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»Sie werden doch nicht den verlassen, dessen ganzes Unglück Sie allein hervorgerufen haben?« fragte mein Ahne.
Das Gesicht des alten Hauptmanns erbleichte unter seiner Maske von Runzeln; er zögerte eine Sekunde, aber die Leute waren schon so nahe getreten, dass sie jedes seiner Worte hören mussten.
»Bah!« sagte er mit einer zu schrecklichen Gleichgültigkeit, als dass man sie für erheuchelt hätte halten können; »was tut es in unserem Alter, ob es ein bisschen früher oder später geschieht?«
»Sie meinen gewiss, dass es wenig tut, ob so weiße Köpfe wie die unserigen schon heute oder morgen fallen, wenn wir hier unterliegen, indem wir ihn verteidigen?«
Ein wahrer Donner von Verwünschungen erhob sich in dem Kreise der Banditen, und ihr Hauptmann, der begriff, dass man mit der Sache enden müsse, gab ein Zeichen. Der dreifache Kreis löste sich und vierzig Arme streckten sich nach dem, der bestimmt war, den blutdürstigen Appetit dieser Elenden zu befriedigen.
Sanson von Longval versuchte sie zurückzustoßen und mit seinem eigenen Körper den armen Bertaut zu decken; aber von dem Wogen dieser Menschenwellen fortgerissen, war er bald weit von seinem Vetter getrennt, und als er einem der Banditen das Pistol aus dem Gürtel reißen wollte, versetzte ihm dieser, seiner Absicht zuvorkommend, einen Faustschlag, der ihn zu Boden streckte.
Als er wieder zu sich kam, war Blignac an seiner Seite und bemühte sich, ihn dadurch wiederzubeleben, dass er ihm einige Tropfen Branntwein auf die Lippen goss.
In demselben Augenblicke ertönte ein schrecklicher Schrei.
Es war der erste Angstruf, welchen der Schmerz Paul Bertaut entlockte.
Die Banditen hatten bereits eine Tortur erfunden, und ihre Erfindungsgabe übertraf die Schranken, welche die Justiz damaliger Zeit für die Schuldigen hatte.
Eine Feuerpfanne war herbeigeholt worden und man brannte die Fußsohlen Paul Bertauts an der Flamme.
Sanson von Longval stieß seinen alten Kameraden zurück und wollte aufspringen, aber von seinem Falle noch immer betäubt, wankte er wie ein Betrunkener und fiel wieder schwer auf den Boden. Er lehnte sich gegen die Mauer, stützte die Ellenbogen auf die Knie, steckte die Daumen in seine Ohren und bedeckte die Augen mit den Händen; er wollte sich taub und blind machen.
Was sich inmitten des von den Banditen gebildeten Kreises zutrug, war so schrecklich, dass ich, um nicht den Vorwurf, den man mir gemacht hat, das Entsetzliche zu genau zu schildern, zu rechtfertigen, meine Leser um die Erlaubnis bitten muss, über diese finsteren Einzelheiten schweigen zu dürfen.
Die Verbindungen der Pariser Banditen machten damals einen sehr häufigen Gebrauch von der Folter, bald um die Fehler eines ihrer Angehörigen zu bestrafen, bald um ihre Opfer zu zwingen, ihnen das, was ihre Begierde gereizt hatte, auszuliefern.
Am häufigsten wurde, wie bei dem Vorfall, den ich soeben erzähle, die Feuertortur angewandt.
Paul Bertaut hielt sie mit einer Festigkeit aus, die sich nicht einen Augenblick verleugnete. Seine Füße waren gebraten; der Geruch des verbrannten Fleisches war so schrecklich geworden, dass die wütendsten der Elenden, die ihn umgaben, sich gezwungen fühlten, den Kopf abzuwenden; eine Frau war in Ohnmacht gefallen. Er blieb bei dem Märchen, das er erfunden hatte, seine Tochter für unschuldig zu erklären und alles auf sich zu nehmen.
