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Diese hatte ihrerseits auch gleich den Greis wiedererkannt, der so viele Geldstücke in ihre kleine Hand gelegt. Wie durch Zauber hörte ihre Heiterkeit auf, sie zog ihren Begleiter am Arm und verschwand mit ihm in der Finsternis der Straße Mondétour.
Eine Verbrecherhöhle im 17. Jahrhundert
Seit seiner zweiten Verheiratung verließ Charles Sanson selten nach Sonnenuntergang seine Wohnung. Sein schreckliches Amt zog ihm soviel Feindschaft unter den Übeltätern, mit denen Paris damals überschwemmt war, zu, und das Viertel, in dem er wohnte, war so öde, dass eine solche Vorsicht nur sehr vernünftig gewesen wäre, hätte er nicht noch in dem Reize, den er bei der jungen Frau fand, die sich der Tröstung seines Alters widmete, einen anderen Grund zur Häuslichkeit gehabt.
Eines Abends indessen, bald nach der Ausstellung des Prokurators und seiner Kollegen, hatte er sich in der Gasse Saint-Claude hinter den Schlachtbänken verspätet; er musste mitten in der Nacht in seine Wohnung zurückkehren und war nur von einem einzigen Knechte begleitet, der ihm mit einer Laterne voranging.
Ohne Hindernis hatten sie die Straße Saint-Eustache, die Rue Poissonnière und was man damals die Rue Sainte-Anne nannte, die nur eine Verlängerung der Rue Poissonnière war, überschritten, als bei ihrer Ankunft bei der hölzernen Brücke, die damals dazu diente, den sich durch die Felder schlängelnden Kanal zu überschreiten, da wo sich heute die Gebäude des Konservatoriums erheben, fünf oder sechs Männer aus einem Baumgarten, der den Weg begrenzte, auf sie losstürzten und sie angreifen zu wollen schienen.
Der Knecht zog sich auf seinen Herrn zurück, aber er hatte noch nicht zehn Schritte auf diesen zu getan, als ihn ein Pistolenschuss – das Pistol fing damals an, die Lieblingswaffe der Banditen zu werden – tot auf den Weg niederstreckte.
Mein Ahne hatte schon das breite kurze Schwert, das den Degen an seiner Seite ersetzt hatte, gezogen, und da er so entschlossen wie kräftig war, warf er sich den Anstürmenden entgegen, als einer von diesen, der sich hinter ihn geschlichen hatte, ihn mitten um den Körper fasste und ihn dadurch hinderte, von seiner Waffe Gebrauch zu machen.
Einen Augenblick später war Sanson von Longval an den Boden geworfen, geknebelt und gebunden mit einer Geschicklichkeit, die wohl anzeigte, dass die, mit denen er zu tun hatte, auf die eine oder die andere Weise einige Erfahrung darin erlangt hatten.
Ein Mann von riesenhafter Figur, der eine Art von Pilgerkutte trug, lud ihn auf seine Schultern, und die ganze Bande setzte sich mitten durch die Felder und Baumanlagen so in Marsch, dass einige vorausgingen und die anderen den Gefangenen umgaben.
Als sie auf der Höhe der Grange-Batelière waren, deren Licht mein Ahne durch die Bäume erblickte, hielten sie mitten auf einem Felde an.
Der, welcher Sanson von Longval trug und den seine Kameraden den Coquillard4 nannten, machte jetzt einen Sack los, den er wie ein Bandelier über der Schulter getragen hatte; er zog ihn dem Gefangenen über den Kopf und befestigte ihn gut um seinen Hals, so dass er nun auch nichts mehr sehen konnte, nachdem er schon stumm gemacht worden war.
Die Banditen hatten nur eine Sorge: ihren Gefangenen irrezuführen.
Mochte dem Coquillard die Last auf seinen Schultern zu schwer werden oder man einen Weg bei bewohnten Häusern zurückzulegen haben, er löste den Strick, der die Beine Sanson von Longvals zusammengehalten hatte, nahm den einen Arm des alten Scharfrichters, einer seiner Gefährten bemächtigte sich des anderen, und so zwangen sie ihn, zwischen ihnen zu gehen.
