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Sie spürten beide, dass hier etwas oberfaul war. Klaas nahm das Handy und rief Mark an. Alle drei waren aufgeregt. »Mark, bleib ruhig. Wir gehen jetzt auf den Parkplatz, vielleicht klärt sich noch alles auf.«
Dies war aber nicht der Fall. Der Parkplatz war praktisch leer. Die Hoffnung, ihren Kollegen zu finden, verringerte sich von Minute zu Minute. Sie suchten den gesamten Parkplatz, ja, sogar die angrenzenden Gräben noch einmal ab. Keine Spur von Rolf Berger.
Klaas rief auf der Wache an. »Mark, wir brauchen hier die Zweitschlüssel des Streifenwagens, mit dem Rolf unterwegs war. Zweitens kannst du die Nummer von Rolfs Handy wählen. Vielleicht können wir ihn ja so orten.«
»Mach ich«, antwortete Mark. »Und ich bitte die Kollegen aus der Georgstraße um Unterstützung. Die Kollegen vom Streifendienst aus der Stadt sollen euch den Schlüssel zum Parkplatz bringen.«
Wenig später hörten Onno und Klaas ein leises Klingeln und folgten dem Geräusch. Das schwache Licht des Handydisplays leuchtete im Gras zwischen den hinteren Büschen der Grünanlage. Die Sorge um ihren Kollegen verwandelte sich in Angst.
»Klaas, ich hab ein ganz mieses Bauchgefühl.« Onno hörte selbst, wie unsicher seine Stimme klang. »Was ist hier eigentlich los?
»Verdammt! Wo ist Rolf geblieben? Der kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben!« Klaas bückte sich, um das Handy aufzuheben, doch dann stand er ohne Handy wieder auf. Sie sahen sich an und dachten dasselbe. Bloß keine Spuren vernichten.
Vorsichtig suchten sie die Umgebung ab. Nichts, keine Spur von ihrem Kollegen.
Kurz darauf hielt ein Streifenwagen, ein neuer Passat, hinter ihrem auf dem Standstreifen. Die Kollegen übergaben die Zweitschlüssel des Mercedes. Natürlich wollten sie wissen, was los war. Während Klaas sich mit ihnen unterhielt, holte sich Onno Einmalhandschuhe aus Latex aus seiner Einsatztasche und streifte sie über. Er drückte auf die Fernbedienung der Zentralverriegelung und die Lichter des Streifenwagens leuchteten kurz auf. Vorsichtig öffnete Onno die Fahrertür und beugte sich ins Innere.
Auf dem Rücksitz lag die Einsatztasche. Ansonsten keine weitere Ausrüstung von Rolf. Im Auto roch es etwas muffig, wie ein nasser Hund. Der Hörer des Funkgerätes hing ordentlich in der Halterung. Der Notknopf war nicht gedrückt worden. Keine Blutflecken, keine Spuren eines Kampfes und auch keine Patronenhülsen. Auf dem Armaturenbrett lag das aufgeschlagene Notizbuch.
Endlich konnte Onno lesen, was dort in großer Schrift stand. Ich habe die Frau meines Lebens gefunden. Ich hab keinen Bock mehr auf diese Scheiße.
Nun verstand er gar nichts mehr.
Tag 4, 06.00 Uhr
Wohnhaus Familie Martens
Das Klingeln des Telefons weckte Anton Martens, den Chef der Autobahnpolizei. Er hörte sich an, was Mark ihm zu sagen hatte.
Martens war müde, aber entschlossen. »Ich komme so schnell wie möglich. Die Nachtschicht soll unbedingt auf mich warten. Bis gleich.«
Auf dem Weg zur Dienststelle überlegte er, was passiert sein könnte. Im Grunde gab es nur zwei Möglichkeiten. Die erste war, dass Rolf Berger sich abgesetzt hatte. Vielleicht gab es Probleme im familiären Bereich der Bergers, von denen er nichts wusste. Die zweite: Man hatte Berger entführt oder Schlimmeres. Dann sollte die Notiz im Streifenwagen die Ermittler ablenken.
