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Der Zigarettenmann lief zu seinem Bulli und wühlte im Laderaum herum.
Gerd zog die Sturmhaube herunter. Seine schwarz gekleidete Gestalt verschmolz mit der Dunkelheit auf dem Parkplatz, als er sich im Bogen dem Wohnmobil näherte. Er öffnete die Tür, und sie sahen sich kurz an, bevor er sich in der kleinen Nasszelle versteckte.
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Karl Klein nahm eine Geldkassette vom Automaten und holte 50 Euro in Zwei-Euro-Stücken heraus. Etwas nervös ging er zum Wohnmobil zurück. Die rote Beleuchtung war ausgeschaltet. Er klopfte.
»Komm rein, mein Süßer.«
Etwas ängstlich betrat es das Innere. Das Erste, was er wahrnahm, waren das schwere Parfüm und die intime, leicht rötliche Beleuchtung.
Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er das Bett im hinteren Bereich. Sie saß, nur mit Lackstiefeln und Reizwäsche bekleidet, auf der Kante und winkte ihn zu sich. »Du kannst mir beim Ausziehen helfen.«
Die Eurostücke klimperten, als Karls Hose herunterfiel. Sie lächelte. »Nicht so stürmisch. Wir haben doch Zeit. Hilf mir erst bei den Stiefeln.«
Karl stieg aus der Hose und kniete sich hin. Er griff nach einem ihrer Lackstiefel und zog.
Hinter ihm ging eine kleine Tür auf, und eine schwarze Gestalt rief: »Jetzt!« Karl sah gerade noch, dass die Frau nach hinten rutschte, dann kam blitzartig der Schmerz, als der Elektroschocker gegen seinen Nacken gedrückt wurde und der Stromstoß durch seinen Körper raste. Die Muskeln blockierten und Karl sackte bewusstlos in sich zusammen.
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»Gut gemacht«, sagte Gerd Hasler. »Zieh dich an, ich hol den Transporter.« Er nahm die Handschellen aus der Hosentasche und legte sie dem Bewusstlosen an.
Als er mit dem Transporter seitlich an das Wohnmobil heranfuhr, erwartete sie ihn schon. Sie trug einen Overall.
Im Laderaum räumte er die längliche Kiste frei. Sie lösten die Scharniere und legten den schweren Deckel zur Seite.
Jetzt kam der schwere Teil der Arbeit. Auf dem Parkplatz war alles ruhig. Gemeinsam trugen sie ihr immer noch bewusstloses Opfer aus dem Wohnmobil und legten es in die Kiste. Schweißperlen liefen ihnen über die Stirn.
Atemlos stöhnte er: »Hast du die Schlüssel vom Bulli?«
Sie klopfte auf eine Seitentasche ihrer Overalls.
»Okay, dann schnell den Deckel drauf, bevor er zu sich kommt.«
Der Deckel knallte auf die Kiste. Die schweren Scharniere schnappten zu.
Gerd Hasler warf die Schiebetür zu. »Du fährst jetzt mit dem Zigaretten-Bulli zu unserer Halle. Aber fahr vorsichtig und fall nicht auf. Ich folge dir mit dem Transporter, für alle Fälle.«
Sie wollte nur weg. Ein Kloß steckte in ihrem Hals. Ihre Stimme hätte ihm ihr Entsetzen vor dem bevorstehenden Mord verraten. Deshalb nickte sie nur.
Gerd ging neben dem Transporter in die Knie, legte das Ventil der Abgasleitung um.
Tag 3, 23.30 Uhr
Unterwegs auf der Autobahn von Brinkum-Leer-Emstunnel-Weener-Rhede.
In der Kiste erwachte Karl Klein langsam.
Er versuchte, sich zu orientieren. Das Letzte, woran er sich erinnern konnte, war dieses geile Weib in dem Wohnmobil. Er wollte sich aufrichten, stieß aber mit dem Kopf an. Dann fühlte er die Handschellen. Und überall stieß er mit den Füßen oder mit der Schulter gegen eine Wand.
Langsam begriff er, was das bedeutete. Er lag in einem Sarg. Dieser warme Luftzug von der Seite benebelte ihn.
Seine Hilfeschreie blieben ungehört. Die Panik wich schließlich einer gnädigen Ohnmacht.