Die Unterhaltung seiner Führer hörte plötzlich auf, und sie bemühten sich, das Geräusch ihrer Schritte zu unterdrücken; Sanson von Longval begriff, dass sie sich an einem bewohnten Orte befinden müssten. So gingen sie etwa hundert Schritte fort, dann hielten sie an, und mein Ahne spürte durch die schlechte Leinwand, die ihm als Maske diente, den scharfen und üblen Geruch von heißem Fett, der den Pariser Kneipen eigen ist.
Man flüsterte um ihn, er hörte das dumpfe Knarren einer Falltür und fast zugleich einen tumultuarischen Lärm von Gesang, Geschrei und Lachen, der aus der Erde heraufzudringen schien.
Seine Führer ließen ihn eine Leiter hinabsteigen. Die Worte derer, denen er sich näherte, wurden immer bestimmter; das Geschrei: »Der Henker! Der Henker!« und ironische Beifallsrufe vereinigten sich zu einem höllischen Konzert, aber in dem Augenblick, wo der Fuß des Scharfrichters die letzte Leiterstufe verließ, befahl eine Stimme Schweigen, und der Lärm hörte sofort auf. Dieselbe Stimme wies darauf diejenigen, welche »den Herrn Beamten des Königs« führten, an, die Fesseln und den Knebel abzunehmen, was auch sogleich geschah.
Aus der großen Vorsicht, die man bei ihm gebrauchte, hatte Sanson von Longval geschlossen, dass man ihm nicht an das Leben wolle; dennoch erkannte er, als er die Augen frei hatte, dass er sich mitten in einer Gesellschaft der furchtbarsten Banditen der Stadt befinde.
Als der Lärm, den die Gegenwart des Henkers hervorbrachte, aufgehört hatte, nahmen alle diese Personen ihre unterbrochenen Beschäftigungen wieder auf. Die einen spielten, andere tranken, einige, die mit leiser Stimme zueinander sprachen, schienen irgendwelche Unternehmungen zu verabreden. Die Ältesten und Jüngsten beschäftigten sich mit den Mädchen, großen und starken Frauenzimmern mit blitzenden Augen und kühnen Gebärden, von deren Gesichtern man bloß das Profil zu sehen brauchte, um ihnen den Platz, der ihnen in der Gesellschaft zukam, anweisen zu können.
Sanson von Longval wusste, wie nützlich es ihm sein würde, nicht eingeschüchtert zu erscheinen; er war entschlossen, zuerst das Wort zu ergreifen und die Leute zu fragen, was sie von ihm wollten, als ein Greis, den er noch nicht bemerkt hatte und der ganz in eine Partie, die er mit einem seiner Gefährten spielte, vertieft war, die Absicht des Gefangenen zu erraten schien und ihm durch einen Wink mit der Hand Schweigen und Geduld gebot.
Sanson von Longval glaubte seine Zeit nicht besser anwenden zu können, als sich diesen Greis zu betrachten, der, nach der Achtung zu urteilen, die ihm alle Anwesenden bezeugten, die erste Rolle an diesem Orte spielte.
Es war eine sonderbare, fast fantastische Figur.
Er schien bereits die letzte Grenze des Menschenalters erreicht zu haben; seine Haut war fahl, verschrumpft und mit Runzeln bedeckt, die keinen anderen Zweck zu haben schienen, als einen unbeschreiblichen Eindruck zu machen.
Das Spiel hatte ihn so erhitzt, dass er, unbesorgt darüber, seinen kahlen Schädel zu entblößen, seine Perücke abgenommen hatte, die nun ein großes rothaariges Mädchen, das neben ihm saß, nicht ohne eine gewisse Ehrerbietigkeit wie einen Falken auf ihrer Hand trug. Er war mit einem dunkelgelben Wamse und ebensolchen Hosen bekleidet und trug hohe Stiefel von Büffelleder mit silbernen Sporen. Der Schnitt seiner Kleider war ein wenig altmodisch, ihre Stickerei glanzlos und schadhaft, aber er trug sie mit einem Stolze, der mit der geborgten Eleganz seiner Genossen in großem Widerspruche stand, und in der Art und Weise, wie er den langen Degen mit eisernem Korbe, der am Bandeliere hing, zwischen seinen Beinen hielt, lag eine Leichtigkeit, die mehr an den Edelmann als an den Banditen erinnerte.