Selbst als die unglückliche menschliche Maschine zu unterliegen begann, als der wütende Schmerz sein ganzes Wesen vernichtete, in seiner Angst, die ein wahres Delirium hervorrief, verleugnete er seinen Entschluss nicht. Um seinen wankenden Mut aufrechtzuerhalten, betete er, und die er anrief, war sein undankbares und schuldiges Kind, das ihn verlassen hatte und dessen Verfehlung die Ursache seines Todes werden sollte. Er nannte es mit den süßesten, zärtlichsten Namen, und als ob sein Gehirn in dieser entsetzlichen Lage die Kraft behalten hätte, das Bild deren, für die er litt, vor sich zu zaubern, so sah man seine Lippen sich bewegen und ihn in die Luft hinein Küsse geben.
Herr von Blignac war infolge der Anstrengungen, die er machte, um seine Bewegung zu beherrschen, leichenblass geworden. Ohne sich um die Folgen, die sein Handeln haben konnte, zu bekümmern, beschloss er, dieser abscheulichen Szene ein Ende zu machen, indem er diesen Henkern befahl, mit den unnützen Grausamkeiten aufzuhören und dem Delinquenten, da er ein Geständnis verweigere, Gnade für seine Beständigkeit zu bewilligen.
Dieser Vorschlag lief dem blutdürstigen Instinkte und der Wildheit der Banditen aber gerade zuwider. Sie behaupteten, dass, wenn es wahr sei, dass das junge Mädchen das Geld geraubt habe, dies doch in Übereinstimmung mit ihrem Vater geschehen sei, und sie hofften noch immer, ihn durch Steigerung der Qualen zu bestimmen, dass er sie wieder in Besitz ihres Schatzes setze. Daher unterließen sie auch nicht, gegen die sonderbare Schwäche ihres Hauptmanns zu murren, aber dieser sprach mit so viel Bestimmtheit, dass sie sich entschlossen, ihm zu gehorchen.
Ein an der Decke des Gewölbes befindlicher Haken musste hier die Stelle des Galgens vertreten. Man befestigte ein Seil daran, warf die Schlinge dem armen Bertaut um den Hals und zog ihn empor.
Aber der Strick, der alt und mürbe war, riss, und der Delinquent rollte auf den Boden.
Während man nun in einiger Verwirrung einen neuen Strick suchte, bemerkte einer der Diebe ironisch, dass der Bettler von Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle ein ebenso guter Edelmann wie der Hauptmann sei, dass er daher ein Recht habe, durch das Schwert zu sterben, und dass man zu zartfühlend sei, ihn seines Vorrechts berauben zu wollen.
Eine der Bohlen, die den Fässern zur Unterlage gedient hatten, musste die Stelle des Blockes vertreten. Man zwang den unglücklichen Bertaut, seinen Kopf auf diesen Block zu legen, und der Kräftigste der Bande führte, nachdem er sich mit einer Art von großem Messer bewaffnet hatte, damit einen Schlag auf seinen Nacken.
War es nun aber Ungeschicklichkeit, oder folgte der Elende einer teuflischen Einflüsterung, die seiner Meinung nach zu kurzen und leichten Leiden zu verlängern, der Hieb ging fehl und machte eine furchtbare Fleischwunde, ohne die Lebensnerven zu treffen.
Ehe jener noch daran denken konnte, seinen Versuch zu wiederholen, erhob sich der Delinquent, dem Todesschrecken, der die menschlichen Kräfte verdoppelt, gehorchend, zerriss die Bande, die ihn fesselten, und begann, ganz außer sich, in dem Keller umherzulaufen.
Die Frauen hielten ihre Gesichter mit den Händen bedeckt und stießen ein wirres Schreckensgeheul aus, die Männer liefen, wie von einem Zauber getrieben, wild durcheinander, und Paul Bertaut, ganz von Blut übergossen, floh, während er mit einer Stimme, die nichts Menschliches mehr an sich hatte, nach dem Tode rief, vor dem, der ihm denselben geben sollte.
