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Diese Frage blieb unbeantwortet, denn zwei Handwerksleute kamen herein, verlangten Bescheid, und Herr Pfäffling machte rasch der Unterredung ein Ende, indem er sagte: »Wie ungeschickt bin ich Ihnen mit dieser Sache gekommen, ich sehe, Sie sind draußen unentbehrlich und will Sie nicht aufhalten.« Er ging, der Hotelbesitzer hielt ihn nicht zurück.
»Diese Sache ist misslungen,« sagte sich Herr Pfäffling, »ich habe nichts erreicht, als dass sich der Mann über mich ärgert.« Und nun ärgerte auch er sich, aber nur über sich selbst. Warum hatte er sich seine Worte nicht erst in Ruhe überlegt und schonend vorgebracht, was er sagen wollte, statt diesen ahnungslosen Vater mit hageldicken Vorwürfen zu überschütten? Nun ging er mit sich selbst ebenso streng ins Gericht: »Nichts gelernt und nichts vergessen; immer noch gerade so ungestüm wie vor zwanzig Jahren; immer vor getan und nach bedacht, trotz aller Lebenserfahrung: wenn du es nicht besser verstehst, auf die Leute einzuwirken, so lass die Hand davon; kümmere dich um deine eigenen Kinder, wer weiß, ob sie andern Leuten nicht auch verkehrt erscheinen.«
Nachdem sich Herr Pfäffling so die Wahrheit gesagt hatte, beruhigte er sich über Rudolf Meier, und versetzte sich in Gedanken zu seinen eigenen Kindern. Nun kam ihm wieder die Pfäfflingsche Note in den Sinn: eins bis zwei. Er dachte in dieser Richtung noch weiter nach, und die Folge davon war, dass er nach seiner Rückkehr dem ersten, der ihm zu Hause in den Weg lief, zurief:
»Legt mir alle sechs Zeugnishefte aufgeschlagen auf meinen Tisch, ich will sie sehen!«
Das gab nun eine Aufregung in der jungen Gesellschaft! »Die Zeugnisse müssen her, der Vater will sie sehen!« flüsterte eines dem andern zu. »Warum denn, warum?« Niemand wusste Antwort, aber jetzt half keine List mehr, Marie musste die Heftchen hervorholen aus ihrem sichern Versteck und sie hinübertragen in des Vaters Zimmer.
»Ich habe das deinige ein wenig versteckt,« sagte sie zu Wilhelm, als sie wieder herüberkam, »vielleicht übersieht es der Vater.«
Herr Pfäffling kannte seine Kinder viel zu gut, als dass er ihre kleine List mit der guten Durchschnittsnote nicht durchschaut hätte. »Irgend etwas ist sicher nicht in Ordnung,« sagte er sich, »gewiss sind ein paar fatale Dreier da, oder eine schlechte Bemerkung über das Betragen.« Er überblickte die kleine Ausstellung auf seinem Tisch. Da lag zuvorderst Karls Zeugnisheft. Dies hielt sich so ziemlich gleich, jahraus, jahrein, nie vorzüglich, immer gut. Es gab das Bild eines gewissenhaften Schülers, aber nicht eines großen Sprachgelehrten.
Dann Otto. In den meisten Fächern I. So einen konnte man freilich gut brauchen, wenn sich's um eine Durchschnittsnote handelte, der konnte viele Sünden anderer gut machen.
Maries Heftchen zeigte die größte Verschiedenheit in den Noten. Wo die Geschicklichkeit der Hand in Betracht kam und der praktische Sinn, da war sie vorzüglich, in Handarbeit, Schönschreiben, Zeichnen, da tat sie sich hervor, aber bei der rein geistigen Arbeit war selten eine gute Note zu sehen. Und von Anne konnte man das auch nicht erwarten, denn sie war von der Natur ein wenig verkürzt, das Lernen fiel ihr schwer, ohne Maries Hilfe wäre sie wohl nicht mit ihrer Klasse fortgekommen, aber die Lehrer und Lehrerinnen hatten sich längst darein gefunden, bei diesen Zwillingsschwestern das gemeinsame Arbeiten zu gestatten und die Marianne als ein Ganzes zu betrachten. So schlugen sie sich schlecht und recht miteinander durch und unter Annes Noten glänzten doch immer zwei I, durch alle Schuljahre hindurch: im Singen und im Betragen.
