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»Keine Ursache. Ich hab ja gesehen, dass du nichts mit dem Kerl zu tun haben wolltest.«
»Du kennst ihn?«
»Ja. Ein Klassenkamerad von früher. Unangenehmer Bursche.« Sie lächelte.
»Das hab ich gemerkt.«
»Große Klappe, nichts dahinter.«
»Bist du …« Sie sah mich an. »Bist du wirklich Grenzgänger?« Es klang nicht abfällig, sondern neugierig.
»Ich war es. Bis sie die Grenze zugemacht haben. Seitdem bin ich arbeitslos. Hier im Osten will mich keiner haben.« Ich nahm einen Schluck von meinem inzwischen lauwarmen Bier. »Soll ich dir was zu trinken bestellen?«
Sie nickte, und ich winkte der Bedienung.
»Kennst du viele Leute im Westen?«, fragte sie.
»Meine ehemaligen Kollegen. Ein paar Freunde. Und meine Freundin wohnt auch drüben.« Der Gedanke an Heike ließ mich aufseufzen. »Aber jetzt habe ich keinen Kontakt mehr.«
»Auch nicht zu deiner Freundin?«
Ich schüttelte den Kopf. Und merkte nicht einmal, dass die Bedienung an unserem Tisch vorbeiging, ohne uns zu beachten.
»Mein Freund ist auch im Westen«, sagte sie nach ein paar Sekunden.
So leise, dass ich mir nicht sicher war, ob ich richtig gehört hatte. Aber als ich sie anschaute, sah ich Tränen in ihren Augen. Mir war auch zum Heulen zumute, aber was würde es nützen, wenn wir zu zweit flennten?
»Seit Kurzem erst«, fügte sie – noch leiser – hinzu.
»Wie? Seit Kurzem erst?« Ich beugte mich über den Tisch.
Sie wischte sich die Augen und warf einen schnellen Seitenblick zur Theke, wo Wolfgang uns nach wie vor den Rücken zukehrte. »Er ist geflohen.«
»Wann?«
»Am Freitag.«
Ich starrte sie an. Ihr Freund war geflohen? Vorgestern erst … Wie hatte er das gemacht? Am liebsten hätte ich ihr hundert Fragen auf einmal gestellt, aber ich schwieg, weil ich das Gefühl hatte, es wäre besser, sie reden zu lassen – falls sie wollte.
Und dann fing sie auch schon an. »Eigentlich sollte ich nicht mir dir darüber sprechen, wo ich dich doch überhaupt nicht kenne. Vielleicht arbeitest du für die Stasi. Aber so siehst du nicht aus.« Ein flüchtiges Lächeln. »Und Stasi-Leute sind ja wohl keine Grenzgänger, oder? Außerdem muss ich einfach mit jemandem darüber reden. Es macht mich völlig fertig, dass mein Freund fort ist. Und dass ich es keinem sagen darf … niemand darf wissen, dass ich …«
Ich griff nach ihrer Hand. Weil sie mir leidtat, vor allem aber, weil ich begierig darauf war, mehr zu erfahren.
»Wie ist er geflohen?«, fragte ich.
»Durch die Kanalisation.«
Dass wir daran nicht gedacht hatten! In der Kanalisation gab es jede Menge Ost-West-Verbindungen.
»Er hatte Kontakt mit Studenten im Westen. Die haben die Flucht organisiert. ›Unternehmen Reisebüro‹ nennen sie sich. Sechs Leute können jeweils rüber. Und dann haben sie noch einen Helfer, der den Gullydeckel wieder zumacht, wenn die anderen drunten sind. Es läuft nämlich so, dass man in der Nacht nicht weit von der Grenze in die Kanalisation einsteigt. Im Westen wartet dann einer, der einen aus dem Labyrinth rausführt.«
Das klang ebenso einfach wie einleuchtend.
»Und warum bist du nicht mitgegangen?«, konnte ich mich nicht enthalten zu fragen.
Wieder kamen ihr die Tränen.
