Transformativer Realismus

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Ausgerechnet die Währungsunion, die doch zur Konvergenz der Wohlstandsniveaus führen sollte, spaltet die Europäer. Hier zeigt sich nun, dass der Kuhhandel um den Euro eine nicht lebensfähige Konstruktion hervorgebracht hat. Aus Sicht vieler Europäer wurde der Gesellschaftsvertrag des europäischen Integrationsprojektes, für Frieden und Wohlstand auf nationale Souveränität zu verzichten, gebrochen.
Vor allem die Italiener sehen sich als die Verlierer der Gemeinschaftswährung. In Umfragen zeichnen sich bereits Mehrheiten dafür ab, die drittgrößte Volkswirtschaft Europas aus dem Euro, oder gar das Gründungsmitglied Italien aus der Europäischen Union zu führen.* Wenn die Einhaltung der Maastricht-Kriterien weder demokratisch durchsetzbar noch ökonomisch möglich ist, ist der Euro-Stabilitätspakt gescheitert. Das bedeutet politisch, dass die Verfassung der Gemeinschaftswährung auf eine neue, solidarischere Basis gestellt werden muss.
* In einer SWG Umfrage im April 2020 bezeichneten 45 Prozent der befragten Italiener Deutschland als »Feindesland«, während 52 Prozent China und 32 Prozent Russland als Freunde bezeichneten; in einer Tecnè-Umfrage vom April 2020 sprachen sich 49 Prozent der Italiener sich für den Austritt aus der Europäischen Union aus.
Langfristig funktioniert die EU nicht ohne Angleichung der Lebensverhältnisse
Seit der Eurokrise halten die Anlagenkäufe der Europäischen Zentralbank die verschuldeten Südeuropäer über Wasser. Auf Dauer ist den Südeuropäern aber mit Krediten nicht geholfen.
Um die politischen Fliehkräfte zu mildern, die die Eurozone auseinanderreißen könnten, müssen sich die Europäer auf die Angleichung der Lebensverhältnisse verpflichten. In Bundesstaaten wie den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland greifen die reicheren den ärmeren Ländern finanziell unter die Arme. Um die großen Unterschiede in den Lebensbedingungen auszugleichen, bräuchte es einen Umverteilungsmechanismus zwischen den europäischen Partnern.
Die europäischen Verträge haben aber peinlich genau darauf geachtet, dass eben das nicht möglich ist. In der Coronakrise konnte der Ausbruch einer neuerlichen Eurokrise, und damit wohl das Ende des Euro, nur verschämt durch die Hintertür in Form von Zentralbankgarantien verhindert werden.
Immerhin wurde nach langem Streit im Juli 2020 ein Rettungspaket verabschiedet, das erstmalig in der Geschichte der Europäischen Union die gemeinsame Aufnahme von Schulden erlaubt. Berlin gibt damit zumindest temporär seinen Widerstand gegen die »Vergemeinschaftung von Schulden« in der »Transferunion« auf. Das europäische Wiederaufbauprogramm »Next Generation EU« ist ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung. Ein substanzieller Teil des europäischen Budgets von knapp 2 Billionen Euro fließt in die Förderung des European Green Deals, der die digitale, soziale und ökologische Transformation vorantreiben soll. Der Finanzierungshebel sorgt zudem dafür, dass ein wichtiger Wachstumsimpuls in die europäischen Volkswirtschaften gesendet wird. Ob dafür die gerade einmal 6,1 Prozent des europäischen Bruttoinlandsproduktes ausreichen, wird sich zeigen.