Instinktiv entschied er sich für diese zweite Möglichkeit. Nun war passiert, was viele insgeheim befürchtet hatten. Die Streifenfahrten nachts alleine waren eine Notlösung. In einem Streifenwagen sollte eigentlich ein zweiter Kollege den anderen absichern.
So ein Mist. Berger hatte doch nur die Schwertransporte übernehmen sollen. Was war bloß passiert?
Tag 4, 06.30 Uhr
Dienstgebäude Autobahnpolizei am Emstunnel22
Als Martens die Wache betrat, hatten sich die Kollegen der Nachtschicht dort versammelt. Zunächst ließ er sich von jedem Beamten erzählen, was in der Nacht passiert war. Mark schilderte ihm die Abläufe auf der Wache, Onno und Klaas die Situation auf dem Parkplatz.
Martens fragte nach. »Der Streifenwagen von Rolf steht noch dort?«
»Ja, wir haben nur vorsichtig hineingesehen. Nichts Auffälliges bis auf dieses Notizbuch. Die Kollegen von der Georgstraße sperren den Parkplatz ab. Vielleicht ist es ja ein Tatort«, sagte Klaas mit belegter Stimme.
Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht, dachte Onno. Jetzt hat Klaas das gesagt, was alle denken. Rolf ist einem Verbrecher in die Arme gelaufen. Der Himmel stehe ihm bei.
Antons Vertreter Heinrich Greve kam gerade dazu und ließ sich kurz den Sachverhalt erklären.
»Ich fahr jetzt rüber zu unserer vorgesetzten Dienststelle«, sagte Martens, »informiere den Chef und organisiere die Fahndung. Heinrich, für dich habe ich eine echt unangenehme Aufgabe: Du musst zu Frau Berger. Versuch ihr schonend beizubringen, was wir bis jetzt wissen.«
Greves Gesicht sprach Bände. Was sollte er der Frau seines Kollegen denn erklären? Im Grunde wussten sie ja noch nichts Konkretes.
Tag 4, 7.00 Uhr
Stadt Leer, Polizeidienstgebäude23
Anton Martens fuhr zur vorgesetzten Dienststelle in Leer. Er ging davon aus, dass sein Kollege Rolf entführt worden war. Nun musste er die Führung von seiner Einschätzung überzeugen. Diese Situation konnte die Autobahnpolizei nicht alleine lösen.
In der sogenannten Teppich-Etage, den Büros der Polizeiführung, erklärte Anton seinem Chef Thomas Sprengel den bis jetzt bekannten Sachverhalt.
Sprengel machte ein besorgtes Gesicht, als er zum Telefon griff. »Hallo, Renko, hier ist Thomas. Kannst du mal zu mir kommen? Es ist wichtig.«
Zusammen mit Renko Dirksen berieten sich die Männer dann, wie sie vorgehen sollten. Auf dem Tisch lag eine Karte vom Landkreis Leer.
»Anton, es ist deine Autobahn.« Thomas Sprengel sah ihn auffordernd an. »Womit können wir euch unterstützen?«
»Zunächst wäre da natürlich der Parkplatz Rheiderland. Ich meine, wir sollten erst mal die Spurensicherung ihre Arbeit machen lassen. Meine Leute haben alles so gelassen, wie sie es vorgefunden haben. Den Streifenwagen, mit dem Berger unterwegs war, und das Handy haben wir nicht angerührt.«
»Super«, sagte Renko Dirksen. »Dann lassen wir den Wagen in einer Halle unterstellen. Ich schick die Spurensicherung zum Parkplatz. Albert Brede und Stefan Gastmann übernehmen das.«
»Hunde«, sagte Thomas Sprengel, »wir brauchen die Hundestaffel. Sobald ihr mit der Spurensicherung durch seid, schicken wir die Hunde über den Platz. Dafür brauchen wir eine Geruchsprobe vom Kollegen. Anton, kannst du das organisieren?«
»Ja, in Rolfs Spind auf der Dienststelle dürfte was Passendes sein.«
»Wir brauchen noch Hubschrauber. Am besten mit Wärmebildkamera«, schlug Renko vor. »Und jede Menge Kollegen für die Suchaktionen.«
Thomas nickte. »Besorge ich. Von wo aus soll die Suche koordiniert werden?«
»Bei uns«, schlug Anton vor. »Die Dienststelle der Autobahn liegt zentral.«
»Find ich auch, Anton, aber für so eine Aktion brauchst du noch Unterstützung.«
Thomas überlegte nicht lange. »Renko, ich brauch deinen besten Mann für die Suche.«
Renko lachte. »Jan Broning, daran hab ich auch schon gedacht. Momentan haben wir die Leiche vom Parkplatz in Arbeit, da ist Jan dran. Aber diese Sache geht natürlich vor. Ich red mit ihm.«
»Okay, denn man los, wir haben keine Zeit zu verlieren«, beendete Thomas Sprengel die kleine Versammlung.