»Wir beide sind als Letzte zu der Gruppe gestoßen, und da waren sie schon zu fünft: vier Frauen und ein Mann. Also konnte nur einer von uns mit, und sie haben sich für meinen Freund entschieden.«
Ich war unschlüssig. Sollte ich ihr verraten, dass auch mein Bruder und ich fliehen wollten? Vielleicht könnten wir sie ja mitnehmen? Andererseits kannte ich sie nicht … Dass sie sich mir, einem völlig Fremden, anvertraute, war mehr als unvorsichtig. Oder aber es verhielt sich so, dass sie für die Stasi arbeitete und mich aushorchen wollte.
»Ich stehe jetzt auf der Warteliste«, fuhr sie fort.
»Es sind also noch weitere Fluchten durch die Kanalisation geplant?«
Sie nickte.
Ich konnte es kaum fassen – das war ja gerade, als bekäme man die ideale Lösung auf dem Tablett serviert.
»Wann die nächste Gruppe geht, weiß ich aber nicht.«
»Störe ich?«
Ich fuhr zusammen und sah dann zu meiner Erleichterung, dass Rolf neben unserem Tisch stand. Erst jetzt wurde mir klar, dass das Mädchen und ich die ganze Zeit die Köpfe zusammengesteckt hatten.
Sie starrte Rolf an und schlug die Hand vor den Mund.
»Keine Sorge, das ist mein Bruder«, sagte ich.
»Tut mir leid, dass ich verspätet bin.« Rolf wollte sich neben mich setzen.
»Warte, wir gehen besser woandershin.« Ich stand auf.
Hier unsere Flucht besprechen, mit Wolfgang Wichser in ein paar Metern Abstand, war undenkbar.
»Ich geh dann mal.« Auch das Mädchen erhob sich.
»Komm doch mit.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich muss nach Hause, wirklich. Es ist schon spät, und ich muss morgen früh raus, arbeiten.« Sie nahm ihre Tasche. »Danke fürs Zuhören.«
Sie lächelte mich an, schien einen Moment zu überlegen, ob sie mir die Hand geben sollte, ließ es aber und ging zur Tür.
»Warte!« Ich rannte ihr nach.
Draußen packte ich sie am Arm. Als sie mich erschrocken ansah, ließ ich sie los.
»Wir wollen auch fliehen!«, stieß ich hervor. »Geh jetzt nicht weg, bitte!«
Mit großen Augen sah sie mich an, den Blick voller Zweifel.
»Vielleicht können wir einander ja helfen. Ich heiße Julian. Julian Niemöller.« Dass es riskant war, nach dieser Eröffnung meinen Namen zu nennen, war mir klar. Falls sie für die Stasi arbeitete, würde ich in Teufels Küche kommen. Aber falls nicht, sah sie darin vielleicht einen Vertrauensbeweis.
»Ich muss nach Hause.«
»Dann lass uns ein andermal weiterreden, ja?« Fast schon flehentlich sah ich sie an.
Sie überlegte einen Augenblick.
»Kennst du den Friedhof an der Boxhagener Straße?«, fragte sie.
Ich nickte. Wo die Boxhagener Straße war, wusste ich. Und den Friedhof würde ich schon finden.
»Kommenden Sonntag um sieben abends.«
»Gut, mein Bruder und ich werden da sein.«
»Aber jetzt … muss ich wirklich …«
»Ich sage keinem ein Wort, du kannst dich auf mich verlassen.« Sie lächelte mir flüchtig zu, dann ging sie davon.
»Was war das denn?« Rolf stand hinter mir.
Breit grinsend drehte ich mich um. »Wir haben eine Verabredung«, sagte ich. »Nächsten Sonntag um sieben auf dem Friedhof an der Boxhagener Straße. Dort erfahren wir mehr über den genialsten Fluchtplan aller Zeiten.«
Rolf machte eine skeptische Miene.
»Komm, wir gehen zu dir«, sagte ich. »Dann erzähle ich dir von dem Mädchen, das Heike ähnlich sieht, aber nicht Heike ist.«
VIERZEHN
Es war ein Tag zum Ersticken. Was das Wetter betraf und auch sonst. Der Himmel war verhangen, aber unter der Wolkendecke herrschte eine Schwüle, als könnte jede Minute ein Gewitter losbrechen. Mir war, als wäre nicht nur die Luft um mich herum, sondern auch mein Inneres elektrisch aufgeladen.