Das europäische Dilemma
Ob der Durchbruch bei der gemeinsamen Finanzierung des Konjunkturpaketes schon einen »Hamilton-Moment« markiert, wie viele Europhile jubelten, bleibt allerdings abzuwarten. Denn der Weg in eine politische Union ist lang und steinig. Der Blockadeversuch des Wiederaufbauprogramms durch Polen und Ungarn zeigte, wie weit die Vorstellungen der Mitgliedstaaten selbst in Grundsatzfragen wie der Rechtsstaatlichkeit auseinanderliegen. Hinter dem Gezerre um die Transferunion steht jedoch nicht nur nationalistischer Egoismus. Wenn die Steuerzahler zur Unterstützung ihrer europäischen Mitbürger zur Kasse gebeten werden, haben die demokratischen Souveräne ein Recht darauf, dass ihnen Rechenschaft darüber gezollt wird, wofür ihr Geld ausgegeben wird. Auf dem Spiel steht also nichts weniger als der älteste Grundsatz des Parlamentarismus: No taxation without representation. Das Beharren auf demokratischen Prinzipien ist keineswegs anti-europäisch. Ganz im Gegenteil kann die stärkere parlamentarische Kontrolle der europäischen Finanzen genau das Gegengift gegen die grassierende Angst vor dem Kontrollverlust sein, die einer tieferen Integration Europas im Wege steht.
Ohne die Billigung der demokratischen Souveräne ist eine echte Fiskalunion, also ein Umverteilungsmechanismus in Form eines gemeinsamen Budgets unter parlamentarischer Kontrolle, nicht machbar. Der Einstieg in die politische Union bedarf also eines gemeinsamen Gründungsaktes. Wer die Vereinigten Staaten von Europa vollenden will, müsste also nicht weniger als 27 nationale Referenden für sich entscheiden. Allerdings erscheint es im gegenwärtigen Klima der Revolten gegen Brüssel nur schwer vorstellbar, dass die Völker Europas einer solch einschneidenden Übertragung von Souveränität zustimmen würden. Auch die Ausrufung einer Europäischen Republik erscheint in einem politischen Klima, das nach mehr nationaler Souveränität in einer scheinbar außer Kontrolle geratenen Welt dürstet (»Take back control«), unrealistisch.
Hier liegt das eigentliche Dilemma Europas. Die Fehlkonstruktion der Währungsunion macht die Lösung der Eurokrisen innerhalb der bestehenden Verträge unmöglich. Solange die europäischen Bürger das europäische Projekt jedoch als Bedrohung empfinden, sind weitere Integrationsschritte politisch nicht durchsetzbar. Da der Status quo wirtschaftlich und sozial unhaltbar ist, öffnet der politische Stillstand Verteilungs- und Identitätskonflikten Tür und Tor, die die Europäische Union auseinanderzureißen drohen.
Kapitel 6
Billiges Geld treibt die soziale Ungleichheit
Seit geraumer Zeit schafft neues Wachstum kaum noch neue Beschäftigung. Die digitale Automatisierung führt dazu, dass in der Krise verlorene Arbeitsplätze nicht durch neue ersetzt werden. Die postindustriellen Ökonomien haben immer weniger Verwendung für ungelernte Arbeit. Immer mehr Menschen können in den regulierten und sozial abgesicherten Arbeitsmärkten keinen Fuß mehr fassen, und jobben sich durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Dieses ökonomisch abgehängte und kulturell geächtete Prekariat leidet besonders unter den sozialen Folgen der Armut wie Fehlernährung, Drogenabhängigkeit, häuslicher Gewalt und Gewaltkriminalität. Aber auch die Löhne der Mittelschichten stehen unter Druck. Immer weiter frisst sich die Angst vor dem sozialen Abstieg durch die Gesellschaft. An der Spitze nimmt die Konzentration von Vermögen und Macht immer weiter zu. Am unteren Ende fallen immer mehr Menschen ins Prekariat. In Deutschland ist die soziale Ungleichheit so groß wie seit 100 Jahren nicht mehr14.
Bis tief ins bürgerliche Lager hinein sind daher politische Entscheider bereit, die Selbstreinigungskräfte des Marktes zugunsten des Beschäftigungserhalts zu suspendieren. Aus ideologischen Gründen misstrauen die Ordoliberalen jedoch der direkten Intervention des Staates in den Markt. Die Rolle des Retters in der Not fällt daher den Zentralbanken zu.