Bei diesem Anblick vergaß mein Ahne alle Gefahren, die ihn umgaben; er hatte nur noch den einen Gedanken, seinen unglücklichen Verwandten der Grausamkeit seiner Verfolger zu entreißen und sich an einem derselben zu rächen.
Mit unwiderstehlicher Gewalt und ehe Herr von Blignac seiner Absicht entgegentreten konnte, hatte er den Degen, den jener an der Seite trug, aus seiner Scheide gerissen.
In diesem Augenblick kam der Delinquent, immer noch gefolgt von seinem improvisierten Henker, an ihm vorüber. Der letztere machte sich eben bereit, seinem Opfer einen neuen Schlag zu geben; plötzlich aber pfiff das breite Schwert, das der alte Scharfrichter führte, durch die Luft. Paul Bertaut, der den Tod, die einzige Wohltat, die er noch zu erwarten hatte, von dieser befreundeten Hand empfing, stürzte, ohne einen Seufzer von sich zu geben, zu Boden, und ehe der Bandit, der unbeweglich stehengeblieben war, sich von seiner Betroffenheit erholt hatte, erhob Sanson von Longval die blutige Klinge noch einmal und stieß sie ihm tief in die Brust.
In demselben Augenblick legte sich eine Wolke auf die Augen meines Ahnen, seine Kräfte verließen ihn, und obgleich sich keine Waffe gegen ihn erhoben hatte, fiel er um, als sei er vom Blitz getroffen.
In der Frühe des folgenden Tages brachten Landleute, die Lebensmittel in die Stadt fuhren, den greisen Scharfrichter in seine Wohnung zurück.
Sie hatten ihn in einem Graben der nach der Pikardie führenden Landstraße gefunden, und da es ihnen schien, dass er noch atme, hatten sie ihn auf ihren Wagen gelegt.
Ein herbeigerufener Arzt erklärte, dass Sanson von Longval einen Schlaganfall erlitten habe, und staunte, dass er denselben überlebt hatte. Als er seinen Arm entblößte, um ihm zur Ader zu lassen, bemerkte er mit noch größerem Erstaunen, dass diese Operation bereits vollzogen sei und dass mein Ahne wahrscheinlich nur diesem Umstand sein Leben verdanke.
Es verging lange Zeit, ehe man sich das Geheimnis erklären konnte, denn eine lokale Lähmung war die Folge des Schlaganfalles gewesen, und solange diese anhielt, war Sanson von Longval nicht imstande, den Seinigen zu erzählen, was sich in dieser schrecklichen Nacht mit ihm zugetragen hatte.
Der Aufenthalt in Paris wurde ihm so verhasst, dass er endlich darauf ganz verzichtete; er zog mit Renée Dubut, seiner Frau, in eine kleine Meierei zu Condé im Lande Brie, die er ein paar Jahre zuvor gekauft hatte, zurück und fand dort endlich die einzige Ruhe, die unseresgleichen hoffen kann: den Tod!
Es scheint, dass Sanson von Longval einige Zeit vor seinem Tode das tragische Ende des Herrn von Blignac, dem er es allem Anscheine nach verdankte, dass er wohlbehalten aus der Banditenhöhle gekommen war, noch erfahren habe.
Der Tod des gaskognischen Edelmanns wurde von zu originellen Umständen begleitet, als dass ich ihn mit Stillschweigen übergehen könnte; übrigens scheint, ohne dass ich irgendeinen Schluss aus dem Zusammentreffen von Umständen, das man dem Zufall zuschreiben kann, ziehen wollte, dieser Tod die dritte Prophezeiung des Vaters der Marguerite Jouanne zu verwirklichen.
Damals lebte im Dorfe Cajeaux bei Palaiseau ein sehr reicher Priester, den man beschuldigte, seine Revenüen zusammenzusparen. Leider hatte der brave Priester die Manier, selbst in den unschuldigsten Gesichtern die von Dieben zu erblicken, und dieses von schlechtem Geschmack zeugende Misstrauen hatte bisher die Unverletzlichkeit seines Allerheiligsten bewahrt.