Heute waren wir mit dem blonden Mädchen auf dem Friedhof verabredet. Falls ihr zu trauen war, würde sie dort auf uns warten. Falls nicht, jemand von der Stasi.
Die Woche hatte sich zäh und langsam hingezogen, und heute wollte die Zeit überhaupt nicht vergehen. Im Gottesdienst am Vormittag hatte ich mich fortwährend umgesehen, nach Männern Ausschau gehalten, die mich eventuell verfolgten, weil etwas durchgesickert war. Aber da war niemand, weder in der Kirche noch auf dem Nachhauseweg. Irgendwie überstand ich das Mittagessen, zu dem Frau Schulze sich selbst eingeladen hatte, und zog mich dann in mein Zimmer zurück, um Schallplatten zu hören. Auf dem Bett liegend, ließ ich zur Musik sämtliche Erinnerungen an Heike vor meinem inneren Auge vorbeiziehen. Es kam mir vor, als hätten wir uns vor einer Ewigkeit das letzte Mal gesehen, und meine Sehnsucht nach ihr wurde so groß, dass die Brust schmerzte.
Kurz vor dem Abendessen kam Rolf, und Mutter freute sich so über den unerwarteten Besuch, dass außer ihr kaum jemand zu Wort kam. Sie redete ohne Punkt und Komma über alle möglichen Alltagsdinge. Was sie beim Bäcker gehört hatte … dass sie beim Fleischer eine geschlagene Stunde anstehen musste, dann aber tatsächlich Koteletts bekommen habe … dass die Tochter und der Schwiegersohn von Frau Katzenberg endlich Aussicht auf eine Wohnung hätten und deshalb nicht mehr lange mit dem Baby bei ihr wohnen müssten …
Wem wird sie all das erzählen, wenn wir beide nicht mehr da sind?, dachte ich unwillkürlich. Vater? Franziska? Frau Schulze? Ein Schuldgefühl wollte sich breitmachen, aber ich ließ es nicht zu. Mein Entschluss stand fest, es gab kein Zurück mehr.
Nach dem Essen zogen wir los. Mutter fragte überhaupt nicht, was wir vorhatten; wahrscheinlich glaubte sie, ihre Söhne gingen noch kurz auf ein Bier.
Draußen war es noch drückender als am Vormittag. Der Himmel war lila, und Böen trieben dicht am Boden erstes Herbstlaub durch die Straßen.
Beim Friedhof angekommen, öffnete Rolf das eiserne Gittertor. Es quietschte nicht, was es in einem Film sicherlich getan hätte. Und in einem Film wären wir natürlich verfolgt worden. Aber auch das war nicht der Fall; ich hatte mich auf dem Weg hierher immer wieder umgeblickt. Dennoch war mir unbehaglich zumute.
Der Friedhof machte einen gepflegten Eindruck. Auf den Grabplatten lag kein Laub herum, und auf vielen Gräbern standen frische Blumen oder brannten ewige Lichter. Eine Baumreihe schloss das Gelände zur Straße hin ab, sodass man nicht das Gefühl hatte, sich mitten in einer Großstadt zu befinden. Und es war ungewöhnlich still, nicht einmal Vogelgezwitscher war zu hören. Das blonde Mädchen saß auf einer Bank an einem Nebenweg. Mit einem etwa dreißigjährigen Mann in blauer Arbeitshose und einem schmuddeligen Pullover.
»Setzt euch.«
Wir ließen uns neben den beiden auf der Bank nieder.
»Das ist … Frank«, sagte das Mädchen. »Er ist hier bei uns zuständig. Für das … äh … Reisebüro.«
Der Mann musterte uns. »Ihr wollt also fliehen?« Seine Stimme war kühl, sachlich.
Rolf und ich nickten.
»Warum?«
Ein schneller Blick von Rolf.
