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Der »schlechten Mietpartie« klangen diese Worte wie Musik, und nach fünf Minuten schon war Pfäffling mit dem freundlichen Hausherrn unterwegs in die Frühlingsstraße und ließ sich von der Hausfrau mit der christlichen Liebhaberei, Gutes zu tun, die sonnige Wohnung zeigen und ohne Schriftstück, mit freundlichem Handschlag, wurde der Mietvertrag zu billigem Preis abgeschlossen. Fröhlichen Herzens ging unser Musiklehrer von der Frühlingsstraße in die Hintere Katzengasse, freute sich, als er schon von ferne den Seifengeruch in die Nase bekam, und teilte dem Seifensieder mit, dass er sich zu einer anderen Wohnung entschlossen habe. Dann vorbei an der Buchhandlung, wo er zum zweitenmal die Karte vom Fichtelgebirge verlangte, und nun heim zur begeisterten Schilderung der künftigen Wohnung in der Frühlingsstraße.
Die ganze Familie teilte seine Freude; nur der Frieder hörte zufällig nichts davon, weil er eben mit seiner Harmonika im Hof war, und niemand dachte daran, dass er die Neuigkeit nicht erfahren hatte. Er wunderte sich im stillen, als beim Mittagstisch alle so vergnügt vom nahen Umzug sprachen und sogar sagten, sie bekämen es viel schöner als jetzt; denn er dachte, es handle sich noch um die Hintere Katzengasse. »Mir gefällt's besser da,« sagte er, »weil wir doch einen Hof haben.« »Der elende Hof voll Wäschepfosten,« sagte einer der Brüder, »da will ich doch lieber einen Holzplatz.«
»Schau, schau, dem Frieder allein ist die neue Wohnung nicht gut genug, der will eben in die Kaiserstraße,« sagte der Vater neckend zu ihm, und auch die andern lachten. Es wusste niemand, dass man ihm eigentlich die neue Wohnung verdankte, auch er selbst nicht, und so schwieg Frieder. Er fand es zwar wunderlich, dass man heute so zufrieden sein sollte mit dem Tausch, aber ihm kam ja oft etwas sonderbar vor, was die Großen sagten, und er fragte nie viel, sie hatten immer keine Lust, ihn aufzuklären.
So kam es, dass Frieder bei der Meinung blieb, man habe in der Hintern Katzengasse eingemietet.
»Wenn der Umzug doch sein muss, dann so bald wie möglich,« sagte Pfäffling, »noch vor meiner Reise,« und mit großem Eifer wurden alle Vorbereitungen getroffen. Manche Bekannte boten ihre Hilfe an, und viele luden die Kinder für den Umzugstag zu Tisch, so dass es eine ganz schwierige Beratung gab, was man annehmen konnte und ablehnen musste. Die Eltern hatten viel zu tun; sie überließen es den Kindern, wo und wie jedes zu seinem Mittagstisch gelangen würde. So fanden die großen Jungen glücklich heraus, dass Brauns auf zwölf Uhr und Schwarzens auf ein Uhr geladen hatten, das konnten sie beides vereinigen, und sie freuten sich königlich auf das doppelte Mittagessen.
Der Tag des Umzugs kam. Gegen Mittag fuhr der vollbeladene Wagen ab, die Eltern folgten ihm in die neue Wohnung, während die Kinder gleich von ihren Schulen aus zu den Familien, die sie geladen hatten, gegangen waren und sich's da schmecken ließen. Nur unser Frieder hatte nicht recht erfaßt, wie das alles eingerichtet war und wo er zu Mittag essen sollte. Er wollte die Mutter noch einmal fragen und ging wie gewöhnlich von der Schule aus heim, in die alte Wohnung. Alle Türen standen weit offen. Betroffen blieb Frieder unter der Türe der verlassenen Wohnung stehen. Wo war denn alles? Er ging von einem Zimmer ins andere, Papier und Stroh lagen auf dem Fußboden zerstreut. Da, im Winkel, mitten unter dem Staub, sah er eine von Elschens Kugeln, die schöne, rote, die hob er auf und schob sie in seine Tasche. Dann ging er durch all die leeren Räume, seine Schritte hallten, aber sonst war alles still. Ihm wurde ganz unheimlich zumute, Tränen kamen ihm in die Augen, als er sich so verlassen fühlte. Ja, sie waren alle ausgezogen und hatten ihn vergessen. Jetzt kamen Schritte die Treppe herauf, der Hausherr war's und eine Scheuerfrau mit Besen und Wassereimer.