Bis jetzt hatte Herr Pfäffling noch nichts Neues oder Besonderes entdecken können und nun hielt er Frieders Zeugnis in der Hand und staunte. Was für gute Noten hatte sich der kleine Kerl diesmal erworben! Fast in jedem Fach besser als früher und in einer Bemerkung des Lehrers waren seine Fortschritte und sein Fleiß besonders anerkannt! Wie kam das nur? Es musste wohl mit der Harmonika zusammenhängen, die ihm früher alle Gedanken, alle freie Zeit in Anspruch genommen hatte! Herr Pfäffling hatte seine Freude daran und es kam ihm der Gedanke, seine Kinder seien vielleicht doch nur durch die besseren Zeugnisse auf den Einfall gekommen, eine Durchschnittsnote herauszurechnen. Wieviel Heftchen hatte er schon gesehen? Fünf, eines fehlte noch, Wilhelms Zeugnis, wo war denn das? Ah, hinter den Büchern, hatte es sich wohl zufällig verschoben? Er warf nur einen Blick hinein und die ungewohnte Form der Zahl IV sprang ihm ins Auge. Also das war's! Mathematik IV. Das war stark. Herr Pfäffling lief im Zimmer hin und her. Wie konnte man nur eine so schlechte Note heimbringen! Und wie feig, sie so zu verstecken, und wie dumm, zu meinen, der Vater ließe sich auf diese Weise überlisten! Schlechtere Noten konnte Rudolf Meier auch nicht heimbringen.
Er nahm das Heftchen noch einmal in die Hand. Im ganzen war das Zeugnis etwas besser als die früheren, also Faulheit oder Leichtsinn war es wohl nicht, aber für die Mathematik fehlte das Verständnis.
Eine Weile war Herr Pfäffling auf und ab gegangen, da hörte er jemand an seiner Türe vorbeigehen und öffnete rasch, um Wilhelm zu rufen. Es war Elschen. Als sie den Vater sah, sprang sie auf ihn zu, sah ihm fragend ins Gesicht und sagte dann betrübt: »Vater, du denkst gar nicht daran, dass morgen Weihnachten ist!« und sie schmiegte sich an ihn und folgte ihm in sein Zimmer. Er zog sie freundlich an sich: »Es ist wahr, Elschen, ich habe nicht daran gedacht, es ist gut, dass du mich erinnerst.«
»Die andern denken auch nicht daran,« klagte die Kleine, »sie reden immer nur von ihren Zeugnissen und freuen sich gar nicht.«
»So?« sagte Herr Pfäffling und wurde nachdenklich, »am Tag vor Weihnachten freuen sie sich nicht? Nun, dann schicke sie mir einmal alle sechs herüber, ich will machen, dass sie sich freuen!«
Wie der Wind fuhr die Kleine durch die Zimmer und brachte ihre Geschwister zusammen. Nun standen sie alle ein wenig ängstlich auf einem Trüppchen dem Vater gegenüber. Es fiel ihm auf, wie sie sich so eng aneinander drückten. Aus diesem Zusammenhalten war auch die Durchschnittsnote hervorgegangen.
»Ihr haltet alle fest zusammen,« sagte er, »das ist ganz recht, nur gegen mich dürft ihr euch nicht verbinden, mit List und Verschwiegenheit, das hat ja keinen Sinn! Gegen den Feind verbindet man sich, nicht gegen den Freund. Habt ihr einen treueren Freund als mich? Halte ich nicht immer zu euch? Wir gehören zusammen, zwischen uns darf nichts treten, auch kein Vierer!«
Da löste sich die Gruppe der Geschwister und in der lebhaften, warmen Art, die Wilhelm von seinem Vater geerbt hatte, warf er sich diesem um den Hals und sagte: »Nein, Vater, ich habe dir nichts verschweigen wollen, nur Weihnachten wollte ich abwarten, damit es uns nicht verdorben wird, du bist doch auch mit mir auf die Polizei gegangen, nein, vor dir möchte ich nie etwas verheimlichen!«
»Recht so, Wilhelm,« antwortete Herr Pfäffling, »was käme denn auch Gutes dabei heraus? Es ist viel besser, wenn ich alles erfahre, dann kann ich euch helfen, wie auch jetzt mit dieser schlechten Note. Was machen wir, dass sie das nächste Mal besser ausfällt? Nachhilfestunden kann ich euch nicht geben lassen, die sind unerschwinglich teuer, mit meinen mathematischen Kenntnissen ist es nicht mehr weit her, aber wie wäre es denn mit dir, Karl? Du bist ja ein guter Mathematiker und hast das alles erst voriges Jahr gelernt, du könntest dich darum annehmen. Jede Woche zwei richtige Nachhilfestunden.« Karl schien von diesem Lehrauftrag nicht begeistert. »Ich habe so wenig Zeit,« wandte er ein.