Als in der Finanzkrise 2008 der Infarkt im Herzen des globalen Kapitalismus drohte, begannen die Banken Geld zu drucken. Was ursprünglich als kurzfristige Rettungsmaßnahme gedacht war, hält bis heute an. Um den Bankrott gesunder Unternehmen zu verhindern und die wirtschaftliche Erholung zu ermöglichen, fluteten die Zentralbanken die Märkte in der Coronakrise 2020 wieder mit Liquidität.
Was geschieht mit dem billigen Geld? An die Unternehmen kann es nicht weitergegeben werden, weil sich Schuldner mit schlechter Bonität nicht für Kredite qualifizieren. Und die Lektion der Subprime-Krise ist, es mit leichten Konsumentenkrediten nicht zu übertreiben. Also geben die Banken das billige Geld nicht weiter an die Realwirtschaft, sondern spekulieren damit in den Casinos der Finanzmärkte.
Weil es kaum produktivitätsgetriebenes Wachstum gibt, bleibt Pensionskassen, Kleinanlegern und Investmentfonds kaum etwas anderes übrig, als in Vermögenswerte wie Immobilien, Aktien, Kunst oder Gold zu investieren. Ohne attraktive Anlagemöglichkeiten in der Realwirtschaft zirkulieren heute Beträge in Billionenhöhe um den Erdball. Besonders schädlich ist dieses Spekulationskapital auf den Immobilienmärkten. Stagnierende Löhne und explodierende Mieten nehmen Geld aus den Taschen der Konsumenten. Der Hamburger Wirtschaftssoziologe Aaron Sahr sieht in dieser Vermögenspreisinflation die eigentliche Ursache der rasant wachsenden sozialen Ungleichheit. Steigen die Vermögenswerte, profitieren nur die sehr wenigen, denen sie gehören, während die große Mehrheit von steigenden Mieten und Immobilienpreisen aus den attraktiven Wohnlagen verdrängt wird. Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer.
Der Zombiekapitalismus verbindet das Schlechteste aus beiden Welten: Zocker befeuern mit Unmengen billigen Geldes die soziale Ungleichheit, während es Haushalten an Einkommen fehlt, um zu konsumieren. Genau hier liegt der Grund, warum sich die Wirtschaft trotz der lockeren Geldpolitik nicht erholt und die Bürger Europas unter hohen Mieten und Arbeitslosigkeit leiden. Das zur Rettung des Kapitalismus gedruckte Geld verschärft die Nachfragekrise, an der die Realwirtschaft krankt.
Gibt es einen Ausweg aus dem Zombiekapitalismus aus wilder Spekulation, platzenden Blasen, teuren Rettungsaktionen und innovationsschwacher Wirtschaft? Die Ordoliberalen hoffen auf die Selbstreinigungskräfte des freien Marktes. In einer gesunden Volkswirtschaft könnte das Platzen von Blasen tatsächlich heilsame Wirkung entfalten. Schwache Unternehmen scheiden aus dem Markt aus, überschüssiges Kapital wird vernichtet, die gesunden Unternehmen werden profitabler, ein neuer Wachstumszyklus kann beginnen.
Doch in einer politischen Ökonomie, in der acht Milliardäre mehr besitzen als die Hälfte der Menschheit, operieren die Märkte nicht nach wirtschaftlichen, sondern nach politischen Kriterien. Wenn die Einkommen der multinationalen Konzerne größer sind als die Nationaleinkommen von 85 Prozent der Staaten, wird die staatliche Regulierung des globalen Finanzkapitalismus zur Illusion. In einer derartig vermachteten politischen Ökonomie ist es nahezu unmöglich, die Bildung immer neuer Spekulationsblasen zu verhindern. Es ist also kein Zufall, dass der Kapitalismus in immer kürzeren Abständen von Finanzkrisen erschüttert wird.