»Bist du noch da, Frieder?« fragte er. »Deine Leute sind schon in der neuen Wohnung, mache nur, dass du auch hinkommst, sonst wirst du hinausgekehrt.« Da ging Frieder die Treppe hinunter: er wusste jetzt, was er zu tun hatte, er musste in die neue Wohnung gehen. Also in die Hintere Katzengasse Nr. 13. Wo diese lag, wusste er ungefähr; hinter dem Markt hatte er sagen hören, und auf dem Markt war er schon oft gewesen. Er machte sich auf den Weg. Der war weit und heiß: der kleine Fußgänger mit dem Schulranzen kam langsam vorwärts und dachte dabei, dass er zum Mittagessen bei Bekannten eingeladen sei, wenn er nur gewusst hätte, wo? Endlich gelangte er doch auf den Markt und sah sich um. Rechts, links, überall gingen Straßen und Gassen ab, welche aber war die richtige? Zweifelnd kam er bis mitten auf den Platz, da trieben sich ein paar Kinder herum. An die wandte er sich. Ein Mädchen wies ihm den Weg. »Dort,« sagte sie, »wo der Seifenladen ist, da ist Nr. 13.«
Der Seifensieder stand unter der Ladentüre, und als er sah, dass der kleine ABC-Schütz mit dem Ränzchen auf dem Rücken unschlüssig vor dem Hause stehen blieb, fragte er: »Wen suchst du denn, Kleiner?«
»Ich möchte in unsere neue Wohnung,« sagte Frieder. »Wie heißt du denn?« »Frieder Pfäffling.« »Pfäffling? Pfäffling? Gehörst du dem Musiklehrer? Ja? Der hat ja hereinziehen wollen, hat sich aber dann anders besonnen. Bist du sein Bub und weißt das nicht?«
»Ich weiß gar nichts,« sagte Frieder und sah recht jämmerlich darein.
»Geh nur wieder in deine alte Wohnung,« sagte der Mann, »und frage dort, wo du hin sollst, dort sagt man dir's schon. So etwas ist mir aber noch nicht vorgekommen, dass man auszieht und sagt den Kindern nicht einmal wohin!«
Dem Frieder kamen trübe Gedanken, während er die Hintere Katzengasse wieder hinaufging nach dem Markt. Seine Eltern waren also in eine andere Wohnung gezogen und ihm hatte man nichts davon gesagt, weil man ihn nicht brauchen konnte. Der neue Hausherr hatte gewiß nur sechs Kinder nehmen wollen: er war der siebente, er war zuviel. Das kam ihm alles ganz natürlich vor, aber traurig war es. Und jetzt war er so hungrig. Für heute war er wenigstens noch zum Mittagessen eingeladen. Vielleicht bei Brauns? Dort wollte er es einmal versuchen. Den Weg dahin konnte er freilich nur von zu Hause oder von der Schule aus finden. So ging er bis zu seinem Schulhaus. Dort traf er einen seiner Schulkameraden, der schon wieder in die Nachmittagsschule ging und höchlich erstaunt war, dass Frieder erst zum Essen gehen wollte. Auch ein anderer Kamerad, der kleine Meinert, kam schon des Weges. »Du, Meinert,« rief ihm der erste Kamerad zu, »der Pfäffling will erst zum Essen gehen.«
»O, der kommt viel zu spät!«
»Gelt, ich sag's auch, der kommt zu spät.«
So eingeschüchtert wagte sich »der Pfäffling« auch nicht mehr weg, sondern ging hinauf in das Schulzimmer, setzte sich todmüde auf seinen Platz in der Bank, ließ das heiße Köpflein hängen und schlief ein. Aus diesem Mittagsschlaf erwachte er erst, als gegen zwei Uhr die andern Kinder alle heraufstürmten und der Lehrer kam. Sehr gut bestand Frieder heute nicht in der Schule, und die zwei Stunden schienen ihm eine Ewigkeit.
