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Inzwischen war es Mittag geworden. Heute gab es bei Pfäfflings ein kärgliches Essen. Mit Wassersuppe fing es an, und die Mutter redete den Kindern zu: »Haltet euch nur recht an die Suppe, es kommt nicht viel nach!« »Warum denn nicht?« fragte Elschen bedenklich. Die Antwort kam von vielen Seiten zugleich. »Weil Weihnachten ist. Weißt du das noch nicht? Vor dem heiligen Abend gibt es nie etwas ordentliches zu essen. Die Walburg hat auch keine Zeit zu kochen.« »Ja,« sagte Frau Pfäffling, »und selbst wenn sie Zeit hätte, heute Mittag müsste das Essen doch knapp sein, damit man sich recht freut auf die Lebkuchen und auf den Gansbraten, den es morgen gibt.« Walburg brachte noch gewärmte Reste vom gestrigen Tag herein, und als diese alle verteilt waren, sagte Herr Pfäffling: »Wer jetzt noch Hunger hat, kann noch Brot haben und darf dabei an ein großes Stück Braten denken!«
»Und nun,« sagte die Mutter, »hinaus aus dem Wohnzimmer; wenn ihr wieder herein dürft, dann ist Weihnachten!« Da stob die ganze Schar jubelnd davon; wenn man nicht mehr in das Zimmer herein durfte, ja dann wurde es Ernst!
Die Eltern standen beisammen und putzten den Baum, Frieders Baum. Die kleinen Schäden, die er auf seinen vielen Wanderungen erlitten hatte, wurden sorgfältig verdeckt, und bald stand er in seinem vollen Schmuck da, mit goldenen Nüssen und rotbackigen Äpfeln, mit bunten Lichtern und oben auf der Spitze schwebte ein kleiner Posaunenengel. Es gab in andern Häusern feiner geschmückte Tannenbäume mit Winterschnee und Eiszapfen, es gab auch solche, die mit bunten Ketten und Kugeln, mit Papierblumen und Flittergold so überladen waren, dass das Grün des Baumes kaum mehr zur Geltung kam. Pfäfflings Baum hatte von all dem nichts, er war noch ebenso, wie ihn Großvater Pfäffling und Großmutter Wedekind vor dreißig Jahren ihren Kindern geschmückt hatten, und weil ihre seligsten Kindheitserinnerungen damit verbunden waren, mochten sie nichts daran ändern. Mit der Krippe, die unter dem Baum aufgestellt wurde, war es anders. Die feinen Wachsfiguren, die Tiere, die dazu gehörten, standen nicht jedes Jahr gleich. Nach den Bildern, die uns schon die alten deutschen Künstler gezeichnet haben, und in denen unsere Maler uns auch jetzt noch die heilige Nacht darstellen, nach diesen verschiedenen Bildern wurden die Krippenfiguren in jedem Jahr wieder anders aufgestellt, das war Herrn Pfäfflings Anteil an dem Herrichten des Weihnachtszimmers. Wenn aber die Tische gestellt waren, und wenn die mühsame Arbeit des Einräumens von Puppenzimmer, Küche und Kaufladen begann, dann verschwand der Herr des Hauses aus dem Gebiet und übernahm die Aufsicht über die mutterlose Kinderschar, damit sie nicht in Ungeduld und Langeweile auf allerlei Unarten verfiel. Gegen vier Uhr, als es dunkelte, zogen sie zusammen fort nach der Kirche, in der jedes Jahr um diese Zeit ein Gottesdienst gehalten wurde, so kurz und doch so feierlich wie kein anderer im Jahr: Ein Weihnachtslied, das Weihnachtsevangelium und ein paar Worte, nur wie ein warmer Segenswunsch des Geistlichen. Es war genug, um in den Herzen der jungen und alten Zuhörer die rechte Weihnachtsstimmung zu wecken.
Frau Pfäffling hörte ihre Schar heimkommen, sie sah ein wenig heraus aus dem Weihnachtszimmer und schob etwas durch den Türspalt, es war eine Handvoll Backwerk, das etwas Schaden gelitten hatte durch die Verpackung: »Das ist etwas zum versuchen,« rief sie, »das ist zerbrochen aus der Großmutter Paket gekommen, teilt euch darein! und dann zieht frische Schürzen an und sagt auch Walburg, dass sie sich bereit macht, nun wird bald alles fertig sein!« Der Mutter Angesicht leuchtete verheißungsvoll, es rief auf allen Kindergesichtern das gleiche Strahlen hervor.