»Das ist wahr, aber du wirst auch keinen bessern Rat wissen und den Vierer müssen wir doch wegbringen, nicht? Gebt einmal den Kalender her. Von jetzt bis Ostern streichen wir fünfundzwanzig oder meinetwegen auch nur zwanzig Tage an für eine Mathematikstunde. Fällt eine aus, so muss sie am nächsten Tag nachgeholt werden. Ich verlasse mich auf euch. Macht das nur recht geschickt, dann werdet ihr sehen, im Osterzeugnis gibt es keinen Vierer mehr.« Die Brüder nahmen den Kalender her, suchten die geeigneten Wochentage aus und ergaben sich in ihr Schicksal, Lehrer und Schüler zu sein.
»So,« sagte Herr Pfäffling, »und jetzt fort mit den Zeugnissen, fort mit den Mathematik-Erinnerungen; Elschen, jetzt ist's bei uns so schön wie in der Sahara, wo es keine Schule gibt! Wer freut sich auf Weihnachten?« Während des lauten, lustigen Antwortens, das nun erklang, und Elschens fröhlichem Jauchzen ging leise die Türe auf, ein Lockenköpfchen erschien und eine zarte Stimme wurde vernommen: »Ich habe schon drei Mal geklopft, Herr Pfäffling, aber Sie haben gar nicht ›herein‹ gerufen.«
Es war Fräulein Vernagelding, die zu ihrer letzten Stunde kam. Noch immer hatte sie Herrn Pfäffling allein im Musikzimmer getroffen, als sie nun unerwartet die Kinder um ihn herum sah, machte sie große, erstaunte Augen und rief: »Nein, wie viele Kinder Sie haben!« aber noch ehe sie langsam diese Worte gesprochen hatte, waren alle sieben schon verschwunden. »Und jetzt sind alle fort! Wie schnell das alles bei Ihnen geht, Herr Pfäffling, ich finde das so reizend!«
Die fliehende Schar suchte die Mutter auf und fand sie in der Küche. Als aber Frau Pfäffling die Kinder kommen hörte, ließ sie sie nicht ein, machte nur einen Spalt der Türe auf und rief: »Niemand darf hereinschauen,« und sie sah dabei so geheimnisvoll, so verheißungsvoll aus, dass das Verbot mit lautem Jubel aufgenommen wurde. Ja, jetzt beherrschte die Weihnachtsfreude das ganze Haus und sogar aus dem Musikzimmer ertönte nicht die Tonleiter, sondern »Stille Nacht, heilige Nacht«. Aber falsch wurde es gespielt, o so falsch!
»Fräulein,« sprach der gepeinigte Musiklehrer, »Sie greifen wieder nur so auf gut Glück, aber Sie haben einmal kein Glück, Sie müssen die Noten spielen, die da stehen.«
»Ach Herr Pfäffling,« bat das Fräulein schmeichelnd, »seien Sie doch nicht so pedantisch! Das ist ja ein Weihnachtslied, dabei kommt es doch nicht so auf jeden Ton an!« Nach diesem Grundsatz spielte sie fröhlich weiter und nun, als der Schlussakkord kommen sollte, hörte sie plötzlich auf und sagte: »Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen eine kleine Handarbeit zu machen zum täglichen Gebrauch, Herr Pfäffling.«
»Den Schlussakkord, Fräulein, bitte zuerst noch den Akkord!« Da sah sie ihren Lehrer schelmisch an: »Den letzten Akkord spiele ich lieber nicht, denn Sie werden immer am meisten böse, wenn der letzte Ton falsch wird.«
»Aber Sie können ihn doch nicht einfach weglassen?«
»Nicht? Das Lied könnte doch auch um so ein kleines Stückchen kürzer sein?«
Darauf wusste Herr Pfäffling nichts mehr zu sagen. Er nahm ein in rosenrotes Seidenpapier gewickeltes Päckchen in Empfang und sagte zuletzt zu Fräulein Vernagelding, er wolle ihr nicht zumuten, vor dem 8. Januar wieder zu kommen. Darüber hatte sie eine kindliche Freude, und diese Freude, vierzehn Tage lang nichts mehr miteinander zu tun zu haben, war wohl die einzige innere Gemeinschaft zwischen dem Musiklehrer und seiner Schülerin.