Die größte Fahndung seit Bestehen der Dienststelle am Emstunnel begann.
9 siehe Punkt 5 auf der Karte
10 siehe Punkt 5 auf der Karte
11 siehe Punkt 3 auf der Karte
12 siehe Punkt 8 auf der Karte
13 siehe Punkt 18 auf der Karte
14 siehe Punkt 5 auf der Karte
15 Streifenwagen mit nur einem Beamten besetzt
16 zwei Beamte
17 Richtung Niederlande
18 siehe Punkt 4 auf der Karte
19 siehe Punkt 14 auf der Karte
20 eingeschaltetes Martinshorn und Blaulicht
21 siehe Punkt 4 auf der Karte
22 siehe Punkt 14 auf der Karte
23 siehe Punkt 13 auf der Karte
Kapitel 5
Tag 4, vormittags
Dienststelle der Autobahnpolizei
am Emstunnel24
Der Leiter des Fachkommissariates, Renko Dirksen, hatte Jan Broning gebeten, die Fahndung zusammen mit Anton Martens, dem Leiter der Autobahnpolizei, zu koordinieren. Die Suche nach dem vermissten Kollegen sollte vom Dienstgebäude der Autobahnpolizei aus organisiert werden. Kurze Wege waren immer gut. Sie saßen sich in einem Nebenraum der Wache gegenüber, der für die Schichtleiter gedacht war. Man konnte durch große Fenster in den Wachraum sehen. Dieses kleine Büro diente jetzt als Einsatzzentrale.
Anton sah blass und besorgt aus. Immer wieder stand er auf, sah hinüber zur Wache. Er hoffte immer noch, dass jeden Moment eine gute Nachricht eintreffen würde. Sie hatten gemeinsam die Einsatzkräfte eingewiesen. Dazu gehörten ein Polizeihubschrauber und die Hundeführerstaffel. Außerdem hatten sich etliche Kollegen freiwillig für die Suche zum Dienst gemeldet.
Jans Diensthandy klingelte. »Broning!«
»Hier ist Stefan. Wir sind auf dem Parkplatz fertig. Wir haben das Handy von Rolf Berger, und die Zündschlüssel des Streifenwagens haben wir auch in der Grünanlage gefunden. Der Wagen ist jetzt auf dem Weg zur Halle des Abschleppers. Albert und ich wollen ihn uns dort genauer ansehen und die Spurensicherung durchführen. Ist das okay?«
»Mach es so. Danke, Stefan. Sobald ihr was im Auto gefunden habt, meldet euch bitte. Ich bleib erst mal hier bei der Autobahnpolizei.«
Jan legte das Handy auf den Tisch. Anton sah ihn erwartungsvoll an. »Es war Stefan Gastmann, der Streifenwagen wird jetzt abgeschleppt und nach Spuren untersucht.« Jan sah die Enttäuschung in Antons Gesicht. »Ich weiß, viel haben wir noch nicht, aber jetzt können wir die Hundeführer einsetzen.«
Anton hatte Rolf Bergers Spind mit einem Zweitschlüssel geöffnet. Hundeführer Hermann Blohm hatte einige Bekleidungsstücke mitgenommen. Er stand zusammen mit seiner Kollegin Insa Boomgarden auf dem Innenhof, sein belgischer Schäferhund Bronko und ihr Labrador Rambo einsatzbereit in den Fahrzeugen.
Anton öffnete das Fenster. »Kollegen, kommt doch mal rein, kann gleich losgehen.«
Gemeinsam überlegten sie in der Einsatzzentrale, wie man jetzt vorgehen wollte. Zuerst war natürlich der gesamte Parkplatzbereich Rheiderland an der Reihe. Danach systematisch alle anderen Parkplätze in der Umgebung.