Dennoch glaubte Herr von Blignac eines Tages das Mittel, die Wachsamkeit dieses Drachen im Priesterrock täuschen und in seine Schatzkammer dringen zu können, gefunden zu haben.
Er schlug einem halben Dutzend seiner vertrautesten Leute vor, sich in Häscher zu verkleiden; dann sollten sie einen anderen der Ihrigen, der seine Banditenkleidung beibehalten und den sie ordentlich fesseln würden, mit sich führen, den Geistlichen in seinem Priesterhaus aufsuchen und ihm sagen, sie hätten einen Schuldigen ergriffen, den sie nach der Weisung ihrer Oberen an dem ersten besten Baum, aus dem sich ein Galgen machen ließe, aufhängen sollten, und sie nähmen sein heiliges Amt in Anspruch, die der Verderbnis preisgegebene Seele des armen Teufels zu retten.
Herr von Blignac versicherte, dass, wenn auch nicht die christliche Liebe, so doch der instinktive Hass, welchen der Pfarrer den Böhmen zutrage, ihm nicht erlauben werde, zu zögern. Und während man den Narren hier mit den Vorbereitungen zu der Exekution beschäftigte, würde eine andere Bande, die sich in der Umgegend bereitgehalten, einen Überfall nicht allein auf das Haus des Pfarrers machen, sondern auch auf die seiner Beichtkinder.
Dieser machiavellistische Plan erregte einen wahren Enthusiasmus; als er aber angenommen war, befanden sich die Banditen etwa in der Lage der Ratten nach ihrem Beschlusse. Niemand wollte die Rolle des armen Sünders übernehmen; in dem Einfalle des Hauptmanns kamen einige kleine Unbequemlichkeiten der Hängung vor, die auch die Entschlossensten zurückschreckten.
Man beschloss, das Los entscheiden zu lassen, wer die Rolle übernehmen sollte, und wie der Zufall gewöhnlich den trifft, der am wenigsten begierig darauf ist, d.h. den Ängstlichsten in der Bande, so war es diesmal ein armer Teufel, der schon leichenblass wurde, sobald er nur den Schatten eines Galgens bemerkte.
Seine Gefährten und besonders der Hauptmann amüsierten sich ungemein über seine vorzeitige Angst.
Am Abend vor dem zur Ausführung dieses schönen Planes bestimmten Tage waren die, welche daran tätigen Anteil nehmen sollten, in dem Wirtshaus »Zum Weißdorn«, das einer ihrer Verbündeten unterhielt, versammelt.
Alle waren lustig, nur die Traurigkeit dessen, der gehängt werden sollte, störte die allgemeine Heiterkeit.
Unter dem Vorwande, seinen Untergebenen zerstreuen zu wollen, schlug ihm der Hauptmann vor, eine Weile die Würfel rollen zu lassen; der andere nahm dies an, aber das Mitleid des Meisters der Bettler wurde durch das Glück schlecht belohnt, denn in weniger als einer halben Stunde hatte er sein ganzes Geld verloren.
Durch die liebenswürdige Familiarität seines Chefs ermutigt, schlug ihm sein Gegner vor, um die Rolle zu spielen, die ihm so wenig belustigend erschien. Wenn Herr von Blignac diese neue Partie gewann, so sollte er alles, was er verloren hatte, wiedererhalten, war ihm das Glück aber noch einmal zuwider, dann sollte er jene Rolle übernehmen, die dem armen Teufel so wenig zusagte.
Die Sonderbarkeit dieses Spieles hatte alle Diebe an den Tisch herangezogen; durch ihre Gegenwart noch mehr angeregt, nahm der Hauptmann die Bedingungen an und – verlor.
Es lag sowohl in seinem Interesse, wie es seine Ehre forderte, dass er diese Missgunst des Glückes lachend ertrug; übrigens musste eine ähnliche Tat, vollbracht durch einen Achtzigjährigen, ihm nicht nur die Ehrfurcht der unter ihm stehenden Bettler sichern, sondern auch an seinen Namen die Bewunderung aller Böhmen der Zukunft knüpfen.
Am anderen Morgen begleitete er die Truppe nach dem Dorfe Cajeaux.