Es war meine Idee gewesen, also war es nur recht und billig, wenn ich die Frage beantwortete. Ich schluckte kurz. Ob man diesem Frank trauen konnte? Dass er in Wirklichkeit nicht so hieß, war klar – das Zögern des Mädchens, bevor sie seinen Namen nannte, war mir nicht entgangen. Womöglich waren die beiden doch Spitzel und wollten uns aushorchen und verhaften lassen, sobald wir unsere Fluchtabsicht laut und deutlich geäußert hatten. Wieder schluckte ich, aber meine Kehle war und blieb trocken. Wenn es doch nur regnen würde … Andererseits – die beiden konnten sich ja auch nicht sicher sein, was uns betraf, und dachten vielleicht, wir wollten ihre Organisation infiltrieren und auffliegen lassen.
»Meine Freundin ist im Westen«, sagte ich schließlich heiser. Frank verzog keine Miene.
Dass ich mein Leben in Ostberlin als sinnlos und leer empfand, würde ihn wohl kaum interessieren, darum fuhr ich fort: »Ich habe in Westberlin gearbeitet und habe dort Freunde. Und, wie schon gesagt, meine Freundin. Ich lebe auf der falschen Seite der Mauer.«
»Und du meinst, auf der kapitalistischen Seite gefällt’s dir besser?«
Ich zuckte zusammen. Also doch …
Aber er grinste. »Kleiner Scherz, schon gut.« Dann wandte er sich an Rolf: »Und du?«
Rolf hatte sich inzwischen eine Zigarette angezündet, nahm einen Zug und blies den Rauch aus.
»Ich möchte Paris sehen. Und ich will meinen kleinen Bruder nicht allein gehen lassen. Der ist leichtsinnig und schlägt gern mal über die Stränge.«
An der Art, wie er den Glimmstängel hielt, merkte ich, dass seine Lässigkeit nur Schein war.
»Und wie habt ihr euch die Flucht vorgestellt?«, fragte Frank.
»Ich hab mir die Häuser an der Bernauer Straße angesehen«, sagte ich. »An der Ecke Ruppiner Straße war ein Kellerschacht zum Westen hin offen …«
»Aber jetzt ist da alles zugemauert«, ergänzte Rolf. »Und eine andere Möglichkeit haben wir noch nicht gefunden. Ich war mehrmals am Teltowkanal und an der Spree …«
Das war mir neu. Davon hatte er noch gar nichts erzählt … oder bluffte er?
»… aber da ist wohl auch nichts zu machen.«
»Tja, und dann habe ich sie …« – ich zeigte auf das Mädchen.
»Veronika«, sagte sie rasch.
»… habe ich Veronika kennengelernt, und sie hat mir von eurem Unternehmen erzählt.«
Frank ließ uns nicht aus den Augen.
»Hast du ’ne Kippe für mich?«, wandte er sich plötzlich an Rolf. Der zog eine Selbstgedrehte aus seiner Hemdtasche und reichte sie ihm. Dann beugte er sich zu ihm hinüber, um ihm Feuer zu geben.
»Gut.« Frank blies den Rauch über unsere Köpfe hinweg.
»Am vierundzwanzigsten September geht die nächste Gruppe. Wenn ihr wollt, könnt ihr mit.«
»Am vierundzwanzigsten September?«, wiederholte Rolf. »Das heißt: kommende Woche?«
Er nickte.
Schon in einer Woche … eine Woche war so schnell vorbei … was würde ich bis dahin noch alles erledigen müssen? Es kam mir fast vor, als hätte man mir gesagt, mir bliebe nur noch eine Woche zu leben.
»Wir müssen schnell handeln. Kann gut sein, sie machen demnächst auch die Kanalisation dicht.« Es klang, als hätte er das schon x-mal zu Leuten gesagt, die ähnlich dachten wie ich im Moment. »Ihr könnt aber auch auf die Warteliste, dann …«
»Wir gehen mit«, unterbrach ich ihn entschlossen.
»Gut. Ihr werdet zu sechst sein. Also noch drei andere. Wer, das braucht ihr nicht zu wissen. Kein Gepäck. Dunkle Kleidung bitte. Und weder Seile noch Taschenlampen mitnehmen. Wenn ihr mit so was erwischt werdet, ist es für die ganze Gruppe aus. Ein siebter, der Deckelmann, macht den Kanaldeckel auf und schließt ihn hinter euch wieder. Unten geht ihr geradeaus. An der Grenze sind die Gänge mit Sperrgittern versehen, aber unter denen kann man durchtauchen. Jenseits davon stehen zwei Westler. Die führen euch zu einem Ausgang außer Sichtweite der Grenze. Unterwegs nicht sprechen und kein Licht machen. Das Ganze muss schnell und leise vor sich gehen.«
Seine Erläuterungen waren äußerst präzise, dabei kurz und knapp.