Tag 4, 00.30 Uhr
PP Rhede11
Gerd Hasler öffnete die Schiebetür, danach löste er die Verriegelungen. Eine Wolke von Abgasen schlug ihm entgegen, als er den Deckel anhob. Ein rascher Blick über den Parkplatz: alles ruhig.
Den Elektroschocker konnte er zur Seite legen. Ihr Opfer lag mit rotem Gesicht tot in der Kiste. Mit einem speziellen Bergungsgriff zog Gerd den Toten heraus und schleppte ihn in das dunkle Dickicht des Parkplatzes.
Er öffnete mit dem Schlüssel die Handschellen. Die Schmuckkette legte er dem Opfer um den Hals. Mit einem knackenden Geräusch trennte seine Schere den Zeigefinger von der rechten Hand des Toten.
Alles lief wie geplant. Der Transporter verließ den Parkplatz. Er drehte an der Anschlussstelle Rhede, fuhr zurück Richtung Bunde.
Tag 4, 01.45 Uhr
Industriegebiet Bunde-West12
Im Industriegebiet Bunde-West stellte Gerd Hasler sein Fahrzeug hinter die alte Halle eines abgelegenen Firmengeländes. Beim Aussteigen überprüfte er die Umgebung. Alles war ruhig.
Die alte Halle war etwa 20 Meter breit und 50 lang. Vorne befand sich ein breites Tor. Das massive Tor bei der Einfahrt sicherte das Grundstück zusammen mit einem stabilen Zaun. Das Gelände war von hohen Büschen umgeben. Ideal für ihre Zwecke. Hinter diesem älteren Gebäude befand sich das neue Firmengelände.
Gerd betrat die Halle durch die Seitentür. In einem Nebenraum, von der Halle durch eine Plane getrennt, standen der Mercedes des ersten Opfers und daneben der Zigaretten-Bulli.
Lisa kam ihm entgegen.
»Braves Mädchen! Hast du nachgesehen, ob da noch ein Handy vom Fahrer drin ist?«
Sie holte ein zerlegtes Handy aus der Tasche ihres Overalls.
Gerd klemmte die Batterie des Bullis ab, genau wie die beim Mercedes. Dann verschlossen sie gemeinsam das Tor zum Nebenraum und verließen die Halle.
Als Nächstes stand der Abtransport des Wohnmobils auf dem Plan.
Unterwegs von Bunde-West13- Weener-Emstunnel-Leer-AS Filsum- zurück in Rtg. Leer/Ndl.- PP Brinkum14
Lisa saß neben Gerd auf dem Beifahrersitz. Nervös fragte sie: »Ist er tot?«
»Ja, ich habe ihn auf dem Parkplatz Rhede entsorgt. Dort findet man ihn nicht so schnell.«
Eine Zeitlang blieb es still. Dann sagte sie: »Weißt du, diesmal war es irgendwie anders. Ich hab gedacht, beim Zweiten wird es einfacher, aber irgendwie tat mir der junge Mann leid.«
Zornig entgegnete er: »Du weißt doch, dass sie es verdient haben. Sie hatten doch die Wahl. Sie hätten auch brav nach Hause fahren können.«
Beide schwiegen. Gerd erzählte ihr nicht, dass er den Toten den Zeigefinger abschnitten hatte, und sprach auch nicht über die Sache mit dem Schmuck, den er hinterließ.
Lisa erzählte ihm nicht, dass sie im Bulli ein Foto von einem jungen Paar am Armaturenbrett gesehen hatte. Vermutlich der Fahrer und seine Frau. Beide sahen darauf so glücklich aus.
Sie fuhren durch den Emstunnel, weiter bis zur AS Filsum, drehten dort. Nach einigen Kilometern in Richtung Westen waren sie zurück am Parkplatz Brinkum. Das Wohnmobil stand so, wie sie es verlassen hatten, auf dem dunklen Parkplatz.
Tag 4, 02.45 Uhr
PP Brinkum, Rtg. Leer/Mep.
