeigte, beeilte man sich, sie loszubinden und auf einer Matratze auszustrecken. Das kam fast immer beim achten spanischen Stiefel vor.
Wenn unter die Protokolle über die peinliche Frage, die wir noch haben, die schwache Hand des Gequälten nur noch unleserliche Züge setzen kann, die ebenso viel Blutflecke zu sein scheinen, so sind die Unterschriften der Richter und des Kanzleischreibers nicht von sichererer Hand. Man sieht, wie plötzlich eine Art von Fieber sich aller handelnden Personen bei dieser schrecklichen Szene bemächtigt hat, wie der, der die Fragen stellt, nicht mehr hört, der, welcher schreibt, die Feder konvulsivisch über das Papier laufen lässt, ohne Buchstaben zeichnen zu können. Die Erregung bringt bei ihnen dieselbe Wirkung hervor wie das Leiden bei dem Schlachtopfer.
So war noch zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts der letzte Tag eines Verurteilten. Abends überlieferte man dem Scharfrichter, was noch von diesem menschlichen Wesen übrig geblieben war. Der Kanzleischreiber und der Huissier begleiteten diese Trümmer bis zu dem Orte der Hinrichtung, ermahnten ihn ein letztes Mal, seine Mitschuldigen zu nennen, und zogen sich dann zurück, nachdem sie ihn feierlich gegrüßt hatten. Ich finde, dass in diesem Gruße etwas sehr Düsteres lag, noch viel schrecklicher als das »Ave, Caesar, morituri te salutant« der Märtyrer.
Nun kam die Reihe an den Scharfrichter. Er musste ein so gut begonnenes Werk der Zerstörung vollenden: mit einer Eisenbarre die Gelenkverbindungen dieser verstümmelten Glieder zerbrechen und diesen noch nicht toten Leichnam mit gegen den Himmel gerichtetem Gesichte auf ein Rad befestigen, bis er ausgeatmet hatte. Warum wurde das Gesicht gen Himmel gewandt? Geschah es, damit der Unglückliche bis dahin einen Schrei der Rache für die menschliche Grausamkeit emporsenden könne?
Ich will erst später auf die Prozesse unter Ludwig XIV. zurückgreifen und jetzt Geschehnisse erzählen, die erst kurz vor meines Ahnen Tode spielen, aber in gewissem Sinne die Fortsetzung der Geschichte des Henkers bilden.
Der Bettler
Sanson von Longval war immer fromm gewesen, aber in den letzten Jahren seines Lebens erfüllte er die religiösen Pflichten mit noch größerem Eifer.
Es war damals Brauch, dass etwa zwanzig Bettler beiderlei Geschlechts sowohl an der Kirchhofstür als unter der Halle des Gebäudes Platz nahmen.
Mein Ahne ging selten an diesen Bettlern vorüber, ohne ihnen ein Almosen zu reichen.
Er hatte unter denen, welchen er auf diese Weise zu Hilfe kam, einen Greis bemerkt, der ihm seinerseits, sobald er vorüberging, stets mit auffälliger Aufmerksamkeit nachblickte.
Dieser Mann konnte etwa sechzig Jahre alt sein; weder Alter noch Elend hatten die Regelmäßigkeit seiner Gesichtszüge angegriffen. Mit seiner hohen und kahlen, vielfach gefurchten Stirn und dem langen grauen Barte, der ihm bis auf die Brust hinabhing, konnte man ihn leicht für das Bild eines der Christenapostel halten, der aus einer der gotischen Nischen der Kirchenhalle herabgestiegen sei.
Aber mit dem Kopfe hörte auch diese Ähnlichkeit auf, und die Menschlichkeit zeigte sich von da ab in ihrem ganzen Schrecken.
Das Oberteil der Beinkleider dieses Bettlers war auf dem Schenkel zerrissen und zeigte dem öffentlichen Mitleid ein schreckliches Geschwür auf dem Beine.
Leider schien nur dieses Geschwür, das man für hundertfach tödlich halten musste, von ganz besonderer Art zu sein, denn es veränderte sich niemals, weder zum Guten noch zum Schlechten.
Während fünf Jahren, in denen Sanson von Longval den Bettler an der Tür der Kirche Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle sah, fand er jedes Mal dasselbe Leiden unverändert, dasselbe bläuliche wilde Fleisch, und man hätte dabei an ein Wunder glauben können, wäre es nicht natürlicher gewesen, zu vermuten, es sei nur eine Täuschung, die der Mann mit der Unverschämtheit oder Naivität der damaligen Bettler sich täglich unverändert zu erneuern erlaubte.
Diese Überzeugung, welche den Armen in die Kategorie jener Freibeuter versetzte, die das öffentliche Mitleid durch Simulierung von Krankheiten in Anspruch nehmen, würde meinen Ahnen bestimmt haben, ihm kein Almosen mehr zu geben, wenn der Bettler nicht ein Kind bei sich gehabt hätte, dessen Fürbitte der alte Scharfrichter nichts abschlagen konnte.
Als Charles Sanson dieses Kind zum ersten Male sah, war es ungefähr zehn Jahre alt, und er war betroffen über die Schönheit und Originalität seines Gesichts.