Tag 4, mittags
PP Rheiderland, Rtg. Mep./Ndl.25
Anton hielt im Büro die Stellung. Jan Broning war mit rausgefahren. Auf dem Parkplatz Rheiderland schnüffelten Bronko und Rambo an der Tüte mit der Bekleidung des Kollegen Berger.
Die Suche verlief enttäuschend. Am Ende blieben beide Tiere an einer Stelle auf der Pflasterung des Parkplatzes stehen und bellten. Diese Stelle markierten die Kollegen mit Kreide.
Die Hundeführer waren sich einig: Rolf Berger hatte sich nur in einem Bereich von maximal zehn Metern um die markierte Stelle herum aufgehalten. Ein wenig ratlos versuchte Jan, die Situation einzuschätzen. Die Stelle war mindestens 200 Meter von der Einfahrt zum Parkplatz entfernt, wo Bergers Streifenwagen gestanden hatte. Diese Suchaktion verlief immer rätselhafter.
Er bat die Hundeführer, noch einmal die Strecke von der Einfahrt bis zur markierten Stelle abzusuchen, erkannte aber am Verhalten der Hunde, dass sie in diesem Bereich keine Witterung aufnahmen. Wie war das möglich, hatten sich die Hunde geirrt?
»Auf keinen Fall!«, wehrte Hermann Blohm ab.
»Es hat nicht geregnet«, sagte Insa Boomgarden. »Außerdem sind die Spuren frisch.«
Es gab nur eine Erklärung: Eine andere Person hatte den Streifenwagen zur Parkplatzeinfahrt gefahren. Diese Person hatte den Parkplatz mit dem Streifenwagen bewusst gesperrt. Aber weshalb ?
Jan beantwortete sich die Frage selber: Die oder der Täter wollten ungestört sein, Zeit gewinnen.
Rolf Berger hatte sich an der markierten Stelle aufgehalten. In einem anderen Fahrzeug hat er den Parkplatz verlassen. Freiwillig? Oder war er gezwungen worden?
Die Notiz im Streifenwagen fiel Jan wieder ein, der Hinweis auf eine andere Frau. Aber warum sollte Berger den Streifenwagen ausgerechnet an der Einfahrt abstellen, um dann in den Wagen seiner Freundin einzusteigen? Warum sollte er sein Handy und die Zündschlüssel in die Botanik werfen? Das ergab überhaupt keinen Sinn.
Nein. Der Vermisste hatte den Parkplatz in einem fremden Fahrzeug verlassen, und vermutlich hatte er das nicht freiwillig getan.
Hermann Blohm kam auf Jan zu. »Wir fahren jetzt weiter zum PP Rhede. Oder hast du eine andere Idee?«
»Okay, und danke erst mal. Ihr habt uns schon weitergeholfen«, erwiderte Jan nachdenklich. Die Spurensicherer mussten sich später unbedingt noch einmal die markierte Stelle ansehen.
Er hörte den Polizeihubschrauber, bevor er ihn sehen konnte. Im Zivilwagen nahm Jan Kontakt mit dem Piloten auf und bat ihn um einige Übersichtaufnahmen vom Parkplatz mit der Bordkamera. Die beiden Teams der Hundeführer hatten den Platz inzwischen verlassen. Endlich konnte er sich den Tatort noch einmal genau ansehen. Hätte er dies vorher getan, wäre die Arbeit der Hundeführer noch komplizierter geworden. Seine hinterlassenen Geruchsspuren hätten die Hunde irritiert.
Jan Broning ging noch einmal die Strecke von der Einfahrt bis zu den Parkflächen ab. Auf die Geräusche der vorbeifahrenden Autos und des Hubschraubers achtete er nicht mehr. Immer wieder blieb er stehen, sah sich um und ging die Stecke wieder zurück. Er versuchte, sich die Situation in der Nacht vorzustellen, immer wieder fuhr der Streifenwagen in seinen Gedanken auf den Parkplatz. Einmal befand sich der Streifenwagen vor einem anderen Fahrzeug, dann wieder hinter einem Fahrzeug.