Gerd Hasler sah Lisa besorgt an. »Alles in Ordnung mit dir? Bleib cool, jetzt fährst du das Wohnmobil zurück und wartest in der Halle auf mich. Ich folge dir mit Abstand und lass das Funkgerät eingeschaltet. Keine Angst, alles ist gut gelaufen. Du warst einsame Spitze.«
Lisas Gesicht war blass. Ihr Lächeln wirkte aufgesetzt. Ihre Stimme klang weinerlich. »Es geht schon. Ich fahr los. Bis später.«
Gerd schaute ihr hinterher. Diesmal war ihr die Sache offensichtlich nahegegangen. Eine Pause wäre sicher angebracht.
Der Motor des Wohnmobils sprang an. Gerd sah ihr nach, als sie damit den Parkplatz verließ. In Gedanken ließ er die Ereignisse an sich vorbeiziehen. Hatten sie etwas vergessen, etwas übersehen?
Nein, alles lief perfekt. Er legte den ersten Gang ein und fuhr los.
Tag 4, 03.00 Uhr
Leer, Emstunnel, Rtg. Mep./Ndl.
PHK Rolf Berger saß alleine im Streifenwagen. Er wartete auf den nächsten Einsatz. Die Belastungen durch die Begleitung der Schwertransporte waren enorm. Für diesen Nachtdienst hatten sie sich anders als gewöhnlich aufgeteilt. Zwei Einbäume15 und eine normale Besatzung16 sollten Transporte zu den Windparks begleiten.
Zwischen zwei Transporten lohnte es sich nicht, die Dienststelle anzulaufen. Deshalb war Berger mit seinem Einsatzwagen hinter dem Emstunnel in Fahrtrichtung Süden17 am Seitenrand der Autobahn stehen geblieben und beobachtete den Verkehr. Die nächste Begleitung würde sicher nicht lange auf sich warten lassen.
Es war spät und nur noch wenig los. Ein Wohnmobil fuhr langsam an ihm vorbei. Aus Gewohnheit sah er dem Fahrzeug hinterher und bemerkte, dass die hintere Beleuchtung ausgefallen war.
Alleine sollte er natürlich kein Fahrzeug überprüfen. Hier war allerdings Gefahr im Verzug. Ein relativ langsames Fahrzeug ohne jede Beleuchtung nach hinten war sogar sehr gefährlich. Berger fädelte den Streifenwagen vor einem weißen Transporter auf den Hauptfahrstreifen ein, gab Gas und wechselte auf die Überholfahrspur. Er setzte sich vor das Wohnmobil und schaltete die elektronische Anzeige nach hinten ein. Das Lichtzeichen ›Bitte folgen‹ leuchtete im Takt auf dem Dach des Streifenwagens.
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Gerd traute seinen Augen nicht. Wo war dieser verfluchte Streifenwagen denn hergekommen? Das durfte doch nicht wahr sein. Na klar … die hintere Beleuchtung des Wohnmobils funktionierte nicht.
Gerd griff zum Funkgerät: »Bleib cool. Der Bulle will dich sicher nur auf dein kaputtes Rücklicht aufmerksam machen. Folge ihm auf den Parkplatz. Ich bleib bei dir.«
Tag 4, in den ersten Morgenstunden
PP Rheiderland, Rtg. Mep./Ndl.18
Drei Fahrzeuge fuhren auf den Parkplatz Rheiderland. Zuerst der Streifenwagen der Autobahnpolizei Leer. Dahinter das Wohnmobil. Mit etwas Abstand ein weißer Transporter.
Der Streifenwagen hielt unter einer Straßenlaterne. PHK Berger stieg aus und gab der Fahrerin des Wohnmobils ein Zeichen, seitlich stehenzubleiben. Der weiße Transporter hielt mit einem Abstand von etwa 100 Metern zum Streifenwagen.
Berger ging zur Fahrerseite des Wohnmobils und klopfte an die Seitenscheibe. Die Fahrerin sah aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Langsam drehte sie das Fenster herunter.
»Guten Abend. Mein Name ist Berger von der Autobahnpolizei. Ihr Licht hinten ist defekt.« Berger legte die Stirn in Falten, als ihm eine Parfümwolke entgegenschlug.
Der gut aussehenden Dame am Lenker hatte es offensichtlich die Sprache verschlagen. Ihre Hände hielten verkrampft das Lenkrad. Die Frau war stark geschminkt. Ihr Overall passte dazu nicht.
Merkwürdig.
Berger versuchte, sie etwas zu beruhigen. »Bitte regen Sie sich nicht auf. Kein Grund zur Panik. Wir gucken uns das zusammen mal an. Steigen Sie doch bitte aus.«
Immer noch keine Antwort. Vielleicht verstand sie ihn nicht?