Warum aber ist dann die soziale Struktur der neoliberalen Gesellschaft so stabil? Wären sie wirklich die einzigen Gewinner, könnten die Multimilliardäre auf sich alleine gestellt den Verteilungsschlüssel wohl kaum aufrechterhalten. Und tatsächlich haben die Kapitaleliten Verbündete, die von der aktuellen Situation profitieren: Es sind die funktionalen Mittelschichten, die den Status quo absichern. In den Informations- und Wissensökonomien wächst die Rolle der kreativen und akademischen Klassen. Materiell profitieren nicht alle Kreativen und Akademiker von der neoliberalen Suspendierung der Verteilungsfrage. Ganz im Gegenteil: Immer mehr Wissenschaftler, Journalisten, Künstler oder Freelancer leben in materiell prekären Verhältnissen. Dank ihres hohen kulturellen Kapitals (Pierre Bourdieu) erfahren die funktionalen Mittelschichten dennoch Anerkennung als Mitglieder der »guten Gesellschaft«.
Die Allianz mit den funktionalen Mittelschichten hat den inoffiziellen neoliberalen Gesellschaftsvertrag zumindest zeitweise verändert. Stand zu Beginn noch die autoritäre Durchsetzung der Kapitalinteressen im Vordergrund, werden im progressiven Neoliberalismus die kulturellen Forderungen der kosmopolitischen15 Bündnispartner berücksichtigt. Der Preis für die Ausblendung materieller Verteilungsfragen ist die kulturelle Anerkennung bisher marginalisierter Gruppen. Auf der Ebene der symbolischen Anerkennung haben daher die Kämpfe um die Gleichberechtigung von Frauen beziehungsweise die Inklusion der sexuellen, ethnischen und religiösen Minderheiten Fortschritte erzielt. An der wirtschaftlichen Benachteiligung dieser Gruppen hat sich allerdings, mit Ausnahme der LGBTQ-Gemeinschaft, wenig geändert. Ob diese kulturellen Fortschritte die harten Verteilungskämpfe um die Kosten der Coronakrise überdauern werden, ist offen. Denn unter dem rechtspopulistischen Banner steht mit den alten Mittelklassen bereits ein alternativer Bündnispartner für einen autoritären Neoliberalismus bereit. Wie sich in Polen und Ungarn zeigt, wären in dieser Konstellation die emanzipatorischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte gefährdet.
Kapitel 7
Wer zahlt die Zeche für die Krise?
Die Coronakrise hat in Europa eine Rezession ausgelöst. Die deutsche Wirtschaft wuchs zwar im Sommer wieder kräftig, die darauffolgende Verschärfung der Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens belastete die Konjunktur aber erneut. Im Süden Europas waren die wirtschaftlichen Folgen verheerender. Die Hoffnungen, das Wachstum werde nach einem kurzen, scharfen Einbruch schnell zurückkehren (V-Verlauf), sind in Südeuropa mittlerweile zerstoben. Nun muss alles darangesetzt werden, eine jahrzehntelange Phase säkularer Stagnation mit unkalkulierbaren Folgen für die Demokratie und den sozialen Frieden zu verhindern.
Über das Management der unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise bestand noch ein breiter Konsens. Die global vernetzten Märkte des Finanzkapitalismus gleichen einem Kartenhaus. Bricht es an einer Stelle ein, laufen die Schockwellen durch alle Systeme und können ganze Volkswirtschaften in den Ruin treiben. Aus der Großen Depression der 1930er-Jahre, aber auch aus dem Kollaps der Lehman Brothers Investmentbank 2008 haben wir gelernt, dass die Selbstreinigungskräfte des Marktes nicht ausreichen, um mit einer Schuldenwelle fertig zu werden, die Banken, Pensionskassen und Unternehmen in den Abgrund reißt. Kurzfristig gibt es also tatsächlich kaum eine andere Lösung, als diese Schulden in die Rechnungsbücher der Staaten zu überschreiben16.