In vergnügter Ferienstimmung kam er in das Wohnzimmer herüber. Er hielt hoch in seiner Rechten das eine Ende eines buntgestickten Streifens, das über einen Meter lang herunter hing.
»Da seht, was ich erhalten habe!« sagte er, »was soll's denn wohl sein? Zu einem Handtuch ist's doch gar zu schön, kannst du es verwenden, Cäcilie?« Da wurde es mit Sachkenntnis betrachtet und als eine Tastendecke für das Klavier erkannt.
»Und das soll ich in täglichen Gebrauch nehmen, immer so ein Tüchlein ausbreiten?« rief Herr Pfäffling erschreckt; »nein, Fräulein Vernagelding, das ist zu viel verlangt. Ich bitte dich, Cäcilie, ich bitte dich, nimm mir das Ding da ab!«
Herr Pfäffling hatte bis zum späten Abend keine Gelegenheit gefunden, seiner Frau von dem Gespräch mit Herrn Rudolf Meier sen. zu erzählen. Nun waren die Kinder zu Bett gegangen, Karl allein saß noch mit den Eltern am Tisch, und Herr Pfäffling berichtete getreulich die Vorgänge im Zentralhotel. Er stellte sich selbst dabei nicht in das beste Licht, aber Frau Pfäffling war der Ansicht, dass Herr Meier die Kritik seines Sohnes wohl auch in milderer Form übel genommen hätte. »Es gibt so wenig Menschen, die sich Unangenehmes sagen lassen,« meinte sie. »Und wenige, die es taktvoll anfassen,« sprach Herr Pfäffling und fügte lächelnd hinzu: »wo aber zwei solche zusammen kommen, gibt es leicht ein glückliches Paar, nicht wahr?«
Frau Pfäffling wusste, was ihr Mann damit sagen wollte, aber Karl sah verständnislos darein. »Du weißt nicht, was wir meinen,« sagte der Vater zu ihm, »soll ich es dir erzählen, oder ist er noch zu jung dazu, Cäcilie?«
»O nein,« rief Karl, »bitte, erzähle es!«
»Soll ich? Nun also: Wie die Mutter noch ein junges Mädchen war und dein Großvater Professor, da kam ich als blutjunger Musiklehrer in die kleine Universitätsstadt und machte überall meine Aufwartung, um mich vorzustellen. Fast zuerst machte ich bei deinen Großeltern Besuch. Es war Regenwetter und ich trug einen langen braunen Überrock und hatte den Regenschirm bei mir.«
»Du musst auch sagen, was für einen Schirm,« fiel Frau Pfäffling ein, »einen dicken baumwollenen grünen, so ein rechtes Familiendach, wie man sie jetzt gar nicht mehr sieht. Mit diesem Überrock und diesem Schirm trat dein Vater in unser hübsches, mit Teppichen belegtes Empfangszimmer, und er behielt den Schirm auch fest in der Hand, als mein Vater ihn aufforderte, Platz zu nehmen. Meine Mutter war nicht zu Hause, so war ich an ihrer Stelle, und mir, die ich noch ein junges, dummes Mädchen war, kam das so furchtbar komisch vor, dass ich alle Mühe hatte, mein Lachen zu unterdrücken.«
»Ja,« sagte Herr Pfäffling, »du hast es auch nicht verbergen können, sondern hast mich fortwährend mit strahlender Heiterkeit angesehen, und um deine Mundwinkel hat es immerwährend gezuckt. Ich aber hatte keine Ahnung, was die Ursache war. Dein Vater verwickelte mich gleich in ein gelehrtes Gespräch, und wenn ich dazwischen hinein einen Blick auf dich warf, so kam es mir wunderlich vor, dass du wie die Heiterkeit selbst dabei warst. Aber nun paß auf, Karl, nun kommt das Großartige. Als ich wieder aufstand, äußerte ich, dass ich im Nebenhaus bei Professor Lenz Besuch machen wollte.«
»Ja,« sagte Frau Pfäffling »und ich wusste, dass Lenzens zwei Töchter hatten, so kleinlich lieblos und spöttisch, dass jedermann sie fürchtete. Ich dachte bei mir: wenn der junge Mann im Überrock und mit dem Schirm in der Hand bei Professor Lenz in den Salon tritt, so wird er zum Gespött für den ganzen Kreis. Da dauerte er mich, und ich sagte mir, ich sollte ihn aufmerksam machen, doch war ich schüchtern und ungeschickt.«