Aber dann löste sie mit zittrigen Händen umständlich den Gurt und öffnete die Fahrerhaustür. Sie gingen gemeinsam zur Rückfront des Wohnmobils.
In diesem Moment startete der Motor eines Sattelzuges.
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Der Lkw-Fahrer Henk Zijlstra hatte gerade seine vorgeschriebene Pause beendet.
Henk hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, einmal um seinen Lkw herumzulaufen, bevor er losfuhr. Draußen auf dem Parkplatz legte er die Hände in den Nacken, bog seinen Rücken durch. Diese scheiß Bandscheibe quälte ihn nun schon seit einigen Jahren.
Er stutzte. Dieses Lovemobil hatte er doch schon einmal gesehen. Der Streifenwagen gehörte zur Autobahnpolizei. Der Polizist unterhielt sich mit der ›Dame‹. Soweit Henk es sehen konnte, war der alleine unterwegs. Der will sicher auch einmal was Schönes vor Augen haben, dachte Henk. Denn schön war die Frau, da gab es keinen Zweifel.
Eine merkwürdige Situation.
Egal, er hatte einen Zeitplan einzuhalten. Henk stieg ins Führerhaus seines Lkw, löste die Feststellbremse. Als er sich auf der Autobahn befand, hatte er das merkwürdige Paar bereits vergessen.
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Gerd Hasler beobachtete aus dem weißen Transporter heraus aufgeregt, wie der Sattelzug den Rastplatz verließ. Endlich! Seine Hand umklammerte den Elektroschocker. Er stieg leise aus, zog die Skimaske herunter und schlich zum Wohnmobil.
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Berger sah nach unten zu den Leuchtenträgern des Wohnmobils. Alles dunkel, Totalausfall.
In diesem Moment fielen ihm ihre schwarzen Lackstiefel auf.
Das Wohnmobil, die gut riechende, geschminkte Dame mit den Lackstiefeln … das rote Herzchen mit Leuchtdioden an der Heckscheibe … Ich möchte wetten, dachte Berger, dass sie unter dem Overall so gut wie nichts anhat.
Er hatte nichts gegen Damen ihres Gewerbes. Im Gegenteil. Er als Polizist ahnte, was passieren würde, gäbe es für viele Männer nicht diese Gelegenheit, Druck abzulassen.
»Bitte«, sagte sie, »können Sie nicht einfach weiterfahren? Ich ruf meinen Freund an. Der bringt das bestimmt in Ordnung.«
»Oh, Sie können ja doch reden.« Berger kniete sich vor den Leuchtenträger. »Vielleicht krieg ich das hier hin.« Er klopfte vorsichtig gegen das Rücklicht.
Ihre Stimme klang flehend und sie drehte sich ständig nervös um. »Bitte, gehen Sie doch. Bitte!«
Als Berger mühsam aufstehen wollte, bemerkte er einen schwarzen Klebestreifen, der lose vom Kennzeichen herabhing. »Was zum Teufel …?« Er bückte sich, sah sich das Kennzeichen genau an. Berger kratzte mit dem Fingernagel an den Zahlen und Buchstaben. Sein Gehirn kam nicht mehr dazu, den Gedanken zu beenden, denn ein starker Stromstoß im Genick sorgte für extreme Schmerzen und einen Blackout im Gehirn des Polizisten. Ohnmächtig sackte er auf dem Pflaster zusammen.
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Jetzt musste alles schnell gehen. Im Transporter hatte sich Gerd Hasler einen Notfallplan ausgedacht.
Er zog dem Polizisten die gelbe Dienstjacke aus. Wie erwartet, steckten die Schlüssel des Streifenwagens in der Hosentasche. In der Hemdtasche befand sich ein Handy. Bloß weg damit. Im Bogen flog es zwischen die Büsche der Grünanlage. Die Dienstwaffe nahm er an sich.