Doch wie geht es weiter, wenn die unmittelbare Krise überwunden ist, die Volkswirtschaften aber weiter im Loch aus Niedrigzinsen, Investitionsstau und Konsumschwäche hängen? Wie das gelingen kann und welche Rolle die Geld- und Finanzpolitik dabei spielen sollten, ist umstritten. Sollte der Staat auch mittelfristig die Nachfrage stärken? Darf die Europäische Zentralbank (EZB) weiter Anleihen kaufen?
Die staatlichen Rettungspakete für die Realwirtschaften waren teuer. Allein das deutsche Konjunkturpaket kostete etwa 130 Milliarden Euro; zählt man die zusätzlichen Ausgaben, Hilfen und Stundungen hinzu, die den Haushalt belasten, liegt die Summe mehr als doppelt so hoch17. Der Einbruch der Wirtschaftstätigkeit dürfte zudem erhebliche Steuerausfälle zur Folge haben. Die Übernahme der Schulden des Privatsektors erhöht den Verschuldungsstand mancher europäischer Staaten um bis zu 20 Prozent ihres Bruttoinlandproduktes. Die Eurokrise lehrt uns, dass diese Schulden langfristig nicht in den Büchern der Staaten bleiben dürfen, ohne eine Staatsschuldenkrise zu verursachen.
Wie aber können die Staaten ihre Finanzen konsolidieren? Wer zahlt die astronomischen Kosten der Rettungsschirme? Werden die Multimilliardäre, die kräftig von der Krise profitiert haben, mit einer Vermögenssteuer in die Verantwortung genommen? Konsolidieren die Staaten ihre Finanzen über weitere Anleihekäufe der Zentralbanken? Oder werden die Kosten wieder über harte Sparprogramme der Bevölkerung abverlangt? Mit anderen Worten: Wer zahlt die Zeche für die Krisen?
Wenn es nach dem Willen der Ordoliberalen geht, sollen die Staatsschulden wieder über Austerität abgetragen werden – dieses Mal auch in Deutschland, das bisher im Gegensatz zu Großbritannien oder Südeuropa von harten Sparprogrammen verschont geblieben ist. Statt mit Investitionen die am Boden liegende Wirtschaft aufzupäppeln, soll der Staat also sparen. Italien oder Griechenland leiden noch immer unter den Folgen der Austeritätsprogramme, die dem Wirtschaftskreislauf die dringend benötigte Nachfrage entziehen. Springt das Wachstum nicht wieder an, hat das zudem den perversen Effekt, dass die Schuldenquote trotz der harten Sparprogramme immer weiter ansteigt. Im eisernen Käfig der Austerität können sich die Volkswirtschaften Südeuropas nicht erholen. Mit ihrer Dauerkrise gefährden sie die gesamte Eurozone.
Gesamtwirtschaftlich ist das im Amerikanischen als starving the beast bekannte Aushungern des Wohlfahrtstaates also fatal. Der von einer Rezession geschwächten Wirtschaft Kaufkraft zu entziehen macht in etwa so viel Sinn wie der mittelalterliche Aderlass schwerkranker Patienten. Heute weiß die moderne Medizin, dass diese Rosskuren viel schlimmer waren als die Krankheit, die sie zu heilen versprachen. Unter ordoliberalen Volkswirten setzt sich diese Erkenntnis aber erst langsam durch.
Dabei haben die ordoliberalen Gewissheiten ordentlich Schiffbruch erlitten. Der allwissende Markt musste bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts von den verachteten Staaten gerettet werden. Die Politik der einseitigen Entlastung der Angebotsseite hat die Produktivität nicht wie erhofft steigern können. Im Gegenteil, die ordoliberalen Zauberlehrlinge haben auch noch eine Nachfragekrise heraufbeschworen.
Auch der neoklassische Glaube an den freien Markt hat sich als Chimäre erwiesen. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz hat gezeigt, dass sich Märkte nicht auf ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage, Kapital und Arbeit einpendeln, weil zwischen den Marktteilnehmern riesige Macht- und Informationsunterschiede bestehen. Entgegen der Annahmen der Neoklassiker hat die übergroße Mehrheit der Marktteilnehmer keine Wahl, ob sie ihre Arbeitskraft verkaufen, wo sie Steuern zahlen und was sie konsumieren. Andere Marktteilnehmer sind dagegen so mächtig, dass sie Regierungen erpressen, Konkurrenten ausschalten und den Marktzugang versperren können. Die stärkeren Platzhirsche können das »freie Spiel der Marktkräfte« also jederzeit manipulieren oder gleich ganz aussetzen.