»Du hast mich auch bis an die Türe gehen lassen,« fiel Herr Pfäffling ein, »ich hatte schon die Klinke in der Hand, da riefst du mich an, wurdest dunkelrot dabei und sagtest: ›Herr Pfäffling, wollen Sie nicht lieber ihren Überrock und Schirm ablegen?‹ Ich verstand nicht gleich, was du meintest, wollte dir doch zu Willen sein und machte Anstalt, meinen Überrock auszuziehen. Da war es aus mit deiner Fassung, du lachtest laut und riefst: ›Ich meine nicht, wenn Sie gehen, sondern wenn Sie kommen!‹ Dein Vater aber wies dich zurecht mit einem strengen Wort und setzte mir höflich auseinander, dass es allerdings gebräuchlich sei, im Vorplatz abzulegen; du aber warst noch immer im Kampf mit der Lachlust.«
»Ja,« sagte Frau Pfäffling, »so lange bis du freundlich und ohne jede Empfindlichkeit zu mir sagtest: ›Lachen Sie immerhin über den Rüpel, Sie haben es doch gut mit ihm gemeint, sonst hätten Sie ihm das nicht gesagt.‹ Da verging mir das Lachen, weil die Achtung kam.«
»Ja, Karl, so haben sich deine Eltern kennen gelernt;« schloss Herr Pfäffling.
8. Kapitel Endlich Weihnachten.
Gibt es ein schöneres Erwachen als das Erwachen mit dem Gedanken: Heute ist Weihnachten? Die jungen Pfäfflinge kannten kein schöneres, und an keinem anderen kalten, dunkeln Dezembermorgen schlüpften sie so leicht und gern aus den warmen Betten, als an diesem und nie waren sie so dienstfertig und hilfsbereit wie an diesem Vormittag. Man musste doch der Mutter helfen aus Leibeskräften, damit sie ganz gewiss bis abends um 6 Uhr mit der Bescherung fertig wurde. An gewöhnlichen Tagen schob gerne eines der Kinder dem andern die Pflicht zu, aufzumachen, wenn geklingelt wurde; heute sprangen immer einige um die Wette, wenn die Glocke ertönte, denn an Weihnachten konnte wohl etwas Besonderes erwartet werden, so z.B. das Paket, das noch jedes Jahr von der treuen Großmutter Wedekind angekommen war und durch das viele Herzenswünsche befriedigt wurden, zu deren Erfüllung die Kasse der Eltern nie gereicht hätte.
Zunächst kam aber nicht jemand, der etwas bringen, sondern jemand, der etwas holen wollte: Es war die Schmidtmeierin, eine Arbeiterfrau aus dem Nebenhaus, die manchmal beim Waschen und Putzen half und für die allerlei zurechtgelegt war. Sie brachte ihre zwei Kinder mit. Aber damit war Frau Pfäffling nicht einverstanden. »Marianne,« sagte sie, »führt ihr die Kleinen in euer Stübchen und spielt ein wenig mit ihnen, bis ich sie wieder hole.« Als die Kinder weg waren, sagte Frau Pfäffling: »Sie hätten die Kinder nicht bringen sollen, sonst sehen sie ja gleich, was sie bekommen; hat Walburg Ihnen nicht gesagt, dass wir einen Puppenwagen und allerlei Spielzeug für sie haben?« »Ach,« entgegnete die Frau, »darauf kommt es bei uns nicht so an, die Kinder nehmen es, wenn sie's kriegen, und wenn man ihnen ja etwas verstecken will, sie kommen doch dahinter und dann betteln sie und lassen einem keine Ruhe, bis man ihnen den Willen tut. Bis Weihnachten kommt, ist auch meist schon alles aufgegessen, was man etwa Gutes für sie bekommen hat. Ich weiß wohl, dass es anders ist bei reichen Leuten, aber bei uns war's noch kein Jahr schön am heiligen Abend.«
»Wir sind auch keine reichen Leute, Schmidtmeierin, aber wenn ich auch noch viel ärmer wäre, das weiß ich doch ganz gewiss, dass ich meinen Kindern einen schönen heiligen Abend machen würde. Meine Kinder bekommen auch nicht viel – das können Sie sich denken bei sieben – aber weil keines vorher ein Stückchen sieht, so ist dann die Überraschung doch groß. Glauben Sie, dass irgend eines von uns einen Lebkuchen oder sonst etwas von dem Weihnachtsgebäck versuchen würde vor dem heiligen Abend? Das käme uns ganz unrecht vor. Und wenn der Christbaum geputzt wird, darf keines von den Kinder hereinschauen, erst wenn er angezündet ist und alles hingerichtet, rufen wir sie herbei, mein Mann und ich, und dann sind sie so überrascht, dass sie strahlen und jubeln vor Freude, wenn auch gar keine großen Geschenke daliegen.«
»Bei Ihnen ist das eben anders, Frau Pfäffling, mein Mann hat keinen Sinn für so etwas und will kein Geld ausgeben für Weihnachten.«
»Haben Sie kein Bäumchen kaufen dürfen?« fragte Frau Pfäffling.