Gerd sah Lisa an. Wie versteinert stand sie da. »Verflucht, reiß dich zusammen! Hier, nimm den Elektroschocker. Sobald er zu sich kommt, gibst du ihm noch einen Stromstoß. Ich lege ihm Handschellen an. Bin gleich zurück.«
Er zog sich die gelbe Jacke des Polizisten über. Im Streifenwagen orientierte er sich kurz. Dann raste er mit aufheulendem Motor rückwärts zur Einfahrt des Parkplatzes und ließ den Wagen quer stehen. Er brauchte einen Moment, bis er das Blaulicht einschalten konnte. Nun hatten sie etwas Zeit gewonnen.
Auf dem Beifahrersitz lag die Dienstmütze des Polizisten. Als Gerd danach griff, fielen ein Notizbuch und ein Handy in den Fußraum. Praktisch – am Notizbuch klemmte ein Kugelschreiber. Er nahm sich den Stift und schrieb: Ich habe die Frau meines Lebens gefunden. Ich hab keinen Bock mehr auf diese Scheiße.
Gut sichtbar ließ er das Notizbuch auf der Konsole liegen.
Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Gerd lief zurück zu seinem Transporter. Kurz darauf hielt er sein Fahrzeug direkt hinter dem Wohnmobil an. Der Polizist lag zum Glück noch bewusstlos auf dem Pflaster. Gerds Hand legte sich um die Pistole.
Sollte er den Polizisten an Ort und Stelle erschießen? Er sah Lisa kurz an. Nein, das würde sie nicht auch noch verkraften.
Die Seitentür des Transporters quietschte, als er sie aufzog. Er räumte die Kiste frei.
Ihre Stimme war rau, als sie sagte. »Er kommt zu sich!«
»Gib mir den Elektroschocker.«
Der Körper des Polizisten zuckte, als der Stromstoß durch die Muskeln raste.
Er griff dem Mann unter die Achseln. »Los, pack an! In die Kiste mit ihm.«
Wie in Trance griff sie die Fußgelenke des Bewusstlosen.
Geschafft! Der Deckel der Kiste war verriegelt. Jetzt brauchte er nur noch das Ventil unter dem Transporter umzustellen.
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Rolf Berger erwachte mit rasenden Kopfschmerzen. Sie schienen von seinem Nacken auszugehen. Er wollte sich aufrichten und stieß mit dem Kopf gegen den Deckel der Kiste.
Er zwang sich, ruhig zu bleiben, als er die Handschellen fühlte. Seine Gedanken rasten. Was war geschehen? Wo war er? Ruhig bleiben. Denk nach!
Soweit es die Handschellen erlaubten, tastete er seine Umgebung ab. An der rechten Seite fühlte er eine Art Lochwand, wie ein Sieb. Warme Luft strömte in die Kiste. Vielleicht komm ich an mein Taschenmesser am Gürtel ran, dachte Berger und versuchte es. Unerwartet ertasteten seine gefesselten Hände einen Beutel an der linken Seite. Er hielt ihn mit der linken Hand fest und tastete mit der rechten in den Beutel.
Sein Verstand weigerte sich umzusetzen, was seine Hand fühlte. Ein abgeschnittener Finger.
Entsetzt ließ Berger den Beutel fallen und fand endlich sein Taschenmesser. Mit der Messerklinge begann er, den Holzdeckel über sich zu bearbeiten. Er hustete. Wie durch einen Nebel sah er das Gesicht seiner Frau, flüsterte ihren Namen.
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Gerd Hasler saß hinter dem Lenkrad des Transporters. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, und dachte über die neue Situation nach. Sie hatten verdammtes Glück gehabt, dass der Polizist alleine unterwegs war. Wieso musste der auch so hartnäckig sein? Der Beamte hatte das verfälschte Kennzeichen des Wohnmobils bemerkt. Gerd hatte handeln müssen, sonst wäre alles vorbei gewesen.
Lisa sollte zur Halle fahren. Die Ereignisse des Tages waren zu viel für sie gewesen. Er durfte sie nicht überfordern.
Tag 4, 03.45 Uhr
Unterwegs vom Grenzübergang Ndl. (A 280)-AD Bunde-Weener-Emstunnel-Leer-West (A 31)
Onno Elzinga und Klaas Leitmann saßen im Streifenwagen der Autobahnpolizei, einem Bulli. Die Kollegen fuhren gerne damit. Klaas Leitmanns Rücken freute sich über die gerade Sitzposition.