Herr Pfäffling war bei seiner Frau, er half bei den letzten Vorbereitungen. »Jetzt wären wir so weit,« sagte er, »können wir den Baum anzünden?«
»Wenn du einen kleinen Augenblick warten wolltest,« erwiderte sie, »ich bin so müd und möchte nur ein ganz klein wenig ruhen, um für den großen Jubel Kraft zu sammeln.«
»Freilich, freilich,« sagte Herr Pfäffling, »die Kinder können sich wohl noch eine Viertelstunde gedulden, setze dich hieher, ruhe ein wenig und schließe die Augen.«
»O, das tut gut,« antwortete sie und lehnte sich still zurück. Aber nur drei Minuten, dann stand sie wieder auf. »Nun bin ich schon wieder frisch, und ich kann jetzt doch nicht ruhen, ich spüre die siebenfache Unruhe, die klopfenden Herzen der Kinder da draußen, wir wollen anzünden.« Bald strahlten die Lichter an dem Baum, die großen Kerzen in den silbernen Leuchtern, die die Tische erhellten, und die kleinen Lichtchen in Puppenstube und Küche. Und nun ein Glockenzeichen und die Türe weit auf! Sie drängen alle herein, die Kinder und Walburg hinter ihnen. Dem Christbaum gelten die ersten Ausrufe der Bewunderung; solange er die Blicke fesselt, ist's noch eine weihevolle Stimmung, ein Staunen und seliges Widerstrahlen; dann wenden sich die Augen der Bescherung zu, nun geht die beschauliche Freude über, immer lauter und jubelnder wird das Kinderglück.
War denn so Herrliches auf dem Gabentisch? Viel Kostbares war nicht dabei, aber es war alles überraschend und jedes kleine Geschenk war sinnig auf den Empfänger berechnet und manches erhielt durch einen kleinen Vers, den der Vater dazu gemacht hatte, noch einen besonderen Reiz. Wenn eines der Kinder nach den Eltern aufblickte, so sah es Liebe und Güte, wenn es einem der Geschwister ins Gesicht sah, so glänzte dies in Glück und Freude, und über all dem lag der Duft des Tannenbaums – ja die Fülle des Glückes bringt der Weihnachtsabend!
Frau Pfäffling berührte ihren Mann und sagte leise: »Sieh dort, den Frieder!« An dem Plätzchen des großen Tisches, das ihm angewiesen war, stand schon eine ganze Weile Frieder unbeweglich und sah mit staunenden, zweifelnden Augen auf das, was vor ihm lag: Eine Violine! Und nun nahm er den kleinen Streifen Papier, der daran gebunden war, und las das Verschen:
Fideln darfst du, kleiner Mann,
Vater will dir's zeigen.
Aber merk's und denk daran:
Immerfort zu geigen
Tut nicht gut und darf nicht sein.
Halte fest die Ordnung ein:
Eine Stund' am Tag, auch zwei,
Doch nicht mehr, es bleibt dabei.