Alles geschah, wie er es vorausgesehen hatte.
Der Priester übernahm nicht nur das traurige Amt, das man seinem geistlichen Eifer abforderte, sondern er war sogar so sehr gefällig, dass er zu der Zeremonie einen Schemel lieh.
Der Diener des Propstes, der gleichzeitig Küster der Parochie war, folgte seinem Herrn; die Mägde wollten auch dabei sein, und kaum hatte sich im Dorfe die Nachricht verbreitet, dass man einen berüchtigten Verbrecher hängen wolle, so nahmen alle Einwohner, Männer, Frauen, Greise und Kinder, ja selbst die Hunde ihren Platz in der Prozession ein, an deren Spitze die falschen Häscher und ihr falscher Gefangener schritten.
Übrigens spielte Herr von Blignac seine Rolle auf eine Art und Weise, die voraussetzen ließ, sein wahrhafter Beruf hätte ihn auf die Bühne gezogen.
Aber in dem Augenblick, als der, welcher den Henker vorstellte, ihn nötigte, auf den Schemel zu steigen, über dem ein Strick an dem festesten Zweige einer schönen Eiche sich schaukelte, als die Menge, vor Aufregung tief atmend, mit einer Ängstlichkeit, die sich auf allen Gesichtern malte, die Entwicklung erwartete, trug sich ein Ereignis zu, an das Herr von Blignac bei Entwurf seines Programms nicht gedacht hatte.
Sei es nämlich durch Zufall oder, was wahrscheinlicher ist, dass ein Verräter den Polizeileutnant benachrichtigt hatte – Häscher und Soldaten der Polizeiwache, die nicht falsche waren, brachen plötzlich auf den Schauplatz ein und stürzten sich auf ihre Nachahmer, die nach allen Richtungen hin die Flucht ergriffen.
Der falsche Henker, der auf einem Baumzweige über dem Delinquenten saß und seinen Strick zurechtmachte, sah und erkannte zuerst die ewigen Feinde seiner Rasse.
Mit einem Satze war er auf dem Boden, aber beim Herabspringen stieß er Herrn von Blignac um, der sich schon auf der höchsten Stufe befand: der unglückliche Hauptmann brach in seinem Sturze das Genick; er starb auf ganz ernste Weise, während er sich zum Scherz hatte hängen lassen wollen.
Ein Pamphlet unter Ludwig XIV.
Jean Larcher
Zerrüttung in Frankreich; die Maintenon; die Prinzessin von der Pfalz; Herr de la Reynie; das Skapulier.
Ich will jetzt eine traurige Geschichte erzählen; da aber die Ereignisse, aus denen sie ihren Ursprung nahm, schon älter sind, so muss ich einige Jahre, bis in die zweite Hälfte der Regierung Ludwigs XIV. zurückgehen, ungefähr in die Zeit, als die Sonne, die der große König zu seinem Sinnbilde gemacht hatte, zu erbleichen anfing.
Das Augsburger Bündnis hatte den schon durch dreißig Kriegsjahre oder arge Verschwendung erschöpften Finanzen den letzten Stoß versetzt. Frankreich hatte zu Fleurus gesiegt, zu Neerwinden, zu Marseille; aber so viel Ruhm hatte es nicht zu blenden vermocht, und es berechnete sich mit Ängstlichkeit, wieviel Gold und Silber es dafür bezahlen müsse. Um dieselbe Zeit verrieten der Verlust der Seeschlacht bei Hogue und der schlechte Erfolg der Campagne von 1693, die Ludwig XIV. in Person leitete, sowohl Fremden als seinen eigenen Untertanen die zerbrechlichen Grundlagen, auf denen der Koloss ruhte.