Die Ausrüstung, die Onno für sein Fachgebiet, den Schwerlastverkehr, mitschleppte, passte auch besser in den Bulli als in den Mercedes Kombi oder den Audi A6. Der kleine Tisch war außerdem praktisch, wenn man mit dem Laptop arbeitete oder mehrere Schaublätter vom analogen Kontrollgerät auswertete.
Allerdings war der Bulli deutlich langsamer als die anderen Streifenwagen. Die Kollegen waren sich aber einig, dass die Vorteile überwogen.
Vor ihnen fuhren das Begleitfahrzeug, ein sogenanntes BF3, und zwei Sattelzugmaschinen mit Tiefladeraufliegern, darauf zwei schwere, überbreite Transformatoren.
Die drei Fahrzeuge vor ihnen hatten das gelbe Rundumlicht eingeschaltet. Auf dem Dach des Einsatzbullis drehten sich die beiden Blaulichter. Es war schon spät, nur noch drei Stunden bis zum Ende des Nachtdienstes. Die Lichtreflexe schmerzten in Onnos Augen.
Den Transport hatten sie an der Grenze übernommen. Die Begleitstrecke verlief von der Bundesgrenze bis zum Dreieck Bunde, über die A31S an der Anschlussstelle Weener vorbei bis hinter dem Emstunnel. An der AS Leer-West, gleich nach dem Tunnel, war die Begleitung durch die Polizei nicht mehr vorgeschrieben.
Klaas hatte die Leselampe über dem Beifahrersitz eingeschaltet. Im Notizbuch sortierte er die schon durchgeführten Schwertransportbegleitungen der Nacht.
Onno warf ihm einen Seitenblick zu. »Na, steigst du noch durch? Ich bin froh, wenn wir die Nacht rum haben. Schön in die Heia und nichts mehr hören und sehen.«
»Wenn man denn schlafen kann.« Klaas unterdrückte ein Gähnen. »Kann dir auch passieren, dass du dich um 10 Uhr morgens immer noch schlaflos von einer Seite auf die andere drehst. Mittags stehst du dann wütend auf. Den ganzen Tag Matsche im Kopf.«
»Stimmt. Alte Männer wie wir gehören zu einer gewissen Zeit ins Bett.« Er beobachtete, wie der Schwerlast-Konvoi einige Kilometer vor dem Tunnel vom Hauptfahrstreifen in die Mitte der Autobahn fuhr. Das BF 3 schaltete auf dem Dach das Lichtzeichen für Überholverbot ein.
Als sie am Rastplatz Rheiderland vorbeifuhren, sah Onno kurz auf die andere Seite der Autobahn. Für einen Moment glaubte er, ein eingeschaltetes Blaulicht gesehen zu haben. Oder spielten ihm seine übermüdeten Augen einen Streich? »Klaas, hast du auf der anderen Seite auch ein Blaulicht gesehen?«
Klaas unterbrach seine Notizen und sah Onno fragend an. »Blaulicht … Ich seh nur noch Lichter. Sorry, negativ.«
In der rechten Ablage des Bulli klingelte das Diensthandy. Klaas sah auf das Display, es war die Wache. Er meldete sich. »Leitmann!«
Die Stimme des Wachhabenden Mark Rode am anderen Ende der Leitung klang säuerlich. »Klaas, ich kann Rolf Berger ums Verrecken nicht erreichen. Ihr müsst jetzt den Transport von Rolf übernehmen.« Mark hörte, dass Klaas ihn unterbrechen wollte. »Klaas, es geht nicht anders. Also: einmal von Leer-Ost bis zur großen Maschinenfabrik!«
Inzwischen war der Konvoi in den Emstunnel eingefahren. Die Tunnelwände reflektierten die gelben und blauen Lichtblitze. Onno schaltete den rechten Blinker ein.
Klaas knurrte. »Onno, bleib auf der Bahn. Wir müssen noch einen Transport in Leer-Ost übernehmen. Mark kann Rolf nicht erreichen. Wir sollen einspringen.«
»Oh nee! Klaas, nicht noch einen!«
»Ent-schul-di-gung!« Klaas hob die Arme und wackelte mit dem Kopf.
Die anschließende Begleitung war Routine. Jetzt musste nur noch der lästige Papierkrieg erledigt werden.