Das Glück war ihm nicht günstig; er verlor und warf die Karten mit einem gaskognischen Fluche, bei dem mein Ahne erzitterte, weit von sich.
Das Gesicht des Greises hatte keine Erinnerung in ihm erweckt, aber diesen Fluch glaubte er schon oftmals von einer Stimme gehört zu haben, die sonderbarerweise derjenigen ähnelte, die ihn soeben ausgestoßen hatte.
Indessen war der alte Spieler auf die Tonne gestiegen, die ihm soeben noch als Tisch gedient hatte; durch eine Handbewegung rief er alle Anwesenden um sich zusammen, und dann wandte er sich an Sanson von Longval mit affektierter Höflichkeit, und indem er es vermied, sich des Diebsidioms, in dem sich seine Genossen ausdrückten, zu bedienen, fragte er ihn, ob er wirklich der Scharfrichter der Stadt Paris sei.
»Ja,« erwiderte mein Ahne in rauem Tone. »Was wollen Sie von mir? Ihresgleichen vermeidet mich gewöhnlich eher, als es mich sucht.«
Bei dieser Antwort verzog sich der Mund des Greises zu einer Grimasse, die zweifellos ein Lächeln vorstellen sollte, und er erwiderte mit liebenswürdiger Miene:
»Cap de Dions! Ich schwöre Ihnen, mein lieber Herr, dass Sie sich in uns täuschen.«
»Nun kurz, was wünschen Sie? Warum haben Sie mich zum Gefangenen gemacht und hierher geführt? Warum haben Sie meinen Knecht ermordet?«
»Das sind Kleinigkeiten von geringer Wichtigkeit; man macht keine Omelette, ohne Eier zu zerschlagen. Kommen wir direkt zu dem, mein lieber Herr, was uns beschäftigen soll. Wir bedurften Ihrer Dienste, wir hätten sie wahrscheinlich vergebens erbeten und haben es daher so eingerichtet, dass wir sie fordern können; haben wir das nicht gut gemacht?«
Sanson von Longval machte nur eine Gebärde der Nichtachtung.
»Es gibt hier einen Menschen, der zum Tode verurteilt ist,« fuhr der Greis mit seiner ironischen Kaltblütigkeit fort, »und wir wollen nicht in Ihre Rechte und Privilegien eingreifen. Man wird Ihnen diesen Mann überliefern, und wir hoffen, dass Sie uns nicht die Ehre verweigern werden, Zeugen Ihrer Geschicklichkeit sein zu dürfen.«
»Ein Verurteilter?« rief Sanson von Longval, seinerseits in Lachen ausbrechend; »ein Verurteilter? Durch wen ist er verurteilt? Durch das Châtelet, die Kriminalkammer oder den Herrn Polizeileutnant? Sie, der Sie zu mir sprechen, sind wahrscheinlich der Schreiber des Gerichtshofes, und ohne Zweifel werden Sie mir auch die Sentenz in aller Form vorlegen können! Wo ist die Prozedur, wo der Befehl zur Hinrichtung, damit ich sogleich meine Leute beauftragen kann, die Stricke zu schmieren oder das Schwert zu schleifen?«
»Mein Herr, Sie sollten überzeugt sein, dass jeder Widerstand unnütz ist. Diese Herren haben beschlossen, sich das Vergnügen einer Hinrichtung nach allen Regeln zu machen, bei der es an nichts fehlen soll, selbst nicht an Ihnen, und wenn Sie wüssten, bis wie weit dieselben ihren Eigensinn zu treiben pflegen, so würden Sie uns mit Ihren überflüssigen Protestationen verschonen. Übrigens, um Ihr Gewissen ganz vorwurfsfrei zu lassen, können sowohl ich wie meine Kameraden Ihnen versichern, dass der Mann, an dem Sie Ihre Talente ausüben sollen, ebenso schuldig ist, als jemals einer am Ende des hübschen Strickes gehangen hat, von dem Sie eben zu uns sprachen.«
»Eine schöne Kaution, die Sie mir da stellen!« sagte Sanson von Longval barsch. »Mein Schwert ist, wie Sie wissen müssen, das Schwert des Gesetzes. Ich kann es gegen Sie ziehen, aber nie wird es für Sie seine Scheide verlassen. Wenn Sie Morde zu vollziehen haben, so nehmen Sie Ihre Dolche zu Hilfe; diese werden keine Veranlassung haben, sich zu weigern.«
Ein Gemurmel des Zornes durchlief die Versammlung; der Greis machte eine Bewegung, und alles schwieg wieder still.