Als sie endlich überstanden waren und er die Treppe herunterkam, ohne zu wissen, wohin er sich dann wenden solle, da rief plötzlich eine Stimme: »Frieder!« Er sah auf und da stand sein Vater vor ihm und sagte freundlich: »So Frieder, ich habe auf dich gewartet, ich will dich abholen in die neue Wohnung, die Mutter hat Angst gehabt, dass du sie nicht findest.«
Ei, wie da der kleine Frieder verklärt zu seinem Vater aufsah, wie er sich dicht an ihn drängte und mit ihm ging! Und wie ihm dann auf einmal die Tränen aus den Augen schossen und all der Jammer im Durcheinander herauskam: Kein Mittagessen – die alte leere Wohnung – die Hintere Katzengasse und die Angst, dass man nur noch sechs Kinder haben wolle! Vater Pfäffling drückte fest die kleine Hand, die in der seinigen ruhte, und sagte: »Frieder, wo wir sind, da gehörst du auch hin, und in der Frühlingsstraße Nr. 20 wird auch für unser liebes Dummerle der Tisch gedeckt.«
In der neuen Wohnung war noch ein buntes Durcheinander und Frieder hätte wohl nicht so schnell etwas zu essen gefunden, wenn nicht die neue Hausfrau mit der Liebhaberei Gutes zu tun dagewesen wäre. Sie brachte eine riesige Kanne mit Kaffee und Milch zum Einstand, um die sich bald die ganze Familie scharte; viele Freunde und dankbare Musikschüler schickten Vorräte für die Speisekammer, so dass alles in Hülle und Fülle da war, wie sonst nie im Jahr, und alle Pfäfflinge, jung und alt, voll Vergnügen waren. Frieder wurde freilich von den Geschwistern viel geneckt und musste sich oft Dummerle nennen lassen, aber er ließ sich's gar nicht anfechten, er war jetzt glücklich! Und als das Elschen am Abend zu ihm kam mit vier Kugeln in den Händen und klagte: »Die rote Kugel ist nicht mit eingezogen,« da freute er sich darüber, dass er noch einmal in die verlassene Wohnung gekommen war und dort die Kugel gefunden hatte, ging mit der kleinen Schwester auf den Holzplatz, wo die großen Geschwister auf den Balken schaukelten und kletterten, und spielte mit ihren Kugeln, wie sie es in der alten Wohnung getan hatten.
Bald war die neue Wohnung eingerichtet und Herr Pfäffling rüstete sich zur Reise. Seine Tasche war gepackt, alles lag bereit, am nächsten Morgen wollte er abreisen. Das Wetter war herrlich und lockte hinaus, er sang und pfiff den ganzen Tag vor Freude und unterbrach sich nur manchmal, um zu seiner Frau zu sagen: »Nächstes Jahr bist du an der Reihe,« oder zu den Kindern: »Wenn ihr groß seid, dürft ihr auch reisen.« Sie freuten sich alle mit ihm.
Aber – in der Nacht wurde Elschen krank. Sie konnte nicht sagen, was ihr fehlte, aber sie weinte und wimmerte und wälzte sich in ihrem Bett herum. Am frühen Morgen wurde der Arzt geholt. Er untersuchte, fragte und wurde nicht klug daraus, was dem Kind fehle. Als Frau Pfäffling sagte: »Mein Mann kann doch unbesorgt abreisen?« da zuckte er die Achseln und meinte: »Ich würde doch noch einen Tag zusehen.« Den ganzen Tag konnte die Kleine nichts essen und lag stöhnend im Bettchen, und am nächsten Tag fand der Arzt sie kränker als am vorhergehenden. Traurig schlichen die Kinder umher, jedes teilte die Angst der Eltern um die Kleine, alle Musik verstummte. In diesen Tagen waren Pfäfflings eine gute Mietpartei für die Hausleute.
Elschen aber konnte doch nicht schlafen, so sehr man ihr Ruhe verschaffte. Der kleine Frieder stand an ihrem Bett; sie lächelte ihn manchmal an und sprach ein paar Worte mit ihm, aber von den andern Geschwistern wollte sie nichts wissen. So ließ ihn die Mutter manchmal allein am Bett, wenn sie selbst nach der Haushaltung sehen musste, die zwei hatten sich ja so lieb. Vater Pfäffling ging unruhig im Haus herum, an seine Reise dachte er schon fast nicht mehr, so groß war die Sorge um das Kind.