Sein Handy klingelte. »Broning!«, meldete er sich.
»Hallo, Jan, hier ist Hundeführer Blohm.« Der Kollege klang aufgeregt und außer Atem. »Wir haben auf dem Parkplatz Rhede eine Leiche gefunden.«
*
Tag 4,
PP Rhede, Rtg. Mep.26
Jan Broning zwang sich, ruhig zum Parkplatz Rhede zu fahren. Er parkte neben den anderen Polizeiwagen. Vor den Einsatzfahrzeugen flatterte das Absperrband im Wind. Wie versprochen, hatten die Hundeführer den halben Rastplatz abgesperrt.
Blohm kam auf ihn zu, als Jan ausstieg. Während er wartete, bis Jan sich den weißen Overall angezogen hatte, schilderte er kurz, wie sie den Toten gefunden hatten. Jan folgte ihm auf dem angelegten Trampelpfad. Es roch nach Wald und abgebrochene Zweige raschelten unter den Füßen der Polizisten. Jan Broning sah zuerst auf das Gesicht des Toten und atmete erleichtert tief durch. Vor ihm lag nicht der gesuchte Kollege Berger.
Der Tote, Jan schätzte ihn auf etwa 40, lag auf dem Rücken. Wie bei der ersten Leiche fehlte auch hier der rechte Zeigfinger, und die Gesichtsfarbe war unnatürlich rot. Jans Blick suchte vergeblich nach einem Ring an den Fingern des Toten. Dafür trug er eine Halskette.
Stefan Gastmann und Albert Brede waren vermutlich noch mit der Spurensicherung am Fahrzeug des ersten Opfers beschäftigt, aber Jan brauchte hier unbedingt Unterstützung. Er wählte Stefans Nummer. »Stefan, ich brauche euch beide hier. Die Arbeit am Auto könnt ihr später erledigen.« Jan erklärte kurz die Anfahrt zum Parkplatz, dann wartete er auf die beiden und dachte über die aktuelle Lage nach.
Die Suche nach dem vermissten Kollegen war bis jetzt negativ verlaufen. Keine Spuren oder Hinweise auf Rolf. Dafür hatten die Hundeführer jetzt diesen zweiten Toten gefunden. Die Übereinstimmungen zu der ersten Leiche auf dem Parkplatz Uplengen waren nicht zu übersehen. Das Ergebnis der Obduktion der ersten Leiche lag noch nicht vor. Aber Jan war sicher, dass die Todesursache eine Kohlenmonoxid-Vergiftung war, und die würde man garantiert auch bei der zweiten Leiche feststellen.
Sie hatten Glück gehabt, ohne die Großfahndung nach dem vermissten Kollegen hätten sie die zweite Leiche nicht so schnell gefunden. Handelte es sich hier wieder um eine besondere Form des Nachtatverhaltens? Wollten der oder die Täter die Identifizierung der Leiche durch die Abtrennung des Zeigefingers erschweren? Nein, das erschien unlogisch. Und dann war da ja noch diese Kette um den Hals des Toten. Und dieses Schmuckstück sah auf den zweiten Blick auch wieder billig aus.
Er hörte den lauten Motor des weißen Bulli der Spurensicherung und ging zurück zum Parkplatz, um die Kollegen einzuweisen. Albert sah genervt aus.
»Albert, ich weiß, du brauchst deine Ruhe und Zeit bei der Arbeit, aber im Moment überschlagen sich die Ereignisse. Ich kann es nicht ändern. Ich helfe euch erst mal bei der Ausrüstung. Dann sehen wir uns den Toten gemeinsam an. Den Bestatter ruf ich an, da braucht ihr euch nicht drum zu kümmern. Anschließend fahre ich noch einmal zum Parkplatz und sehe mir die markierte Stelle ein zweites Mal an.«
Das Klingeln seines Diensthandys unterbrach ihn. »Jan, hier ist Renko. Ich habe gehört, ihr habt einen zweiten Toten auf einem Parkplatz gefunden.«
»Ja, und es sieht so aus, als hätte derselbe Täter zugeschlagen. Der Modus Operandi ist identisch.«
»Jan, sprechen wir über einen Serientäter?«
»Ja, ich glaube, es ist so.«
Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. Dann fragte Renko: »Jan, was ist mit unserem vermissten Kollegen Berger – immer noch keine Spur?