»Mutter!« rief jetzt Frieder, »Mutter, hast du's schon gesehen?« Er drängte sich zu ihr und zog sie an seinen Platz und fragte: »Darf ich sie gleich probieren?« Und er nahm die kleine Violine, und da die Geschwister ihm nicht viel Platz ließen, drückte er sich hinter den Christbaum und fing ganz sachte an, leise über die Saiten zu streichen und zarte Töne hervorzulocken. Und er sah und hörte nichts mehr von dem, was um ihn vorging, und mühte und mühte sich, denn er wollte reine Töne, dieser kleine Pfäffling. Die Eltern sahen sich mit glücklichem Lächeln an: »Dies Weihnachten vergisst er nicht in seinem Leben,« sagte Frau Pfäffling. »Ja,« erwiderte ihr Mann, »und auf diesen kleinen Schüler braucht mir wohl nicht bange zu sein!«
»Vater, hast du gesehen?« riefen nun wieder zwei Stimmen. »Was ist's, Marianne?«
»Ein Päckchen feinste Glacéhandschuhe hat uns Fräulein Vernagelding geschickt!«
»Was? Euch Kindern, was tut ihr denn damit?«
»Wir ziehen sie an, Vater, viele Kinder in unserer Schule haben welche.«
»Nun, wenn nur ich sie nicht tragen muss!«
Es gab jetzt ein großes Durcheinander, denn die Brüder probierten ihre neuen Schlittschuhe an, liefen damit hin und her, fielen auch gelegentlich auf den Boden. Im untern Stock erzitterte die Hängelampe. »Man könnte meinen, es sei ein Erdbeben, die da droben sind heute ganz außer Rand und Band!« sagte Herr Hartwig zu seiner Frau. »Weihnachtsabend!« entgegnete sie, und das eine Wort beschwichtigte den Hausherrn. Auch hörte das Getrampel der Kinderfüße plötzlich auf, es wurde ganz stille im Haus, nur eine einzelne Stimme drang bis in den untern Stock: Otto deklamierte. Nacheinander kamen nun all die kleinen Überraschungen für die Eltern an die Reihe, zu denen sich an jenem Adventsonntag Frieder auf den Balken die Eingebung geholt hatte. Alles gelang zur Freude der Eltern, zum Stolz unserer sieben!
In ihrer Küche stand Walburg und sorgte für das Abendessen. Auch für sie war ein Platz unter dem Christbaum, und sie war freundlich bedacht worden. Aber die Freude und innere Bewegung, die sich jetzt auf ihren großen, ernsten Zügen malte, hatte einen andern Grund. Schon seit heute morgen bewegte sie etwas in ihrem Herzen, das sie gern besprochen hätte, aber es hatte sich kein ruhiges Viertelstündchen finden lassen. Wenn jetzt Frau Pfäffling herauskäme, jetzt hätte sie vielleicht einen Augenblick Zeit für sie, aber sie würde wohl schwerlich kommen. Während Walburg sich darnach sehnte, war Frau Pfäffling ganz von ihren Kindern in Anspruch genommen, aber einmal, als ihr Blick zufällig auf Walburgs Geschenke fiel, die noch auf dem Tisch lagen, dachte sie an das Mädchen. Warum war es wohl gar so kurz im Weihnachtszimmer geblieben? Es war noch nicht Zeit, das Abendessen zu bereiten, warum verweilte sie nicht lieber unter den glücklichen Kindern, anstatt einsam in der kalten Küche zu stehen?
Frau Pfäffling ging hinaus, nach Walburg zu sehen. Die Mutter wurde zuerst nicht vermisst, es gab ja so viel anzusehen und zu zeigen, und der Vater war ja da, aber allmählich ging von Mund zu Mund die Frage: »Wo ist denn die Mutter?« Herr Pfäffling schickte Frieder hinaus. Er kam zurück mit dem Bescheid, die Küchentüre sei ganz fest zu und Walburg rede so viel mit der Mutter, wie sonst nie. »Dann lasst sie nur ungestört,« sagte der Vater, »wenn Walburg einmal redet, muss man froh sein.«
Frau Pfäffling brachte aus der kalten Küche einen warmen, sonnigen Ausdruck mit herein. Die Kinder zogen sie an ihren Tisch heran, aber im Vorbeigehen drückte sie unvermerkt ihrem Mann die Hand und sagte leise: »Ich erzähle dir später!« Als Walburg das Abendessen auftrug wechselten sie einen vielsagenden Blick, und Marie sagte: »Unserer Walburg sieht man so gut an, dass heute Weihnachten ist.«
An diesem Abend waren die Kinder gar nicht zu Bett zu bringen, sie wollten sich nicht trennen von der Bescherung. Es wurde spät, bis endlich Herr Pfäffling mit seiner Frau allein war. »Du wirst nun auch der Ruhe bedürftig sein,« sagte er.