»Das schon,« sagte die Schmidtmeierin, »er hat selbst eines heimgebracht und Lichter dazu.«
»Nun sehen Sie, was braucht es denn da weiter? Ein sauberes Tuch auf den Tisch gebreitet und die kleinen Sachen darauf gelegt, die ich Ihnen hier zusammen gerichtet habe, das wäre schon genug für Kinder, aber ich denke mir, dass Sie noch von anderen Familien, denen Sie aushelfen, etwas bekommen, oder nicht?«
»Frau Hartwig hat mich angerufen, ich solle nachher zu ihr herein kommen, sie habe etwas für mich und die Kinder.«
»So lange lassen Sie die Kleinen bei uns, und in einem andern Jahr tragen Sie alles heimlich nach Hause, dann wird bei Ihnen der Jubel gerade so groß wie im reichsten Haus, und Ihr Mann wird sich dann schon auch daran freuen.«
»Es ist wahr,« sagte die Schmidtmeierin, »er hat am vorigen Sonntag gezankt, weil ich den Kindern die neuen Winterkleider, die sie von der Schulschwester bekommen haben, vor Weihnachten angezogen habe. Aber sie haben so lang gebettelt und nicht geruht, bis ich ihnen den Willen getan habe.«
»Aber Schmidtmeierin, da würde ich doch lieber tun, was der Mann will, als was die Kinder verlangen und erbetteln! Was wäre das jetzt für eine Freude, wenn die Kleidchen noch neu auf dem Tisch lägen! So würde mein Mann auch den Sinn für Weihnachten verlieren. Das müssen Sie mir versprechen, Schmidtmeierin, dass Sie meine Sachen, und die von Frau Hartwig, und was etwa sonst noch kommt, verstecken, und dann eine schöne Bescherung halten. Wo können denn Ihre Kinder bleiben, solange Sie herrichten, ist's zu kalt in der Kammer?«
»Kalt ist's, aber ich stecke sie eben ins Bett so lang!«
»Ja, das tun Sie. Und noch etwas: können die Kinder nicht unter dem Christbaum dem Vater ein Weihnachtslied hersagen, aus der Kinderschule? Das gehört auch zur rechten Feier. Und wenn Sie noch von Ihrem Waschlohn ein paar Pfennige übrig hätten, dann sollten Sie für den Mann noch einen Kalender kaufen, oder was ihn sonst freut, und dann erzählen Sie mir, Schmidtmeierin, ob er wirklich keine Freude gehabt hat am heiligen Abend, und ob es nicht schön bei Ihnen war.«
»Ich mach's wie Sie sagen, Frau Pfäffling, und ich danke für die vielen Sachen, die Sie mir zusammen gerichtet haben.«
»Es ist recht, Schmidtmeierin, aber glauben Sie mir's nur, die Sachen allein, und wenn es noch viel mehr wären, machen kein schönes Fest, das können nur Sie machen für Ihre Familie; fremde Leute können die Weihnachtsfreude nicht ins Haus bringen, das muss die Mutter tun, und die Reichen können die Armen nicht glücklich machen, wenn die nicht selbst wollen.«
Frau Pfäffling hielt die fremden Kinder noch eine gute Weile zurück; als diese endlich heimkamen, waren alle Schätze im Schrank verborgen und der Schlüssel abgezogen.