Sanson von Longval begann sich über die Langmut zu wundern, mit welcher der Greis seine Beleidigungen ertrug, und die Vermutung stieg in ihm auf, dass jene einen geheimnisvollen Zweck verdecke.
Zwei der Leute, über die er zu gebieten schien, traten aus der Gruppe auf eine enorme Tonne zu, die auf einem Untersatze lag; sie stießen gegen den Boden, der sich nun wie eine Tür drehte. Mein Ahne vernahm ein Stöhnen, das anzeigte, dieser Käfig neuerer Art sei bewohnt, und wirklich zogen die Banditen einen gefesselten Mann heraus und schleppten ihn an den Füßen vor diesen eigentümlichen Gerichtshof.
Mein Ahne hatte Mühe, die Gesichtszüge des Gefangenen zu unterscheiden.
Der Greis stieg nun von seinem Sitze nieder, nahm eine der Lampen samt der Kette, mit der sie befestigt war, und indem er dieselbe dem Unglücklichen vor das Gesicht hielt, sagte er zu dem Scharfrichter:
»Kennen Sie ihn?«
Als Sanson von Longval ihm antwortete, dass er diesen armen Menschen schon seit mehreren Jahren unter der Halle von Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle gesehen habe, verzog ein seltsames Lächeln die Lippen des Banditenchefs.
In der Tat war es der Bettler, dessen Tochter mein Ahne wenige Tage zuvor begegnet war. Aber er war sehr verändert: seine Augen waren von Tränen rot, und diese Tränen mussten so reichlich geflossen sein, dass sie über seine Wangen Furchen gezogen zu haben schienen. Seine Haltung war gebeugt, und von Zeit zu Zeit zitterten alle seine Glieder unter einem konvulsivischen Schauder, dagegen war das Geschwür auf seinem Beine vollständig verschwunden, und man bemerkte an der Stelle, wo es sich so lange gezeigt hatte, auch nicht eine Spur davon.
Seine rollenden Augen richteten sich mit sichtlicher Angst auf die Gesellschaft und versuchten das Gedränge derer, die ihn im Kreise umgaben, zu durchdringen. Als er die Gestalt, die er zu suchen schien, nicht erblickte, ließ er seinen Kopf auf die Brust niederfallen.
Der Greis ergriff wieder das Wort.
»Meine Herren,« sagte er, »dieser Mann hat seine Brüder bestohlen. In der Familie, deren Haupt zu sein ich die Ehre habe, ist es Sitte, dass von allen Einnahmen, die der Himmel uns schickt, ein Teil beiseite gelegt werde; dieser Teil verbleibt für schlechte Tage als Reserve oder auch für diejenigen unter uns, die in ihren Handelsgeschäften Widerwärtigkeiten erlitten haben. Dieses Geld habe ich diesem Manne anvertraut, und er hat es sich selbst zugeeignet. Als ich von ihm Rechnungslegung forderte, war seine Börse ebenso leer als das Gehirn eines Abbé. Habe ich wahr gesprochen?«
Der Bettler machte ein bejahendes Zeichen.
»Schändlicher Mensch!« fuhr der Greis, sich an den Bettler wendend, fort; »wie ich, hast du deinen Platz unter den Bettlern selbst gewählt. Du wusstest recht gut, dass die Gesellschaft, welche du hintergingst, ihre Gesetze hat. Du wusstest auch, welche Strafe auf diesen Verrat steht!«
»Ich wusste es«, murmelte der Mann.