»Ja, aber eines muss ich dir noch erzählen, was mir Walburg anvertraut hat. Sie erhielt heute einen Brief von einer alten Frau aus ihrem Heimatdorf, die schreibt in schlichten, einfachen Worten, dass vor einem Jahr ihr Sohn Witwer geworden sei und mit seinen drei Kindern und dem kleinen Bauerngut hilflos dastehe. Er müsse wieder eine Frau haben, und weil er Walburg von klein an kenne, möchte er am liebsten sie haben. Er wisse wohl, dass sie nicht gut höre, aber das mache weiter nicht viel. Wenn sie einverstanden sei, möge sie in den Feiertagen einmal herausfahren, dass man die Verlobung feiern könne und die Hochzeit festsetze. Der Sohn hat dann noch an den Brief seiner Mutter unten hingeschrieben, die Reisekosten wolle er zur Hälfte bezahlen. Walburg kennt den Mann gut, denn sie waren Nachbarsleute, und sie ist ganz entschlossen, ja zu sagen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das freut für Walburg!«
»Das ist freilich ein unerhofftes Glück, aber wird sie denn einem Haushalt vorstehen können bei ihrer Taubheit?«
»Wenn ihr die alte Mutter zur Seite steht, wird sie schon zurecht kommen. Ein schweres Kreuz bleibt es freilich für sie, aber ich finde es rührend, dass der Mann es auf sich nehmen will, um ihrer andern guten Eigenschaften willen. Übrigens sagt Walburg, sie verstehe die Leute da draußen viel besser, weil sie ihren Dialekt reden.«
»Das kann wohl etwas ausmachen, und mich freut es für die treue Person, wenn auch nicht für uns. Aber wir werden auch wieder einen Ersatz finden.«
»Nicht so leicht! Doch daran denke ich heute gar nicht. Am zweiten Feiertag möchte sie hinausfahren auf ihr Dorf. Vorher wollen wir mit den Kindern noch nicht davon sprechen, sondern ihnen erst, wenn Walburg zurückkommt, sagen, dass sie Braut ist.«
Während unten so von ihr gesprochen wurde, war auch Walburg oben in ihrer Kammer noch tätig. Sie hatte zuerst in diesem ihrem eigenen kleinen Revier noch einmal ihren Brief gelesen und nun kniete sie vor der hölzernen Truhe, in der ihre Habseligkeiten säuberlich und sorgsam geordnet lagen. Sie hatte schon seit Jahren die Bauerntracht nimmer getragen, die in ihrem Dorf gebräuchlich war, jetzt wollte sie sie hervorsuchen, sie sollte ja wieder zu den Landleuten da draußen gehören. Der dicke Rock und das schwarze Mieder, das Häubchen und die breite blauseidene Schürze, das alles lag beisammen, und sollte nun wieder zu Ehren kommen!
Am zweiten Weihnachtsfeiertag, früh morgens, noch ehe es tagte, reiste sie in ihrem ländlichen Staat in ihre Heimat.
Erst wenn Walburg fehlte, merkte man, wie viel sie im Haus leistete. Es war gar kein Fertig werden ohne sie. Und nun gar in solchen Ferientagen. Wenn Frau Pfäffling drei ihrer Kinder dazu gebracht hatte, schön aufzuräumen, so hatten inzwischen vier andere wieder Unordnung gemacht und auf dem großen Weihnachtstisch nahm der Kampf gegen die Nussschalen und Apfelbutzen kein Ende. Dazu kam der Kinderlärm. Die Schlittschuhe lagen bereit, aber das Eis wollte sich bei der geringen Kälte nicht bilden, und Frau Pfäffling hatte doch so viel Feiertagsruhe davon erhofft! So lockte nichts die Kinder ins Freie, sie trieben sich alle sieben lachend, spielend oder streitend herum und machten der Mutter warm. Bis sie das Mittagessen bereitet und auf den Tisch gebracht hatte, war sie fast zu müde, um selbst davon zu nehmen. Da sah Herr Pfäffling nach den Wolken am Himmel, erklärte, das Wetter helle sich auf und er wolle einen weiten Marsch mit den großen Kindern machen. Als eben beraten wurde, ob Marianne auch mittun könne, kam eine Schulfreundin und lud die beiden Mädchen zu sich ein. Das war ein seltenes Ereignis und wurde mit Freude aufgenommen. So blieben nur die beiden Kleinen übrig, die begleiteten ein wenig traurig die Großen hinunter, kamen dann aber um so vergnügter wieder herausgesprungen. Die Hausfrau hatte sie eingeladen, ihren Christbaum anzusehen und bei ihr zu spielen.