Das Werk der französischen Einheit, das er aus den Händen Richelieus empfangen und so ruhmreich beendet hatte, war nicht ohne Klippen. Ludwig XIV. wusste nicht eher haltzumachen, als bis er zur Übertreibung des Prinzips, dem er seine Größe verdankte, gelangt war. Nachdem er die Einheit in diese Regierung gebracht hatte, wollte er sie auch in den Gemütern seiner Untertanen herstellen. Am 17. Oktober 1685 hatte er das Edikt von Nantes widerrufen und Frankreich mit jenen seltsamen Aposteln bedeckt, die Louvois seine »gestiefelten Missionäre«5 nannte. Im Januar 1686 raubte ein anderes Edikt den Protestanten das Recht, ihre Kinder zu behalten.
Die Gläubigen wanderten nun in Masse aus und bereicherten das Ausland mit unserer Industrie. Diejenigen, welche Alter, Schwäche oder Kleinmütigkeit zu einem lügnerischen Abschwören ihres Glaubens zwangen, taten dies nur, indem sie der Macht, welche sie unterdrückte, heimlich fluchten.
Nun erwachte der aufrührerische Geist der Nation, der bis dahin mehr durch Ehrfurcht als durch Despotismus niedergehalten worden war, wieder, ein heimlicher Widerstand gab sich in vereinzelten Protestationen kund, man verlangte sein Recht und vertrat es durch den Krieg der Flugschriften; die Insekten griffen den Thron an, sie unterhöhlten ihn mit der Mine und Sappe soweit, dass der mächtige Hauch der Revolution ihn stürzen musste.
Diese Flugschriften wurden um so gefährlicher, als bei Ludwig XIV. die Größe des Monarchen nicht die menschliche Schwäche ausgeschlossen hatte; die doppelten Strahlen des Heiligenscheins verschwanden schnell; der Held der Turniere, der ritterliche Geliebte der Lavallière, Montespan und Fontanges heiratete im Jahre 1684 die fünfzigjährige Witwe des lahmen Scarron! Diese bürgerliche Herabsetzung des Halbgottes lieh seinen Feinden eine schreckliche Waffe, die der Lächerlichkeit; sie ist tödlich bei einem Volke, das nie der Versuchung widerstehen kann, auf Kosten derer, die es liebt, zu lachen, wieviel weniger auf Kosten des Herrn, den es verabscheut!
Im Jahre 1689 machte ein Pamphlet unter dem Titel: »Die Seufzer des geknechteten Frankreich, das der Freiheit entgegenseufzt«, ungemeines Aufsehen. Die liberalen Stoßseufzer, die es enthielt, waren eine solche Neuigkeit, dass ungeachtet ihrer dogmatischen Form selbst die oberflächlichsten Geister daran Geschmack fanden, und einige Monate lang gab es wahrhaften Wettstreit zwischen Publikum und Polizei, Exemplare zu erhaschen, bei ersterem, um sie zu lesen, bei der zweiten, sie zu zerstören. Diese Sache führte natürlich eine Menge von Leuten in die Bastille und einige sogar zur peinlichen Frage.
Wenn die Regierung Ludwigs XIV. streng gegen diese Attentate auf die Majestät des Thrones, gegen diese Protestationen wider seine Allmacht gewesen war, so wurde sie unerbittlich gegen alle diejenigen, welche die Gefährtin, die sich der Monarch gegeben hatte, angriffen. Als kluger Mann hatte der letztere vielleicht begriffen, dass er, selbst in politischer Beziehung, einen Fehler gemacht habe, aber er war durch die Schmeichelei bereits so verdorben, dass es in seinen Augen als das größte Verbrechen gelten musste, ihn daran zu erinnern.
Im Jahre 1694 begannen einige Exemplare einer Flugschrift unter dem Titel: »Der Schatten des Herrn Scarron« in Paris und Versailles zu zirkulieren.
Auf der Broschüre gab es eine Abbildung, die das von Lafeuillade auf dem Viktorienplatze zu Ehren seines Herrschers errichtete Monument parodierte. Anstatt dass der König vier gefesselte Statuen zu seinen Füßen hatte, war er selbst durch vier Frauen gefesselt dargestellt: die Lavallière, Fontanges, Montespan und Maintenon.