Die Monetaristen wiederum können nicht erklären, warum die befürchtete Inflation bislang ausbleibt, obwohl die Geldmenge seit Jahren aufgebläht wird. Ganz im Gegenteil zeigt sich, dass die lockere Geldpolitik der Zentralbanken nicht ausreicht, um die deflationären Tendenzen in den Griff zu bekommen, die wie ein Damoklesschwert über den westlichen Volkswirtschaften schweben. Die gigantischen Konjunkturpakete verschaffen den Realwirtschaften zwar kurzfristig eine Atempause. Doch so schnell wie der Hahn aufgedreht wurde, wird er meist nach dem Ende des Notstandes auch wieder zugedreht. Während Europas Dauermisere den Beweis erbringt, dass wirtschaftliche Erholung unter dem Diktat der Austerität nicht möglich ist, zeigt die jahrzehntelange Stagnation in Japan, dass Nullzinsen und Konjunkturprogramme bestenfalls die Deflation in Schach halten können, aber ohne weitere Maßnahmen nicht ausreichen, um eine Volkswirtschaft aus der Dauerkrise zu befreien.
Auch die neoliberale Ideologie, also der Vorrang der Marktinteressen über alle gesellschaftlichen Belange, ist entzaubert. Das neoliberale Versprechen, vom Wohlstandskuchen der Reichen werde für alle etwas abfallen (trickle down), ist nie in Erfüllung gegangen. Im Gegenteil: Die Unterdrückung der Löhne, die Steuergeschenke an die Reichen, das Zusammenstreichen der Sozialtransfers – all das vertieft die Nachfragekrise weiter.
Quer durch die politischen Lager wachsen die Zweifel, ob es wirklich so klug war, die Bereitstellung öffentlicher Güter zu privatisieren. Der Gründer des Weltwirtschaftsforums in Davos, Klaus Schwab, hält den Neoliberalismus für gescheitert und fordert einen Neuanfang, der den Kapitalismus in ein von einem starken Staat garantiertes System von Regeln einbettet (Great Reset)18. Der französische Präsident verspricht, die Privatisierungen zurückzudrehen. Immer offener flirten selbst Mainstream-Ökonomen mit der modernen Geldtheorie (Modern Monetary Theory)19, die für Staaten mit souveräner Währung wesentlich höhere Schuldenstände zur Finanzierung öffentlicher Investitionen für vertretbar hält. Die Angst vor den Staatsschulden beginnt sich zu verflüchtigen.
Ist das Zeitalter der Austerität wirklich vorbei? Denjenigen, die nun das Ende des Neoliberalismus verkünden, sollte die Finanzkrise von 2008 als Warnung dienen. Auch damals wurden Rettungsschirme aufgespannt und die Wirtschaft mit gigantischen Konjunkturpaketen stimuliert. Die Konsolidierung der von diesen Mammutaufgaben zerrütteten Staatsfinanzen wurde aber nicht den mit dem Geld der Steuerzahler geretteten Banken in Rechnung gestellt, sondern über Austeritätsprogramme der Bevölkerungsmehrheit aufgebürdet, vor allem den Transferempfängern staatlicher Leistungen im unteren Drittel der Gesellschaft.
Mit anderen Worten, die Verluste wurden sozialisiert und die Gewinne privatisiert. Im Ergebnis wuchs die soziale Ungleichheit auf historische Höchststände, während die Konzentration von Macht und Ressourcen an der Spitze der Gesellschaft immer weiter zunimmt. Linke Theoretiker wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben oder die kanadische Aktivistin Naomi Klein sehen daher in der Politik des Ausnahmezustands keineswegs unbeabsichtigte Unfälle, sondern eine besonders perfide Art, den Katastrophenkapitalismus zu regieren.