»Nee, Renko, Fehlanzeige. Du, wo wir gerade beim Thema sind: Ich brauch noch ein zweites Team für die Spurensicherung. Ein markierter Bereich auf dem Pflaster des Parkplatzes Rheiderland muss noch abgesucht werden.«
»Okay, Albert mault sicher schon rum, so wie ich ihn kenne.«
Na, dachte Jan, der Chef kennt seine Schweine auch schon am Gang. »Ich fahr gleich zurück zum Parkplatz und warte auf das zweite Team.« Er suchte nach den richtigen Worten. »Renko, ich vermute einen Tatzusammenhang zwischen unserem vermissten Kollegen und den beiden Toten.«
Renko legte eine kurze Denkpause ein. Dann sagte er: »Ich stimme dir zu, es kann kein Zufall sein. Wir haben zwei Tote auf Autobahnparkplätzen, gleichzeitig verschwindet ein Polizist von der Autobahnpolizei … Ich kümmere mich um das zweite Team, dann geh ich zum Rapport in die Teppich-Etage. Macht ihr da draußen erst mal weiter.«
*
Jan bestellte den Bestatter Erdmann zum Parkplatz Rhede, dann ging er zu seinen Kollegen Albert und Stefan hinüber.
Stefan kniete neben der Leiche. Er hatte gerade die Kleidung des Toten durchsucht. Er stand auf, sah Jan an und zuckte mit den Schultern. »Keine Papiere oder Hinweise auf die Identität. Wie bei der ersten Leiche. Nur diesmal ist unser Opfer … sagen wir mal, etwas salopp formuliert, frischer. Die Leichenstarre ist fast vollständig ausgeprägt. Die Leichenflecken lassen sich noch wegdrücken. Beim ersten Toten hatte sich die Leichenstarre bereits gelöst und die Leichenflecken ließen sich nicht mehr wegdrücken. Bei dieser trat der Tod mindestens vor 20 Stunden ein. Also 20 Stunden plus X. Die Differenz zwischen der Körperkerntemperatur und der Umgebungstemperatur lässt sich nicht berechnen, weil die Temperatur in der Nacht abgefallen ist. Mit dem Lauf der Sonne lag die Leiche im Bereich der Sonneneinstrahlung oder im Schatten, mit diesen unterschiedlichen Temperaturen lässt sich nicht vernünftig rechnen.« Stefan notierte die Körpertemperatur für den Tatortbericht und verstaute das Thermometer im Koffer.
Jan wusste, dass die Bestimmung der Todeszeit sehr kompliziert war. Es gab natürlich Fälle, wo die Umgebungstemperatur konstant war, zum Beispiel wenn man Tote in einer Wohnung auffand. Öffnete dann jemand ein Fenster und die Temperatur variierte, war es aber auch wieder ähnlich wie hier draußen. Dies führte zu ungenauen Ergebnissen bei den Berechnungen.
»Lasst euch Zeit. Ich hab mit Renko telefoniert. Er schickt ein zweites Team zum Parkplatz Rheiderland und ich fahr gleich noch einmal hin. Den Bestatter hab ich auch schon angerufen.«
Stefan verzog das Gesicht. »Sag bloß nicht, dieser Wiener Sängerknabe, dieser Erdmann, holt ihn ab.«
Jan grinste. »Tschüss, ich muss los.« Er hoffte, dass die Kollegen auf dem anderen Parkplatz bereits auf ihn warteten.
Tag 4, nachmittags
PP Rheiderland, Rtg. Mep.27
Auf der Fahrt zum Parkplatz Rheiderland saß Jan Broning wieder alleine im Auto. Fahrten zum Einsatzort nutzte er sonst meist, um sich mit einem Kollegen zu besprechen. Im Dialog kamen ihm die besten Ideen. Diese Alleinfahrten waren für ihn schrecklich. Ich brauche unbedingt einen Partner an meiner Seite, dachte er. Natürlich war das im Idealfall Maike.