»Selbstverständlich redet ihr mit keinem darüber. Ihr verhaltet euch bis zum vierundzwanzigsten wie sonst auch. Geht zur Arbeit, kauft ein – alles wie immer. Kein Abschied von Familienangehörigen und so. Und keine Briefe hinterlassen, das würde euren Leuten nur Scherereien machen.«
Ich schluckte.
»Noch Fragen?«
Mir fiel so schnell nichts ein. Und auch Rolf schüttelte den Kopf. »Also gut. Sonntagabend um zehn wartet Veronika in der Kneipe, wo ihr sie kennengelernt habt, auf euch.« Die beiden standen auf und gaben uns nacheinander die Hand.
Und ehe ich mich’s versah, waren sie auch schon verschwunden. Rolf und ich saßen allein da und sahen einander ungläubig an: Würden wir tatsächlich schon nächste Woche im Westen sein?
»Mir scheint, wir sind Glückspilze«, meinte Rolf schließlich. »Besser organisiert könnte die Flucht gar nicht sein. Das hätten wir selber nie so hinbekommen.« Er grinste.
Ich erwiderte das Grinsen halbherzig. Irgendwie konnte ich es noch nicht fassen.
Auch als ich zu Hause in meinem Zimmer am Fenster stand und es endlich zu regnen begonnen hatte, kam mir unser Vorhaben noch unwirklich vor. In einer Woche würde ich nicht nur bei Heike sein, sondern auch als Staatsfeind gelten und meine Familie nie mehr wiedersehen.
FÜNFZEHN
Es wurde die merkwürdigste Woche meines Lebens. Ich war ängstlich, erleichtert, aufgeregt und deprimiert – alles zugleich. Die Zeit verging zu schnell und doch nicht schnell genug. Ich versuchte, Franks Anweisung zu befolgen und mich so zu verhalten wie sonst auch. Aber das war schwierig, weil ich mich so völlig anders fühlte.
Am Esstisch prägte ich mir das Gesicht meiner Mutter ein, ihre Augenfarbe, ihre Haarfarbe und die feinen Fältchen in den Mundwinkeln. Jeden Satz, den sie sagte, wollte ich mir merken.
Auch meinen Vater betrachtete ich heimlich. Und wieder einmal wurde mir bewusst, wie wenig ich ihn doch kannte. Zu gern hätte ich gefragt, woher sein Starrsinn und seine Härte rührten, warum er sich wie mit einem Panzer gegen uns abschottete. Der Krieg hat ihn innerlich umgebracht, hatte meine Mutter einmal gesagt, aber nicht erklärt, wie sie das genau meinte. Er selbst mied das Thema Krieg. Als er ’46 aus russischer Gefangenschaft zurückkehrte, traf er zu Hause Kinder an, die ihn den größten Teil ihres Lebens nicht gesehen hatten. Ich – damals fünf – hatte ihn überhaupt noch nie gesehen. Mein Vater war für mich das Foto auf Mutters Nachttisch. Ein stattlicher Offizier in Wehrmachtsuniform mit lachendem Gesicht. Und auf einmal stand ein ausgemergelter Mann in der Tür, der meine Mutter küsste und von da an bei uns wohnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass der wortkarge Mann, der mich schlug, wenn ich im Weg herumstand oder meinen Teller nicht leeraß, derselbe war wie auf dem Foto. Für ihn wiederum war ich das Kind, von dem er nur aus Briefen meiner Mutter wusste. Gudrun und Rolf hingegen hatte er als Säuglinge und Kleinkinder erlebt.
Als ich in die Pubertät kam, rechnete ich des Öfteren nach, traute mich aber nicht, meine Mutter direkt zu fragen, ob er neun Monate vor meiner Geburt auf Heimaturlaub gewesen war.