»Der Tod! Der Tod!« riefen alle Anwesenden tumultuarisch. »Tod dem schlechten Menschen! Tod dem Diebe!«
Der Greis gebot Stillschweigen.
»Du hast den Tod verdient,« sagte er zu dem Bettler, »und du sollst ihn erleiden, aber ich möchte dir wenigstens die Qualen ersparen, die ihn noch schrecklicher machen.«
Der arme Teufel machte eine Gebärde, die bezeichnen sollte, dass die Qualen, mit denen ihn der Hauptmann bedrohte, ihm gleichgültig seien.
»Sei in deiner letzten Stunde aufrichtig, mein armer Bursche, und bei der Freundschaft, die ich für dich gehabt habe, schwöre ich dir, dass du nicht auf die Tortur kommen sollst, müsste ich auch dein Schicksal teilen. Was hast du mit dem Gelde dieser Leute gemacht?«
»Ich habe es dir schon gesagt, Hauptmann,« erwiderte der Bettler, »ich habe es durchgebracht.«
»Du lügst – wenn er alt geworden, wird der Teufel Eremit; seitdem du alt geworden, bist du sonderbarerweise geizig geworden. Du lügst, sage ich dir! Du hast das Geld irgendwo vergraben; zeige uns an, wo wir wiederfinden können, was uns gehört!«
Der alte Bettler blieb stumm, und die Hitzigsten in der Bande wollten sich auf ihn stürzen. Der Greis schützte ihn noch einmal, aber es war augenscheinlich, dass, so groß sein Ansehen bei den Bettlern auch sein mochte, dieses bald nicht mehr Stich halten werde; er kam auf meinen Ahnen zu.
»Also, Herr von Longval,« sagte er zu ihm mit leiser Stimme und indem er besonders den Titel, den er ihm gab, betonte, »dieser Mensch ist für Sie weiter nichts als der Bettler, dem Sie auf dem Kirchhofe von Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle einige Pfennige hinwarfen, durchaus nichts anderes?«
Der greise Scharfrichter wich betroffen zurück. Die undeutlichen Erinnerungen, denen er, da sie zu unwahrscheinlich waren, sich nicht zu überlassen gewagt hatte, wurden ihm plötzlich klarer. Er betrachtete die beiden Personen, die er vor sich hatte, genauer, und in einer Sekunde fand er unter ihren verwelkten Gesichtszügen und ihrer pergamentartigen Haut die beiden Gefährten seiner Jugend wieder.
»Blignac!« – »Paul!« – Er schrie laut auf und stürzte sich auf den Bettler. »Du bist hier?! Du mitten unter diesen –.«
Herr von Blignac ließ ihn nicht aussprechen.
»Gottes Tod! Herr von Longval,« sagte er mit der ihm eigentümlichen sarkastischen Betonung, »es scheint mir, dass wir uns gegenseitig keine Vorwürfe zu machen haben; obgleich wir verschiedene Wege gegangen sind, können wir uns doch rühmen, alle drei recht hübsche Karrieren gemacht zu haben.«
Die Unverschämtheit, die Herr von Blignac in seiner Erniedrigung bewahrt hatte, empörte Sanson von Longval, aber gleichzeitig fühlte er ein schmerzliches Mitleid mit seinem Vetter, der für sein liederliches Leben so gerecht, aber auch so grausam gestraft worden war. Er kniete neben ihm nieder und versuchte ihn sowohl zu Gefühlen der Reue zurückzuführen, als ihn zu dem Geständnisse, das man von ihm verlangte, zu bewegen.
Paul Bertaut blieb aber taub gegen alle Bitten, und als hätte er ihnen ein Ziel setzen wollen, schrie er mit zitternder Stimme:
»Ich habe es gestanden – ich habe dieses Geld durchgebracht, ja, ich habe es durchgebracht! Mein Gott, erbärmliche elftausend Livres, was ist denn das? Ich habe schon viel mehr verschwendet! Erinnerst du dich nicht mehr, Hauptmann, als wir uns bei der Rückkehr von Montreal in London aufhielten? Elftausend Livres, Jesus! das reichte für einen Tag hin. Da ich nun gestanden, dass ich euer Geld gestohlen habe, so lasst mich sterben! Lasst mich schnell sterben, ich will, ich will sterben!«
Die Leute, welche um ihn her standen, verstanden nichts von dieser Sehnsucht, zu sterben, die sich des Bettlers bemächtigt hatte, und sahen sich mit stummem Erstaunen an.