Tag 4, 05.00 Uhr
Dienstgebäude der Autobahnpolizei, Deichstraße Leer/AS Leer-West, Emstunnel19
Auf der Dienststelle erwartete sie ein beunruhigter Mark Rode. »Ich mach mir echt Sorgen. Rolf hat sich seit einer Ewigkeit nicht mehr gemeldet. Erreichen kann ich ihn auch nicht!«
Das war absolut untypisch. Rolf war die Zuverlässigkeit in Person.
»Vielleicht ist er zu einer anderen Dienststelle gefahren. Quatscht bei einer Tasse Kaffee über alte Zeiten«, schlug Klaas vor.
Sie telefonierten mit allen Dienststellen in der Nähe, die noch besetzt waren, von der Bundespolizei bis zu den Kollegen von der Georgstraße. Alles negativ, Rolf Berger war nicht gesehen worden.
Dann gingen sie noch einmal gemeinsam alle Einsätze der Nacht durch. Schichtleiter Mark Rode sah sich alle Genehmigungen für die durchgeführten Schwertransportbegleitungen an. »Rolf hatte als letzten Einsatz eine Tunnelbegleitung in Richtung Niederlande.«
»Wie sollte es dann weitergehen?«, fragte Onno. »Ich meine, die nächsten Transporte für Rolf?«
Mark Rode rieb sich die Augen. »Als Einbaum sollte er die kurzen Transporte übernehmen. Ja, warte mal …« Er versuchte, seine eigene Schrift in der Wachkladde zu entziffern. »Hier, ich hab es gefunden. 3.10 Uhr: Begleitung vom Tunnel zu den Kavernen nach Jemgum. Da konnte ich ihn schon nicht mehr erreichen. Den Transport haben die Kollegen von der Georgstraße übernommen.«
Onno schloss die Augen. »Rolf hat bestimmt beim Tunnel auf den nächsten Transport gewartet.« Er konnte sich nur schwer konzentrieren. Der Nachtdienst forderte Tribut. Er stellte sich vor, wie Rolf Berger mit dem Streifenwagen auf Warteposition hinter dem Tunnel stand. Gleich dahinter in Richtung Niederlande befand sich der Parkplatz Rheiderland. Jetzt fiel es ihm wieder ein. »Klaas, das Blaulicht auf der Gegenfahrbahn!«
Klaas sah ihn fragend an. »Blaulicht? Onno, was meinst du denn?«
»Mark, hatten wir noch einen Einsatz am Rastplatz Rheiderland?«, fragte Onno.
Der Schichtleiter ärgerte sich, weil er nicht wusste, was Onno von ihm wollte. »Nee, Onno, hatten wir nicht. Was soll die Frage?«
»Als wir den vorletzten Transport hatten«, erklärte Onno, »du weißt schon, vom Grenzübergang bis zum Tunnel …«
»Ja, ich weiß. Was hat das mit Rolf zu tun?«
»Lass mich ausreden. Kurz vorm Tunnel, also Höhe Parkplatz, habe ich auf der anderen Seite ein Blaulicht gesehen. Komm mit, Klaas, wir fahren da jetzt hin.«
Sie setzten sich in den Bulli. Onno fuhr mit Motmusik20 durch die Kurven und raste Richtung Parkplatz. Das Gaspedal drückte auf das Bodenblech. Klaas’ rechte Hand klammerte sich um den Haltegriff.
In Rekordzeit durchfuhren sie den Tunnel. Schon bei der leichten Rechtskurve sahen sie das Blaulicht.
»Scheiße, Onno«, sagte Klaas. »Ich glaube, du hast recht.«
Tag 4, 05.15 Uhr
PP Rheiderland, Rtg. Mep./Ndl.21
Der querstehende Streifenwagen blockierte die Zufahrt zum Parkplatz. Kein Zweifel, das war der Mercedes-Kombi, mit dem Rolf unterwegs war. Die Kollegen stiegen aus und rannten zu seinem Streifenwagen.
Irgendwie hatten sie erwartet, dass Rolf mit einem ernsten Gesundheitsproblem im Auto sitzen würde. Aber Fehlanzeige, keine Personen im Fahrzeug. Onno zog am Türgriff. »Der Wagen ist verriegelt. Hier liegt sein Notizbuch auf der Ablage. Sieht aus, als hätte er uns eine Mitteilung geschrieben. Ich kann es aber nicht lesen. Zu beschlagen, die Scheibe.«