Eben war der Arzt wieder dagewesen. »Wenn ich nur erst herausfände, was dem Kinde fehlte,« sagte er, »aber so kann ich ihm gar nicht helfen.« Die Eltern begleiteten ihn hinaus und Frieder stand am Bett. Die kleine Schwester sah ihn an und streckte ihm die Händchen hin. »Elschen,« sagte er schmeichelnd, »willst du unsere schönen Glaskugeln?« und er schüttelte ein wenig das Büchschen, in dem ihr gemeinsames Lieblingsspiel verwahrt war.
»Nein, nein, nein!« rief die Kleine mit ungewohnter Heftigkeit und streckte ihre Hände wie abwehrend gegen das Büchschen, und als Frieder es schnell beiseite legte, flüsterte sie ihm ganz leise zu: »Die rote Kugel schmeckt so hart.« Dann legte sie sich auf die Seite und schloss die Augen. Frieder blieb ganz still bei ihr stehen. Zuerst kam es ihm komisch vor, dass Elschen so etwas Dummes sagen konnte. Wer weiß denn, wie Kugeln schmecken! Frieder war kein großer Denker, aber nach einer Stunde war er doch mit seinen Gedanken so weit gekommen, dass er sich sagte: »Die rote Kugel ist nicht im Büchschen, vielleicht hat das Elschen sie gegessen.« Und nun fing er an, im Zimmer nach der Kugel zu suchen, ob sie nicht doch irgendwo lag. So trafen ihn die Eltern, gerade als er mit einem Stecken unter der Kommode herumfuhr und damit einigen Lärm machte.
»Ruhig, ruhig,« wehrte die Mutter, und der Vater, der immer neben der Sorge auch ein wenig Ärger empfand wegen seiner misslungenen Reise, fuhr ihn ungeduldig an: »Geh doch hinaus zu den andern, was treibst du denn da?« »Ich muss die rote Kugel suchen, denn – –.« »Geh hinaus mit deinen Kugeln! Wenn du nicht still bei Elschen bleiben kannst, dann darfst du auch nicht mehr zu ihr,« und unsanft wurde der Kleine zur Türe hinausgeschoben.
Da ging er hinunter auf den Holzplatz, setzte sich auf einen Balken und dachte an sein Schwesterchen. Nach und nach wurde ihm alles klar: die rote Kugel war am Sonntag noch in der Büchse gewesen, dann war das Elschen krank geworden und seitdem war die Kugel weg. Und wenn das Elschen sie nicht gegessen hätte, dann wüsste es doch nicht, dass sie hart schmeckt. Und das hatte sie ihm deshalb ganz leise gesagt, damit es die Eltern nicht hörten, denn so eine schöne Glaskugel essen ist schade, da wird man gezankt. Der Bruder wollte auch seine Schwester nicht verraten, damit sie nicht gezankt würde, er sagte zu niemand ein Wort.