Aber Blignac beugte sich zu seinem alten Freunde nieder und sagte zu ihm:
»Ich begreife nicht, was deine Absicht ist, aber ich bin sicher, dass du uns zu betrügen suchst. Die Zeit, von der du sprichst, Paul, liegt weit hinter uns, und du weißt, was heute ein Pfennig wert ist. Sage mir doch, warum du deine Tochter, die du so sehr liebst und von der du dich nie trennst, an demselben Tage aus deiner Wohnung geschickt hast, an dem ich daselbst mit dir abrechnen sollte. Sage mir, warum alle unsere Bemühungen, sie wieder aufzufinden, vergeblich gewesen sind?«
Als man von seiner Tochter sprach, funkelten die Augen Paul Bertauts, und ein tiefer Seufzer hob seine Brust, aber er antwortete nicht auf die an ihn gerichteten Fragen.
Mein Ahne nahm nun wieder das Wort und erzählte Blignac, wie er am Abend der Ausstellung des Prokurators dem jungen Mädchen begegnet sei, ohne sein Erstaunen über die Toilette, in der er sie gesehen, und das verdächtige Aussehen ihres Begleiters zu verbergen.
Der Hauptmann stieß einen lauten Fluch aus und rief, sich erhebend:
»Gottes Tod, Schurke! Deine Tochter hat dich bestohlen! Warum sagst du es nicht?«
»Bestohlen?« rief der Bettler, der die Beute wilder Verzweiflung wurde und durch eine mächtige Anstrengung sich von seinen Fesseln zu befreien strebte. »Bestohlen? Das ist nicht wahr, hörst du, Hauptmann? Bestohlen? meine Tochter, ein Kind, das seinen Vater so sehr liebt! Ach, großer Gott! wer hat so etwas erfinden können? – Nein, nein, Hauptmann, nicht sie, sondern ich habe den Fehler gemacht! Ich allein bin strafwürdig.«
Blignac zuckte die Achseln mit einem Seitenblick auf Sanson von Longval, welcher sagte, dass das, was bisher nur Vermutung, ihm jetzt zur Gewißheit geworden sei.
Trotzdem versuchte er noch, seinen alten Freund zu retten, und fragte seine Leute, ob einer von ihnen der Tochter des Bettlers, die sie in ihrer Diebessprache mit dem Namen »Schönauge« bezeichneten, begegnet sei.
Einer der Bettler erwiderte, dass er in der Tat glaube, sie in der Postkutsche von Rouen neben einem Individuum gesehen zu haben, das ihm in der doppelten Eigenschaft als Werber und Spion bekannt sei, aber die Kutsche, die gerade abfuhr, war so schnell vorübergerollt, dass es ihm unmöglich geworden sei, sich sicher zu überzeugen, ob sie es auch wirklich gewesen.
»Gut,« sagte der Hauptmann, der Zeit zu gewinnen suchte, »Drillon und Marmotte werden nach Rouen reisen, und wenn wir erst wissen, an wen wir uns zu halten haben, wird die Sache dieses Burschen besser stehen.«
Ein lautes Gemurmel, das durch die ganze Versammlung lief, bewies, dass die Majorität weit entfernt war, diese Ansicht zu teilen.
Die Autorität eines Hauptmannes in dieser »böhmischen Republik« galt mehr dem Namen nach als in Wirklichkeit. Ein solcher hatte nur Einfluss durch seine Stärke und Kühnheit und besonders durch die Teilnehmer, die er zu seinen persönlichen Unternehmungen heranzog.
Dies war nun gerade nicht der Fall bei dem alten Kameraden meines Ahnen vom Regiment de la Boissière.