So geschah es, dass Frau Pfäffling an diesem Nachmittag ganz allein war; ihr Mann, die Kinder, ja sogar Walburg fort, so dass nicht einmal aus der Küche ein Ton hereindrang. Wie wohl tat ihr die unerhoffte Ruhe! Wie viel ließ sich auch an solch einem stillen Nachmittag tun, an das man sonst nicht kam! Es war schon ein Genuss, sich sagen zu dürfen: was willst du tun? Meistens drängten sich die Geschäfte von selbst auf und hätten schon fertig sein sollen, ehe man daran ging. Eine Weile ruhte sie in träumerischem Sinnen und über dem wurde ihr klar, was sie tun wollte: »Mutter,« sagte sie leise vor sich hin, »Mutter, ich komme zu dir!«
Frau Pfäfflings Mutter lebte im fernen Ostpreußen, und seit vielen Jahren hatten sich Mutter und Tochter nimmer gesehen. Die bald 80 jährige Frau konnte nicht mehr, und die junge Frau konnte noch nicht die Reise wagen, die Kinder brauchten sie noch gar zu notwendig daheim. Aber es war doch köstlich, das treue Mutterherz noch zu besitzen, wenn auch in weiter Ferne. Seit langer Zeit hatte sie den Ihrigen nur kurze, eilig geschriebene Briefe mit den nötigsten Mitteilungen schicken können, jetzt wollte sie sich aussprechen, wie wenn sie endlich, endlich einmal wieder bei der geliebten Mutter wäre. Und es gab einen langen, langen Brief, in dem die ganze Liebe zur Mutter sich aussprach, ja, in dem es fast wie Heimweh klang, aber das konnte doch nicht sein, war Frau Pfäffling doch schon 18 Jahre aus dem Elternhaus. Es stand in dem Brief viel von Glück und Dankbarkeit, viel von des Tages Last und Hitze und davon, dass ihr Mann und sie noch immer treulich an dem Trauungsspruch festhielten: Ein jeder trage des andern Last.
Ihr Brief war fertig geworden beim letzten Schimmer des kurzen Dezembertags. Jetzt, als es dunkelte, ging sie zum Christbaum und zündete ein einziges Lichtchen an. Das warf einen schwachen Schein und große breite Schatten von Tannenzweigen zeichneten sich an der Decke des Zimmers ab. Es war eine feierliche Stille am Weihnachtsbaum und Frau Pfäffling sagte leise vor sich hin: Nahet euch zu Gott, so nahet er sich zu euch.
Eine Viertelstunde später mahnte die Glocke, dass wieder Leben und Bewegung Einlass begehre. »Nun werden die Kinder kommen,« sagte sich Frau Pfäffling. Sie fühlte sich wieder allen Anforderungen gewachsen, fröhlich ging sie hinaus und sprach zu sich selbst: »Dein Mann soll dich nicht so matt wiederfinden, wie er dich verlassen hat.« Sie ging, ihm und den Kindern zu öffnen, sie waren es aber nicht, die geklingelt hatten, Walburg stand vor der Türe.
»Du kommst schon?« rief Frau Pfäffling erstaunt, »wir haben dich erst mit dem letzten Zug erwartet.«
»So kann ich das Abendessen machen,« entgegnete das Mädchen. »Kartoffeln zusetzen?«
»Ja, aber das ist mir jetzt nicht das wichtigste, sage mir doch erst, wie alles gegangen ist,« und da Walburg zögerte, fügte sie hinzu, »ich bin ganz allein zu Hause.« Und nun antwortete Walburg: »Er hat sich's nicht so arg gedacht, er meint, für die Kinder wäre doch eine besser, die hört.« Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging die Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie wollte den bräutlichen Putz ablegen. Sorgsam faltete sie die blauseidene Schürze, versenkte sie in die Truhe und legte den Brief dazu, der sie zwei Tage glücklich gemacht hatte. Dann schlüpfte sie in ihre alltäglichen Kleider, setzte sich auf die alte Truhe und sah mit traurigen, aber tränenlosen Augen auf die kahlen Wände ihrer Kammer. Es war so kalt und totenstill da oben, es war so öde und leer in ihrem Herzen.