Am nächsten Morgen hatte er sich doch wieder an Elschens Bett gemacht. Die Eltern beachteten ihn nicht und sprachen miteinander. Sie erwarteten den Arzt. »Wenn er nun gar nicht herausbringt, was dem Kinde fehlt,« sagte Vater Pfäffling, »dann müssen wir doch einen andern Arzt dazu holen.« »O ja, bitte,« sagte die Mutter, »lass ihn holen, ehe es zu spät ist, heute nacht habe ich schon gemeint, sie stirbt mir« – und die Mutter weinte. Dass seine Schwester sterben könnte, daran hatte Frieder noch gar nicht gedacht, und mit einem Male wurde es ihm ganz klar, dass er nicht verschweigen dürfe, was er wusste, lieber Elschen verraten, als sie sterben lassen. Da klingelte schon der Arzt. »Mutter,« fing Frieder an, »du weißt doch, dass wir so eine rote Kugel haben –.« Aber die Mutter fiel ihm ins Wort: »Aber Frieder, meinst du denn, wenn das Schwesterchen so krank ist, will man etwas von deinen Kugeln wissen?«
Der Arzt kam und untersuchte die kleine Kranke. Unterdessen näherte sich Frieder dem Vater. »Vater,« begann er leise, »Vater, wir haben doch eine rote Kugel gehabt und – –.« »O du mit deinen verwünschten Kugeln!« rief Herr Pfäffling so laut und ärgerlich, dass das kranke Kind erschreckt und der Arzt erstaunt herüberblickte und sagte: »Es wird immerhin besser sein, wenn die Kinder nicht im Krankenzimmer sind,« und Vater Pfäffling machte die Türe auf und wies mit strenger Miene dem Frieder den Weg. Der aber, der sonst nie wagte, ungehorsam zu sein, schlüpfte an der Türe vorbei zum Arzt, der über das Bett der Kleinen gebeugt stand und sie behorchte. Er schlang beide Arme um den Hals des Arztes und flüsterte ihm ganz leise zu: »Die rote Kugel hat das Elschen gegessen, ja, und darum ist sie krank.«
Die Eltern hatten nicht verstanden, was Frieder leise gesagt hatte, und so sahen sie mit Staunen, dass der Doktor sich von der kleinen Kranken weg eifrig dem Frieder zuwandte und nun, wahrhaftig – sie hörten es ganz deutlich – fing auch der Doktor an, von den Kugeln zu sprechen, die Herr Pfäffling eben verwünscht hatte. Der Arzt nahm den Frieder, der ein wenig ängstlich nach dem Vater hinübersah, auf die Knie und redete sehr freundlich mit ihm, während die Eltern auf seine Worte lauschten. »Wie war das mit der Kugel, Frieder? Sage mir's nur noch einmal genau; weißt du, das muss ich alles erfahren, wenn ich deine Schwester gesund machen soll. Hast du es denn gesehen, dass sie die Kugel geschluckt hat? Nein? Aber erzählt hat sie dir's? Was hat sie denn erzählt?«
»Nur, dass die rote Kugel hart schmeckt. Und das weiß man doch nicht, wie die rote Kugel schmeckt, wenn man sie nicht gegessen hat. Und die Kugel ist auch nicht mehr da, sieh nur her.« Und Frieder öffnete das Büchschen. »Fünf müssen es sein, und es sind doch nur vier.« Elschen fing ängstlich an zu weinen. »Jetzt weint sie,« sagte Frieder und schien selbst den Tränen nahe, »ich habe sie doch auch nicht verraten wollen.«
»So etwas muss man verraten,« sagte der Arzt, und nun wandte er sich an die Eltern, die in große Aufregung versetzt waren durch Frieders Mitteilung. »Wenn es so ist, wie der Kleine sagt, dann kann dem Kind geholfen werden. Ich bin überzeugt, dass die Sache sich so verhält, denn nur durch so etwas lässt sich diese Krankheit erklären. Am besten ist es, ich bringe gleich heute nachmittag einen geschickten Chirurgen mit, vielleicht ist eine Operation vorzunehmen.« Frau Pfäffling erschrak darüber. »Unser Frieder ist so ein Dummerle,« sagte sie, »auf seine Reden hin kann man doch keine Operation vornehmen!«
»Der scheint mir gar kein Dummerle zu sein,« sagte im Fortgehen der Arzt, »wer weiß, ob Sie ihm nicht das Leben Ihres Kindes verdanken.« Die Mutter aber traute der Sache noch nicht und sie fing an, nach der Kugel zu suchen, und rief alle Kinder zu Hilfe. In der ganzen Wohnung wurde aus allen Ecken vor gekehrt, der Vater setzte einen Finderlohn aus und in jedem Zimmer traf man eines der Kinder der Länge
nach auf dem Boden liegend und unter die Möbel schlupfend, um zu suchen. Nur Frieder suchte nicht mit, er sah dem Treiben verwundert zu und sagte nur: »Ich habe schon lange gesucht, da ist unsere rote Kugel nie.« Am Nachmittag wurde die Kleine so krank und schwach, dass es aussah, als ob sie den Abend nicht mehr erleben könnte, und so eilte Herr Pfäffling fort und holte die beiden Ärzte zu Hilfe. Sie kamen, brachten eine Krankenschwester mit, gingen ins Krankenzimmer und schlossen die Türe ab – niemand, nicht einmal die Eltern durften mit ihnen hinein. Das war nun ein bange Stunde. Die ganze Familie war im Wohnzimmer beisammen, lauschte auf die Geräusche, die hie und da aus dem Krankenzimmer über den Vorplatz herübertönten, und wartete. Der Mutter Auge ruhte auf Frieder. Sollte wirklich gerade dieses Kind, das kleine, unbeachtete Dummerle, den wahren Grund der Krankheit gefunden haben? Er saß ganz ruhig mit seinem Büchschen in der Hand da, während Herr Pfäffling aufgeregt im Zimmer hin und her lief und das lange Warten kaum ertragen konnte.