Das Mädchen schien den orientalischen Rassen anzugehören, von denen die Zigeuner in Frankreich noch zahlreich genug waren, um den Typus zu bewahren. Sie hatte große Augen von schwarzer Samtfarbe, purpurne Lippen, reiches, leicht gelocktes Haar, die bewunderungswürdigen Zähne der Böhminnen und den äußerst lebendigen Blick, welcher diese charakterisiert. Aber ihr Teint war noch tiefdunkler, als es gewöhnlich der der Frauen von dieser Kaste ist.
Sie nannte den Bettler ihren Vater, dieser sie seine Tochter und bezeigte ihr eine große Zärtlichkeit. Sein empfindungsloses Gesicht belebte sich, wenn er den Spielen des Kindes zwischen den Gräbern des Kirchhofes mit dem Blick folgte; das Lächeln dieses Kindes rief auch ein solches auf seine Lippen, die sonst gegen jeden anderen Ausdruck als der jämmerlichen Psalmenweise, welche sie murmelten, unempfindlich zu sein schienen. In der Vorsicht, die er anwandte, das Kind zu schützen oder ihm einige Augenblicke der Ruhe an seiner Seite, den Kopf gegen seinen Schemel gestützt, zu verschaffen, mischten sich Gefühle, wie man sie nur im Herzen einer Mutter erwarten konnte.
Wenn indessen die Wunde des Bettlers den Vorzug hatte, sich in den Jahren nicht zu verändern, so hatte sein Kind doch nicht dasselbe Privilegium. Es wurde größer, und je größer, von desto auffälligerer Schönheit, die selbst unter den Lumpen, die die Jungfrau trug, hervortrat. Jedes Mal, wenn Sanson ihr begegnete, dachte er betrübt an das hässliche Los, das dem schönen Wesen bald zuteil werden musste, und er fragte sich, ob die größte Mildtätigkeit, die er für sie üben könne, nicht der Versuch sein würde, sie dem ihr vorbehaltenen elenden Schicksal zu entreißen.
Als er eines Morgens aus der Messe kam, nahm Sanson von Longval den Moment wahr, wo sich das junge Mädchen entfernt hatte, näherte sich dem Bettler, setzte ihm seine Gefühle über jenen Punkt auseinander und schlug ihm vor, ihn an einige mitleidige Personen zu weisen, die dadurch, dass sie seine Tochter in einem Erziehungshause unterbrächten, dem armen Kinde eine ehrenwerte Existenz sichern könnten.
Eine lebhafte Bewegung hatte sich in dem Gesichte des Bettlers gemalt, als mein Ahne zu ihm getreten war, aber kaum hatte dieser seinen Vorschlag auseinandergesetzt, als sich bei ihm eine lebhafte Ungeduld zu erkennen gab. Er unterbrach ihn dadurch, dass er sein Anerbieten mit großem Zorne zurückwies, und als Sanson von Longval zu sprechen fortfuhr, sagte er in einem Tone, der bewies, wie groß seine väterliche Zärtlichkeit sei:
»Wer würde mich denn noch lieben, wenn sie nicht mehr da sein würde?«
Von diesem Tage an kam das junge Mädchen nicht nur nicht an meinen Ahnen heran, um ihn um eine Gabe zu bitten, sondern, wenn er vorüberging, sah er sie auch mit spöttischem Ausdruck lächeln, und der alte Bettler drehte absichtlich den Kopf von ihm ab.
So verflossen einige Monate.
Als Sanson von Longval sich wie immer eines Morgens nach der Kirche begab, fand er den Armen und seine Gefährtin nicht mehr auf ihrem gewöhnlichen Posten, und auch die nächsten Tags bemerkte er sie nicht. Darüber erstaunt, befragte er ihre Genossen, aber diese konnten ihm keine Auskunft geben.
Einige Tage später gab der Schandpfahl der Hallen der Stadt ein Schauspiel, das großes Aufsehen machte.
Jean Bourret, der Prokurator des Königs, François le Tourneur, der Assessor, und Pierre de Manoury, der Prevot, die der Untreue in dem Prozesse eines Edelmannes namens Charles de Gonbert des Ferrières überführt worden, den sie, um sich seiner Güter zu bemächtigen, an den Galgen gebracht hatten, waren zur Landesverweisung und Ausstellung am Schandpfahle verurteilt worden.
Der Zusammenlauf des Volkes war vor den Pfeilern der Hallen unermesslich, und obgleich es gerade ein Markttag war, waren es gegen die sonstige Gewohnheit nicht gerade Landleute, die sich da in Masse eingefunden hatten. Sanson von Longval, der seinen Sohn begleitet hatte, unterschied in der Menge manche ihm bekannte Gesichter, die bewiesen, dass die »Böhmische Armee« sehr neugierig war, zu sehen, was für Figuren die, welche die Gewohnheit gehabt, andere in die fatale Laterne zu schicken, jetzt selbst darin machten.
Als Sanson sich abends zurückgezogen hatte und gerade in die Rue de Puits-d'Amour eintrat, hörte er lautes Lachen und wandte den Kopf danach um. Die Lacherin war ein schönes Mädchen, das soeben am Arme eines Taugenichtses aus einem Wirtshause kam und in dem er, obgleich es mit fast prächtiger Eleganz gekleidet war, sofort die Tochter des Bettlers von Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle wiedererkannte.