Warum sind den Reichen und Mächtigen ausgeglichene Haushalte überhaupt wichtiger als nachhaltiges Wachstum und Vollbeschäftigung? Welches politökonomische Ziel steht hinter Steuerkürzungen und Schuldenbremse? Wer profitiert von dem Dogma, dass sich der demokratische Staat nicht in den Markt einmischen dürfe? Die Antwort liegt auf der Hand: Es sind die Großbanken und Großkonzerne, die nun ohne lästige Gemeinwohlbelange über die Geld-, Steuer- oder Handelspolitik entscheiden können. Ein Staat ohne nachhaltige Einkommensbasis ist abhängig von seinen Kreditgebern. Ein vom Finanzkapital abhängiger Staat kommt nicht auf die dumme Idee, die Finanzmärkte unter demokratische Kontrolle zu stellen. Stattdessen wird er Staatseigentum privatisieren, um Haushaltslöcher zu stopfen. Die Geschäftsbanken können ungestört weiter Geld schöpfen. Investmenthäuser mit diesem billigen Geld spekulieren. Explodierende Vermögenswerte machen die Superreichen noch reicher. Vor allem aber stärkt der Deflationsdruck die Gläubiger, darunter viele Banken, auf Kosten der Schuldner, in der Mehrheit Unternehmen und Haushalte.
Würde der Fiskus dagegen die Nachfrage ankurbeln, und damit den Zentralbanken dabei helfen, ihr Inflationsziel von 2 Prozent zu erreichen, würden sich die Kräfteverhältnisse in der politischen Ökonomie verschieben. Die Aussicht auf steigende Preise motiviert die Konsumenten, lieber heute zu konsumieren, als auf morgen zu warten. Die Aussicht auf Profite motiviert die Unternehmen, wieder zu investieren. Und eine angemessene Inflationsrate erleichtert es Unternehmen und Haushalten, ihre Kredite zurückzuzahlen. Springt die Konjunktur endlich an, können die Zentralbanken moderat die Zinsen erhöhen und so langsam die Schwemme billigen Geldes austrocknen. Unternehmer, Sparer, Mieter und Konsumenten würden profitieren. Die Verlierer wären die Finanzmarktakteure. Mit anderen Worten: Die »Schwarze Null« ist ein Konjunkturprogramm für die 1 Prozent auf Kosten der 99 Prozent.
Großbanken und Staaten sind Wettbewerber bei der Versorgung der Realwirtschaft mit Geld und Kredit. Halten harte Haushaltsregeln die Staaten davon ab, zu investieren, werden die Banken zur einzigen Quelle von Geld und Kredit. Wie groß die Machtposition ist, die aus dieser Monopolstellung erwächst, haben wir in der letzten Finanzkrise erlebt. Die Banken waren vermeintlich too big to fail, konnten also die Staaten erpressen, sie zu »retten«. In der Verteilungsfrage, wer die Kosten der gigantischen Rettungspakete zu tragen hatte, setzte sich wieder das Großkapital durch: Die Gewinne blieben bei den Kapitaleignern, die Kosten wurden an die Bevölkerung durchgereicht.
Sind die Großbanken und Großkonzerne so mächtig, dass sie das allein durchsetzen konnten? Nein, vom Status quo profitieren auch Millionen Rentiers. Denn dem Heer an Schuldnern stehen Gläubiger gegenüber, die ein Interesse an stabilen Zinszahlungen haben. Das Letzte, was diese Gläubiger gebrauchen können, ist eine hohe Inflationsrate, die es ihren Schuldnern erlauben würde, sich ihrer Schulden elegant zu entledigen. Und der beste Weg, die deflationären Tendenzen zu verstärken, sind Austeritätsprogramme, auch wenn diese wie in Südeuropa die Realwirtschaften über ein Jahrzehnt im Würgegriff halten20.