Jedenfalls war es, als hätte sein Leben erst mit der Rückkehr aus der Gefangenschaft begonnen, denn über früher sprach er nie, auch nicht über die Zeit vor dem Krieg. Eine einzige Geschichte aus dem Krieg kam mir zu Ohren, als er sie Florian erzählte. Vater und seine Kameraden hatten im Afrikakorps gekämpft und in der Wüste ein Kamel eingefangen, mit dem sie ein britisches Lager überfallen wollten. Weil das Tier ihnen den gesamten Wasservorrat wegsoff, war ihr Vorhaben zum Scheitern verurteilt. Aber das konnte ihn innerlich nicht umgebracht haben. Es musste etwas anderes gewesen sein.
Ich überlegte, ob er es mir wohl sagen würde, wenn er von unserem Fluchtplan wüsste und dass wir einander wahrscheinlich nie mehr sehen würden. Nein, eher nicht … stattdessen würde er mir eine Predigt halten. Über Gehorsam und Pflichtbewusstsein. Und mich abkanzeln, weil ich mir von einem Mädchen aus dem Westen den Kopf hatte verdrehen lassen. Seine wahren Gefühle würde er hinter Prinzipien und Ermahnungen verstecken. So wie immer. Also ließ ich es beim Beobachten und bedauerte, dass ich meinen Vater nie wirklich würde kennenlernen.
Wenn ich durch die Straßen ging, kamen mir die Farben anders vor, die Sonne wärmte meine Haut intensiver, und der Wind trug die verschiedensten Gerüche heran. An den heruntergekommenen Häusern, den Schutthalden aus dem Krieg, den neu angelegten breiten Straßen und den einförmigen Wohnblocks nahm ich Details wahr, die mir vorher nie aufgefallen waren. Ich sah, dass die Sockel der Laternenpfähle entlang der Stalinallee kleine Klappen hatten und dass eines der Arbeiterdenkmäler an der Rathausstraße statt Stiefeln eine Art Pantoffeln trug. Die Herbstblumen im Park hatten leuchtendere Farben, und die Straßenbahnen bimmelten lauter. Nur die Parolen auf den Plakatwänden blieben leere Phrasen.
Und ich achtete auf etwas, das mich bisher nie interessiert hatte: die Gullys. Ihr Durchmesser würde einen problemlosen Abstieg erlauben. Und sie hatten Löcher, an denen der Deckelmann sie anheben konnte. Wie viele von den Gängen darunter mochten in den Westen führen? Letztlich wohl alle, denn da unten stand alles miteinander in Verbindung. Und wenn ich auf einem Gullydeckel stehen blieb, war mir, als könnte ich das fühlen und als hörte ich das Abwasser unter mir rauschen.
Mir alles so gut wie möglich einzuprägen war meine einzige Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Mutter und Vater müssten sich später alles zusammenreimen. Das heißt, vermutlich würde jemand von der Staatssicherheit kommen, um sie über unsere Flucht zu informieren. Sie würden die Nachricht ebenso verwundert wie entsetzt aufnehmen, sodass der Stasi-Mensch gar nicht auf die Idee kam, sie könnten Mitwisser sein.
Weil mein Vater mir andauernd zusetzte und weil ich mich verhalten sollte wie sonst auch, bemühte ich mich weiterhin um Arbeit. Und es war, als hätte der Teufel die Hand im Spiel. Als ich mich am Mittwoch zum x-ten Mal bei irgendeinem Stellvertreter irgendeines Geschäftsführers irgendeiner Baufirma vorstellen durfte, hatte ich auf einmal eine Stelle. Nicht als Maurer, aber als Hilfskraft. Der Lohn betrug nur einen Bruchteil dessen, was ich bei Reitmann & Sohn verdient hatte. Aber weil es ohnehin egal war, sagte ich zu. Am Montag könne ich anfangen, hieß es. Ich nickte, stellte pro forma noch ein paar Fragen, unterschrieb den Vertrag und verabschiedete mich mit einem Händedruck. Der Mann würde sich wundern, wenn ich am ersten Arbeitstag gar nicht erst auftauchte. Aber das brauchte mich nicht zu kümmern.