Endlich, endlich hörte man, dass die Türe des Schlafzimmers aufgeschlossen wurde, Herr Pfäffling eilte hinaus in den Vorplatz, die Mutter ihm nach. Da kamen schon die beiden Ärzte auf sie zu und der Hausarzt rief ihnen entgegen: »Nun, da hätten wir ja die verlorene Kugel wieder,« und er hielt hoch in der Hand, dass es alle sehen konnten, die rote Kugel! Der Mutter stürzten die Tränen aus den Augen. »Darf ich hinein?« fragte sie und war schon durch die Türe und bei dem kleinen Liebling, ehe sie Antwort bekommen hatte. Das Kind lag bleich in seinem Bettchen und erkannte die Mutter nicht, aber die Krankenschwester sagte zu der besorgten Mutter: »Seien Sie nur ganz getrost, es ist so gut gegangen, die Ärzte sind ganz zufrieden.«
Leise, leise schlichen sich allmählich die Kinder herein, während draußen die Ärzte mit dem Vater sprachen. Die großen Brüder, die Zwillingsschwestern, jedes wollte das Elschen sehen. Da konnte der kleine Frieder nicht beikommen und das Schwesterchen nicht sehen. Er wollte hinausschlüpfen, aber die Herren standen unter der Türe. Der Arzt bemerkte ihn. »Das ist der Kleine,« sagte er zu dem Chirurgen, »ein kluges, aufmerksames Kind, dem verdankt die kleine Schwester gewissermaßen das Leben.« »Ja,« sagte Herr Pfäffling, »das kommt daher, dass er sein Schwesterchen so lieb hat, er ist sonst nicht der Klügste, da muss die Liebe den schlummernden Verstand geweckt haben.« Die Geschwister alle hörten das, sie wandten sich Frieder zu und sahen ihn staunend an. Dieser selbst beachtete das nicht, er hatte ein anderes Anliegen, und da er sah, dass die Arzte ihn freundlich anblickten, wagte er es vorzubringen. Er streckte das Büchslein hin, in dem die vier Kugeln waren, und sagte: »Da herein gehört die rote Kugel!«
Das Elschen erholte sich so schnell, dass es schon nach einigen Tagen wieder ganz lustig und munter war, und Herr Pfäffling rüstete sich abermals zur Reise. Ohne Sorge konnte er sein Töchterchen verlassen, das noch im Bett lag, aber fröhlich mit Frieder plauderte. Die Mutter folgte dem Reisenden noch die Treppe hinunter, die Zwillingsschwestern begleiteten den Vater an die Bahn, die Brüder sollten ihn dafür bei der Heimkehr abholen. Als Frau Pfäffling allein die Treppe wieder herauf und ins Zimmer kam, sagte sie zu ihren drei Großen: »Gottlob, dass des Vaters Reise doch noch zustande gekommen ist,« und sie fing an, den Tisch abzuräumen, an dem der Vater noch eine kleine Mahlzeit eingenommen hatte.