Da ging die Türe auf, Frau Pfäffling kam herein und stand unvermutet neben dem Mädchen, das ihren Schritt nicht gehört hatte. »Walburg, du tust mir so leid,« sagte sie und ihre Augen waren nicht tränenleer. Walburg aber beherrschte ihre Bewegung und erwiderte in ihrer ruhigen Art: »Draußen habe ich selbst erst gemerkt, wie schlimm das mit mir geworden ist, ich habe kein Wort verstanden, sie haben mir's auf die Tafel schreiben müssen und die Kinder haben gelacht. So wird er wohl recht haben. Er war freundlich mit mir bis zuletzt, das Reisegeld hat er mir zu zwei Drittel gezahlt und die Alte hat mir noch Kuchenbrot mitgegeben. Sonst wäre alles recht gewesen, nur gerade eben die Taubheit. Und sie sagen auch, ich könnte gar nicht mehr so reden wie sich's gehört. Ich weiß nicht wie das zugeht, Sie verstehe ich doch auch ohne Tafel und rede ich denn nicht wie früher auch?«
»Für uns redest du ganz recht,« entgegnete Frau Pfäffling, »wir verstehen uns und darum ist's am besten, wir bleiben zusammen. Uns ist's lieb, dass du uns nicht verlässt, Walburg, du hast uns so gefehlt.« Da wich der starre, traurige Zug aus Walburgs Gesicht, und sie sah voll Liebe und Dankbarkeit auf zu der Frau, die sich so bemühte, ihr, der Tauben, Trostreiches zu Gehör zu bringen. Worte des Dankes fand sie freilich nicht, aber mit Taten wollte sie danken; eilfertig griff sie nach ihrer Hausschürze, band sie um und sagte: »Wenn der Herr heimkommt und das Essen nicht gerichtet ist!«
Frau Pfäffling sagte an diesem Abend zu ihren Kindern: »Walburg ist so traurig aus ihrer Heimat zurückgekehrt, sie hat weder Eltern noch Geschwister mehr draußen, wir wollen uns Mühe geben, dass sie sich bei uns recht heimisch fühlt.«
»Ich gehe mit meiner Violine zu ihr,« sagte Frieder, »den Geigenton hört sie.«
Da warnte Herr Pfäffling mit dem Finger und sagte: »Nach dem Abendessen noch geigen? Wie heißt dein Vers?
»'Eine Stund am Tag, auch zwei,
Doch nicht mehr, es bleibt dabei.'«
Aber Frieder konnte nachweisen, dass er heute noch nicht zwei Stunden gespielt hatte, ging hinaus in die Küche und machte mit denselben Violinübungen, die sonst die Zuhörer in Verzweiflung bringen, dem traurigen Mädchen das Herz leichter, denn es erkannte die Anhänglichkeit des Kindes, und in die tiefe Vereinsamung, die ihr die Taubheit auferlegte, drang der Ton der Saiten zu ihr als eine Verbindung mit den Mitmenschen.
9. Kapitel Bei grimmiger Kälte.
Das Neujahrsfest brachte grimmige Kälte, brachte Eis, mehr als zum Schlittschuhlaufen nötig gewesen wäre. Schon beim Erwachen empfand man die menschenfeindliche Luftströmung und es gehörte Heldenmut dazu, aus den warmen Betten zu schlüpfen. In Pfäfflings kalten Schlafzimmern war das Waschwasser eingefroren, und man musste erst die Eisdecke einschlagen, ehe man es benützen konnte.