Einzig mit Rolf konnte ich über alles reden. Ich ging jeden Abend bei ihm vorbei. Den Rücken an die Wand gelehnt, saßen wir nebeneinander auf seinem Bett, tranken Bier, und er rauchte eine Zigarette nach der anderen. Als ich ihm erzählte, wie anders ich alles empfand, nickte er nur. Wahrscheinlich erging es ihm genauso.
»Willst du wirklich nach Italien?«, fragte ich ihn, als eine längere Stille eintrat.
»Ja.« Er sah mich an. »Erst als du von Freiheit geredet hast, ist mir klar geworden, was uns hier alles versagt bleibt. Wie begrenzt unsere Welt ist. Seitdem spuken mir alle möglichen Länder und Orte durch den Kopf, die ich gern sehen möchte.« Er schloss die Augen: »Rom … Paris …«
Solche Träume hatte ich nicht. Ich konnte nicht weiter denken als bis Sonntagabend. Und daran, was dann alles für immer zu Ende sein würde.
»Am Sonntag hat Franziska Geburtstag.« Ich nahm einen Schluck Bier. »Wir könnten Gudrun und Hermann fragen, ob sie zum Essen kommen. Als Absch…« Das Wort blieb mir im Halse stecken.
Rolf nickte.
»Und wegen Franziska natürlich.«
Ich fragte mich, ob meine kleine Schwester mir wohl fehlen würde. Und ich ihr. Gudrun ja, die würde mir fehlen. Und Marthe und Florian ebenso. Ob die beiden sich in zehn Jahren, falls die Mauer so lange stand, noch an mich erinnerten? Oder würde ich dann ein Onkel sein, der nur als Foto existierte?
Ich versuchte, an etwas Erfreuliches zu denken. An Heike. Daran, wie überrascht sie sein würde, wenn ich plötzlich vor ihr stand. Wir würden uns eine gemeinsame Wohnung suchen. Bestimmt könnte ich mir bald ein Auto leisten, sodass wir verreisen konnten. Wenn ich Appetit auf Bananen oder Apfelsinen hatte, würde ich die einfach im Laden kaufen. Und kein Uniform-Heini könnte mich je mehr demütigen. Ach ja, noch war das alles Zukunftsmusik.
Wieder trank ich von meinem Bier.
»Du grübelst zu viel.« Rolf prostete mir mit seiner Bierflasche zu. »Komm, lass uns eine Partie Schach spielen.«
SECHZEHN
Eigentlich hatte ich jeden Moment im Gedächtnis speichern, mir jedes Wort merken wollen. Und dann zogen die Tage wie im Rausch vorbei, ich konnte mich kaum konzentrieren und verlor jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Es war, als ginge das Leben bereits ohne mich weiter.
Am Sonntagmorgen hatte ich mich noch einmal genau in meinem Zimmer umgesehen. Hatte die Kleider aufs Bett gelegt, die ich anziehen wollte. War kurz versucht gewesen, doch etwas als Andenken mitzunehmen. Hatte den Gedanken gleich wieder verworfen, weil es mich nur bedrückt hätte, etwas auszusuchen. Nicht einmal den Schuhkarton unter meinem Bett hatte ich aufgemacht, um mir noch einmal anzusehen, was ich in der Kindheit alles gesammelt hatte. Weder dem Bild von Heike, das sie mir geschenkt hatte, noch dem Schlüsselanhänger, den Florian für mich gebastelt hatte, schenkte ich einen Blick.
Stattdessen war ich ins Elternschlafzimmer gegangen und hatte die Schubladen von Mutters Nachttisch nacheinander aufgezogen und wieder zugemacht, ohne zu wissen, was ich suchte. Erst als ich es fand, wurde es mir bewusst. Das Foto meines Vaters. Als ich es aus dem Rahmen nehmen wollte, fiel ein anderes Bild, das dahintergesteckt hatte, auf den Bettvorleger. Es zeigte ebenfalls meinen Vater, stammte aber wohl aus dem Krieg und war ziemlich unscharf. Neben ihm war eine Holzhütte zu sehen und hinter ihm eine unbebaute Ebene. Vater lachte, das Gewehr in der Hand, in die Kamera. Aber es war eine andere Art Lachen als auf dem Bild, das ich kannte.