Nun kam auch Frieder, der bei dem Schwesterchen geblieben war, herein, nahm seine Ziehharmonika und spielte ein Lied. Aber mitten in der Melodie unterbrach er sich und fragte: »Wann reist denn der Vater fort?« Da sahen ihn alle an, lachten und fragten: »Hast du's nicht gemerkt, dass der Vater abgereist ist? Er hat sich doch von dir und Elschen auch verabschiedet. Bist du denn doch wieder unser Dummerle? Und der Vater hat erst gesagt, niemand darf dich mehr so heißen.«
Da besann sich der Frieder eine Weile, nahm seine Melodie wieder auf, wo er sie unterbrochen hatte, und spielte sie zu Ende. Dann deutete er auf das Klavier und sagte langsam: »Weil doch da oben noch die Karte vom Fichtelgebirge liegt, kann doch der Vater nicht fort sein.« Was gab es für einen Aufruhr bei diesen ruhig gesprochenen Worten! Die Mutter, die Geschwister, alle waren in einem Augenblick am Klavier: richtig, da lag die Karte; wie war es möglich, dass der Vater die vergessen hatte! Dann ein Blick auf die große Wanduhr – reicht es noch, kann man noch vor Abgang des Zuges an die Bahn kommen, dem Vater die Karte bringen? »Es geht nicht mehr,« meint die Mutter. »Es geht, es geht,« meint einer der Jungen und nimmt schon die Karte, reißt die Mütze vom Nagel und hinaus zur Türe: »Ich kann schneller laufen,« »und ich länger,« ruft der Zweite und Dritte, und einer hinter dem andern hinaus, die Treppe hinunter, mit einem Gepolter, dass sogar die freundliche Hausfrau zu ihrem Mann sagte: »So ein Gepolter dürfen die Kinder nicht anfangen, es ist besser, wenn man es ihnen gleich das erste Mal verwehrt.« Der Hausherr meinte das auch und ging an die Türe, aber die drei waren zum Haus hinaus, schossen davon und man hörte nur noch, wie droben das Fenster aufgemacht wurde und Frau Pfäffling ihren Jungen nachrief: »Rennt nur, was ihr könnt, es kann noch reichen!« Aber die drei hörten schon nichts mehr und waren im Nu um die Ecke. »Es muss etwas Besonderes los sein,« sagte die Hausfrau zu ihrem Mann, »da kann man nicht zanken.«
Der Musiklehrer Pfäffling war zeitig an die Bahn gegangen, er konnte sich in Ruhe einen guten Platz im Zug wählen, stieg ein und plauderte durchs offene Fenster mit seinen zwei Töchtern. Nun reichte er ihnen noch die Hand heraus zum Abschied: »Grüßt mir die Mutter noch einmal und das Elschen, und nun geht nicht so nahe an den Zug, er wird gleich abfahren, dass nicht noch ein Unglück geschieht –« »Und du wieder nicht reisen kannst,« sagte eine der Schwestern. »Ja, diesmal hat's schwer gelingen wollen, gottlob, dass ich so weit bin.« »Fertig!« rief der Zugführer, und der Bahnbeamte setzte eben das Pfeifchen an den Mund, um das Zeichen zur Abfahrt zu geben, da stürzte auf den Bahnsteig heraus ein Bub, atemlos, schweißtriefend, und ein zweiter hinter ihm drein, und riefen schon von der Ferne: »Vater, Vater!« Der dritte war nicht nachgekommen, der hatte unterwegs einen Schuh verloren. Der Zugführer empfand ein menschliches Rühren, er war doch auch Vater: wenn zwei Kinder so nach dem Vater riefen, durfte er wohl einige Sekunden zögern. Er nahm das Pfeifchen von den Lippen, alle Umstehenden sahen auf die heranstürmenden Jungen, auch Pfäffling erblickte sie, und wie der Blitz durchfuhr ihn der Gedanke: »Es ist etwas geschehen – du kannst nicht reisen – das Elschen ist wieder krank!« Da hatte sein Ältester den Wagen erreicht, streckte ihm etwas entgegen: »Die Karte!« Der Pfiff ertönte, der Zug fuhr ab und noch aus weiter Ferne sahen die Kinder, wie der Vater sie grüßte und ihnen fröhlich zuwinkte mit der Karte vom Fichtelgebirge!
Die Familie Pfäffling
Meiner lieben Mutter zum Eintritt in das 80. Lebensjahr.
Die Familie Pfäffling muss Dir gewidmet sein, liebe Mutter, denn was ich in diesem Buche zeigen möchte, das ist Deine eigene Lebens-Erfahrung. Du hast uns vor Augen geführt, welcher Segen die Menschen durchs Leben begleitet, die im großen Geschwisterkreis und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen sind, unter dem Einfluss von Eltern, die mit Gottvertrauen und fröhlichem Humor zu entbehren verstanden, was ihnen versagt war.