Als die Familie sich mit Neujahrswünschen am Frühstückstisch zusammenfand, galt Herrn Pfäfflings erster Blick dem Thermometer vor dem Fenster, und er musste das Quecksilber in ungewohnter Tiefe suchen. »Zwanzig Grad Kälte,« verkündete er, »Kinder, das habt ihr noch nie erlebt; und Walburgs Neujahrsgruß lautete: ›Die Wasserleitung ist über Nacht eingefroren.‹«
Die Straßen waren ungewöhnlich still, wer nicht hinaus musste, blieb daheim am warmen Ofen und wer, wie die Briefträger, am Neujahrstag ganz besonders viel durch die kalten Straßen laufen und vor den Häusern stehend warten musste, bis die Türen geöffnet wurden, der hörte manches teilnehmende Wort. Frau Hartwig brachte ihnen bei jedem Gang eine Tasse warmen Kaffees entgegen. Auch die Familie Pfäffling hatte ihr Päckchen Glückwunschkarten und -briefe erhalten und unter diesen Briefen war einer, der noch mehr als Glückwünsche enthielt. Es war die Antwort auf Frau Pfäfflings Weihnachtsbrief und er brachte ihr eine warme, dringende Einladung, sich zum achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, der im Februar gefeiert werden sollte, einzufinden, damit nach langen Jahren der Trennung auch einmal wieder die drei Geschwister mit der Mutter in der alten Heimat vereinigt wären. So viel Liebe und Anhänglichkeit sprach sich aus in den Briefen von Frau Pfäfflings Bruder und Schwester, denen ein eigenhändiger, mit zitternder Hand geschriebener Gruß der alten Mutter beigesetzt war, dass Frau Pfäffling tief bewegt war und zu ihrem Mann wehmütig sagte: »Ach, wenn es nur möglich wäre, aber es ist ja gar nicht daran zu denken! So weit fort und auf ein paar Wochen, denn für einige Tage würde sich die große Reise gar nicht lohnen.«
Es kam ganz selten vor, dass Frau Pfäffling für sich einen Wunsch äußerte, und so war es nur natürlich, dass es der ganzen Familie Eindruck machte, wenn es doch einmal geschah.
»Geht es denn wirklich nicht, Vater?« fragte Karl.
»So ganz unmöglich kommt mir die Sache nicht vor,« antwortete Herr Pfäffling, indem er sich an seine Frau wandte, »jetzt, wo die Kinder groß sind und Walburg so zuverlässig ist.«
Frau Pfäffling wollte etwas entgegnen, aber der ganze Kinderchor stimmte dem Vater zu, wollte gar keine Schwierigkeit gelten lassen und versicherte, es sollte in Abwesenheit der Mutter alles so ordentlich zugehen, wie wenn sie da wäre. Aber sie schüttelte dazu ungläubig den Kopf und brach die Beratung ab, indem sie sagte: »Bei solch einer Kälte mag man gar nicht an eine Reise denken, wir wollen sehen, was der Januar bringt!«
Zunächst brachte er den Abschluss der Ferienzeit, die Schulen begannen wieder. So warm wie möglich eingepackt machten sich die Kinder auf den Weg. Freilich, die drei großen Brüder besaßen zusammen nur zwei Wintermäntel, bisher waren sie auch immer gut damit ausgekommen, heute hätte jeder gerne einen gehabt. Otto hatte sich einen gesichert, indem er ihn schon vor dem Frühstück angezogen hatte. Nun standen Karl und Wilhelm vor dem einen, der noch übrig war. »Dich wird's nicht so arg frieren wie mich,« sagte Wilhelm zum größeren Bruder und Karl, obwohl er nicht recht wusste, warum es ihn nicht so frieren sollte, war schon im Begriff, auf den Mantel zu verzichten, als Otto sich einmischte: »Lass doch Karl den Mantel. In den obern Klassen hat doch jeder einen, es sieht so dumm aus, wenn er allein keinen hat!«
»Dumm?« sagte Herr Pfäffling, »es sieht eben aus, als seien keine großen Kapitalien da, mit denen man ungezählte Mäntel beschaffen könnte. So ist's und deshalb darf es auch so aussehen. Übrigens, länger als fünfzehn Minuten braucht ihr nicht zum Schulweg, ist das auch der Rede wert, wenn man eine Viertelstunde frieren muss? Seid ihr so zimperlich?«
»Ich nicht,« rief Wilhelm, »ich brauche auch nur zwölf Minuten,« er ließ den Mantel fahren und rannte davon.
Elschen war diesmal nicht so unglücklich wie früher über den Schulanfang, sie nahm die Schultasche her, die sie zu Weihnachten bekommen hatte, packte die Tafel aus, fing an zu schreiben, was sie von Buchstaben kannte, und tröstete sich mit der Aussicht, dass nach den Osterferien auch sie mit den Großen den Schulweg einschlagen würde.