20 Minuten später fuhr er an der immer noch gesperrten Einfahrt des Parkplatzes vorbei, stoppte an der Ausfahrt und fuhr rückwärts auf den Platz. Die weißen Overalls der Kollegen Anni Ruiter und Egon Kromminga fielen sofort auf. Jan stieg aus und ging zu ihnen hinüber.
Er gab beiden die Hand. »Danke für eure Unterstützung. Wollen wir uns erst mal einen Überblick verschaffen?«
Sie gingen zusammen über den Parkplatz und Jan erklärte ihnen die Situation. Anschließend überlegten sie, wie man am besten vorgehen konnte. Der abgesperrte Bereich an der Zufahrt sollte gründlich abgesucht werden, besonders die Stellen, wo man das Handy und die Zündschlüssel gefunden hatte. Beide Bereiche waren markiert worden. Dazwischen befand sich auf einer Wiese eine Sitzgruppe aus Beton. Broning nahm sein Notizbuch und Handy aus der Tasche, legte beides auf den Tisch und setzte sich auf eine Bank, von der aus er einen guten Überblick hatte.
Jan machte sich Notizen und schaute zwischendurch auf, um zu sehen, wie weit die Kollegen waren. Sie bauten gerade ein elektronisches Metallsuchgerät zusammen. Jan lächelte, weil er sich freute, wie gut die beiden zusammenarbeiteten. Egon schwenkte den Teller des Suchgerätes langsam über dem Erdboden hin und her. Dabei näherte er sich der Stelle, wo man Rolf Bergers Handy gefunden hatte. Anni suchte in der Zwischenzeit noch einmal den Bereich auch außerhalb der Markierungen ab. Immer wieder bückte sie sich, um sich einzelne Gegenstände genauer anzusehen.
Jan Broning fertigte eine grobe Skizze in seinem Notizbuch und sah immer wieder auf, um die Zeichnung mit den tatsächlichen örtlichen Verhältnissen zu vergleichen.
Das Metallsuchgerät gab einen lauten Signalton ab. Aus den Augenwinkeln beobachte Jan, wie Egon sich hinunterbeugte, um an der Stelle den Boden genauestens abzusuchen. Dann sah er zu Jan hinüber und schüttelte den Kopf. Die Signaltöne des Gerätes und das Rascheln, wenn Anni sich durch die Büsche kämpfte, vermischte sich mit den Geräuschen des Verkehrs, der auf der Autobahn an ihnen vorbeirauschte.
Jan zeichnete die Fundstelle des Handys ein. Die Entfernung von dort bis zu dem Bereich, wo sich Berger aufgehalten hatte, schätzte er grob auf 15 bis 20 Meter. Das Handy war vermutlich zusammen mit den Schlüsseln in die Grünanlage geworfen worden. Fragte sich nur, von wem und warum. Sollte Berger sein Handy selbst weggeworfen haben? Sehr unwahrscheinlich.
Die oder der Entführer wollten vermutlich eine erfolgreiche Handypeilung verhindern. Dazu passte auch der schriftliche Hinweis auf eine andere Frau im Notizbuch des Kollegen: ein Ablenkungsmanöver, da war Jan sich inzwischen sicher. Die Begegnung der Täter mit dem Kollegen Berger hier auf dem Parkplatz war vermutlich Zufall gewesen. Trotzdem hatte er oder sie überlegt gehandelt, und das sagte viel über die Kaltblütigkeit aus.
Jan blickte von seinem Notizbuch auf, als ein Mercedes rückwärts auf den Parkplatz fuhr. Das Getriebe heulte protestierend auf, als der Wagen im Rückwärtsgang beschleunigte. Jan erkannte ihn sofort. Sein Chef hatte diesen ausgelutschten Streifenwagen von der Autobahnpolizei ›geerbt‹. Die blauen Folien und die Signalanlage hatte man entfernt.
Der Mercedes parkte neben Bronings Zivilwagen, und Renko Dirksen stieg aus. Jan winkte ihm zu. Dirksen achtete sehr auf sein Äußeres. Er trug edle Klamotten – Hut, langer Mantel und sauteure italienische Schuhe. Irgendwie sah er aus wie dieser Kommissar Maigret aus den alten Schwarzweiß-Fernsehkrimis. Fehlte eigentlich nur noch die Pfeife.