Gerade unter den Prinzen von Geblüt und am Hofe hatte die »Alte«, wie sie die Prinzessin von der Pfalz nennt, ihre erbittertsten Feinde. Ihr Hass war umsichtiger als die Wachsamkeit der Polizei; bevor noch Herr de la Reynie Kenntnis von der Schrift hatte, fand schon der König ein Exemplar unter seiner Serviette, und Madame von Maintenon erhielt ein anderes zu derselben Stunde und in derselben Weise.
Dieser ihm mitten in seinem Schlosse zugefügte Schimpf erregte den ohnehin schon ärgerlichen Ludwig XIV. nur noch mehr. Herr de la Reynie wurde sofort nach Versailles befohlen, der König warf ihm bitter vor, was er für schuldvolle Nachlässigkeit hielt, und befahl ihm, aufmerksam nach den Verfassern der Flugschrift zu suchen und mitleidlos mit ihnen zu verfahren.
Mochten nun die Leute, welche den königlichen Zorn entzündet hatten, sehr mächtig oder sehr geschickt sein, oder waren die Mittel eines Polizeileutnants jener Zeit unzureichend – genug, die feinsten Spürhunde des Herrn de la Reynie verloren umsonst Zeit und Mühe. Man warf wohl einige Individuen, die man im Besitze der beleidigenden Flugschrift fand, in die Bastille, aber man konnte weder den Verfasser noch den Drucker ermitteln.
Diese Angelegenheit gewann großen Wert in den Augen eines Königs, der damals immer noch der Lenker der Geschicke Europas war. Er schien ebenso empfindlich über die schlechten Erfolge, welche seine Agenten erlangten, als er es über den Schimpf selbst gewesen war. Sobald er nur den Polizeileutnant erblickte, rief er ihn, befragte ihn mit Ungeduld über das Resultat seiner Nachforschungen und sparte ihm keine Vorwürfe, sobald er erfuhr, dass bisher alle diese Nachforschungen erfolglos gewesen seien.
Endlich hatte Gott oder vielmehr der Teufel Mitleid mit diesem armen Herrn de la Reynie, der sich das Übel, das ein Minister mehr als den Tod fürchtet, eine Ungnade, sehr nahegerückt sah.
Eines Tages hörte er mit sehr zerstreuter Miene die Klage eines Handwerkers an, dem man in der vergangenen Nacht fünftausendzweihundert Livres gestohlen hatte, als plötzlich der Sekretär des Polizeileutnants schnell eintrat, letzterem einen Brief überreichte und ihn bat, denselben sofort zu lesen.
Kaum hatte der Polizeileutnant die Augen auf das Papier geworfen, so sprang er auf seinem Lehnstuhle in die Höhe. Auf ein Zeichen ging der Sekretär wieder hinaus, um einen Gefreiten zu rufen, während Herr de la Reynie in augenscheinlicher Erregung auf einem Pergamentblatte kritzelte, das bereits mit dem Staatssiegel versehen war.

Seine Bewegung war so groß, dass er den Mann mit den fünftausendzweihundert Livres vollständig vergessen hatte und nicht bemerkte, wie dieser, der nur zwei Schritte von seinem Bureau stand, alles, was er schrieb, lesen konnte, und dass er nicht einmal daran dachte, den grünen Vorhang, wie er es gewöhnlich tat, wenn er Besuch hatte, über seine Papiere herabzulassen.
Der Handwerker sah mit dem naiven Vertrauen eines Menschen, der von der Wichtigkeit seiner eigenen Angelegenheit so überzeugt ist, dass er nicht daran zweifelt, nur diese könne die Obrigkeit beschäftigen, zu, wie der Polizeileutnant schrieb; aber der Sekretär, der, von dem Gefreiten gefolgt, wieder eintrat, zog ihn schnell zurück.
Bei dem dadurch verursachten Geräusche hob Herr de la Reynie den Kopf und schien höchst unangenehm dadurch überrascht, dass er den unwichtigen Menschen noch neben sich sah. »Schreiben Sie Namen und Vornamen auf,« sagte er unwirsch zu ihm, »man wird sich mit Ihrer Angelegenheit beschäftigen.«