Wie Sanson von Longval später erfuhr, hatte Herr von Blignac, nachdem er sich allen Ausschweifungen überlassen und den vollständigen Untergang dessen, zu dessen bösem Geiste er sich gemacht, veranlasst, vollständig verschuldet und ohne Hilfsmittel bei seiner Rückkehr nach Paris seine erbärmliche Laufbahn dadurch gekrönt, dass er ein Hochstraßendieb wurde und den armen Teufel mit sich in seinen Fall zog.
Unter dem Namen Grand-Jacques hatte er eine Bande alter Schmuggler und entlassener Soldaten zusammengebracht und an ihrer Spitze die großen Landstraßen im Osten Frankreichs unsicher gemacht.
Sechs Jahre lang führte er dieses Abenteurerleben. Später, als er eine Postkutsche beraubt hatte, die ihm auf sein Teil sechzigtausend Livres einbrachte, hatte er sich in Paris niedergelassen, wohin ihm Paul Bertaut schon vorangegangen war.
Dieser hatte von seinen Kreuz- und Querzügen ein Kind mitgebracht, das er von einer zu der Bande gehörigen Mulattin hatte.
Seine Liebe zu diesem Kinde übte großen Einfluss auf seine Empfindungen. Er konnte sich zwar nicht entschließen, mit seiner beklagenswerten Vergangenheit zu brechen, diese Liebe brachte ihn aber wenigstens dahin, an den Plündereien nicht mehr direkten Anteil zu nehmen. Da er sich nicht entschließen konnte, sich von seiner Tochter zu trennen, hatte er angefangen, mit ihr an den Kirchentüren zu betteln.
Was Herrn von Blignac anbetraf, so hatte er den Schauplatz seiner Taten, aber nicht seine Lebensweise geändert.
Die Vergnügungsörter der Stadt waren nicht weniger ergiebig für ihn, als die Landstraßen es gewesen; er fand dort doppelte Gelegenheit, seine vorherrschende Leidenschaft zu befriedigen und zahlreicheren Narren zu begegnen, die er im Spiel plündern konnte.
Bei dieser neuen Existenz musste er aber sehen, wie der Zauber verschwand, den der Hochstraßenräuber auf Leute ausübte, deren Mehrzahl genug Kühnheit besaß, eine Börse, einen Degen oder Mantel zu entwenden, und obgleich dieselben diesem Patriarchen des »Böhmerlandes« immer noch große Vorzüge gaben, so hatte er doch schon die Erfahrung gemacht, dass dieser Vorzug an dem Tage, an dem er sich mit der Majorität in Opposition befinden würde, schwinden müsse.
Die Gegenwart Sanson von Longvals reichte nicht allein hin, den lustigen Zynismus, den er affektierte, herabzustimmen, sondern sie bewirkte auch, dass er die Aufrichtigkeit in seiner elenden Lage, vielleicht noch das einzige Gute an ihm, nicht zu bewahren wagte; sie zwang ihn, die Maske der Heuchelei vorzunehmen.
Er kniete bei dem Bettler nieder, er befahl ihm nicht mehr, zu gestehen, sondern bat ihn darum; er legte so viel Salbung in seine Bitten und sprach mit so viel Zärtlichkeit sein Bedauern über die unbegreifliche Hartnäckigkeit des armen Alten aus, dass mein Ahne ihn eine Weile für aufrichtig hielt.
Paul Bertaut blieb trotz so vieler Beredsamkeit taub; als jener von ihm und den Strafen, die ihn erwarteten; sprach, schien er ihn nicht einmal zu verstehen; er hatte alles vergessen, ausgenommen, dass man sein Kind bedroht habe, und mit der höchsten Festigkeit eines der edelsten Gefühle bezog er alle Antworten auf seine Tochter; er versicherte dem Hauptmann, dass sie unschuldig sei, und bemühte sich, dieser Überzeugung auch in dem Geiste des Böhmenchefs Aufnahme zu verschaffen; mit den schrecklichsten Schwüren rief er den Himmel zum Zeugen, dass er allein der Schuldige sei.
Blignac erhob sich wie in tiefer Entmutigung; durch eine Gebärde schien er zu Sanson von Longval sagen zu wollen: »Ich kann nicht mehr tun.«