Da sich aber die Kinder schon darauf gefreut hatten, fingen sie an, darum zu betteln und schließlich laut zu heulen. Damit setzten sie gewöhnlich bei der Mutter ihren Willen durch. Heute aber nicht; »brüllt nur recht laut,« sagte die Schmidtmeierin, »damit man es im Nebenhaus hört. Nichts Gutes gibt's heute, nichts Schönes, erst am Abend, wenn ihr dem Vater eure Lieder aufsagt. Bei Pfäfflings ist's auch so.«
Da ergaben sich die Kinder.
Frau Pfäffling und Walburg hatten noch alle Hände voll zu tun mit Vorbereitungen auf das Fest. Aber die Arbeit geschah in fröhlicher Stimmung. »Man muss sich seine Feiertage verdienen,« sagte Frau Pfäffling und rief die Kinder zu Hilfe, die Buben so gut wie die Mädchen.
»Oben auf dem Boden hängen noch die Strümpfe von der letzten Wäsche,« sagte sie, »die sollten noch abgezogen werden. Das könnt ihr Buben besorgen.« Wilhelm und Otto sprangen die Treppe hinauf. Auf dem freien Bodenraum war ein Seil gespannt, an dem eine ungezählte Menge Pfäffling'scher Strümpfe hing. Walburg war eine große Person und pflegte das Seil hoch zu spannen, die Kinder konnten die hölzernen Klammern nicht erreichen, mit denen die Strümpfe angeklemmt waren. »Einen Stuhl holen und hinaufsteigen,« schlug Otto vor, aber Wilhelm fand das unnötig, »Hochspringen und bei jedem Sprung eine Klammer wegnehmen,« so war es lustiger. Er probierte das Kunststück und brachte es fertig, Otto gelang es nicht auf den ersten Sprung, und ein Trampeln und Stampfen gab es bei allen beiden. Sie bemerkten nicht, dass die Türe von Frau Hartwigs Bodenkammer offen stand und die Hausfrau, die eben ihren Christbaumhalter hervorsuchte, ganz erschrocken über den plötzlichen Lärm herauskam und rief: »Was treibt ihr denn aber da oben, ihr Kinder?«
»Wir nehmen bloß die Strümpfe ab«, sagte Otto. »So tut es doch nicht, wenn man Strümpfe abzieht,« entgegnete Frau Hartwig. »Wir müssen eben darnach springen,« sagte Wilhelm, »sehen Sie, so machen wir das,« und mit einem Hochsprung hatte er wieder eine Klammer glücklich erfasst, der Strumpf fiel herunter.
»Aber Kinder, so fallen sie ja alle auf den Boden!« sagte die Hausfrau.
»Es sind ja nur Strümpfe,« entgegnete Wilhelm, »die sind schon vorher grau und schwarz, denen schadet das nichts.«
Eine kleine Weile stand Frau Hartwig dabei und machte sich ihre Gedanken. Welche Arbeit, für soviel Füße sorgen zu müssen! Fast alle Strümpfe schienen zerrissen! Und welche Körbe voll Flickwäsche mochten sonst noch da unten stehen und auf die Hände der viel beschäftigten Hausfrau warten, die doch kein Geld ausgeben konnte für Flickerinnen! Ob es nicht Christenpflicht wäre, da ein wenig zu helfen?
Es dauerte gar nicht lange, da kamen die Brüder mit dem Bescheid herunter: Die meisten Strümpfe seien noch zu feucht, die Hausfrau meine, sie müssten noch hängen bleiben. Frau Pfäffling achtete im Drang der Arbeit kaum darauf und dachte nicht, dass Frau Hartwig kurz entschlossen den ganzen Schatz Pfäffling'scher Strümpfe heruntergenommen hatte, und ihnen nun mit Trocknen und Bügeln viel mehr Ehre erwies, als diese es sonst erfuhren. Dann stapelte sie den Vorrat auf, legte sich das Nötige zum Ausbessern zurecht und sagte sich: Das gibt auch eine Weihnachtsüberraschung und wird nach Jesus Sinn keine Feiertags-Entheiligung sein.