Kriminalhauptkommissar Ronny Mittler

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„Fangen wir im Vereinslokal an, Lena? Das BOOTSHAUS öffnet um 10 Uhr. Ich habe es auf der Homepage gecheckt.“, erklärt Merle und steckt ihr Smartphone ein. „Danke. Ja gut. Beginnen wir dort. Ein Ausflug zum Hafen am morgen. Wie schön!“, grinst Lena. Sie steht auf, zieht ihre Jeansjacke an.
„Ich spreche bei der Visite mit Doktor Harr und frage, ob Thilo einen Knoten hinbekam. Schaut ihr nachmittags nochmal bei mir rein? Vielleicht hat Albert bis dahin ein Ergebnis, das uns voranbringt.“ „Machen wir. Falls was dazwischen kommt, rufen wir an. Brauchst du was? Sollen wir etwas mitbringen?“ „Nein. Alles gut.“ „Okay. Bis dann.“ „Viel Erfolg bei der Ermittlung.“ „Danke. Tschüss Ronny. Bis später.“ Sie gehen.
„Moment bitte! Kommt nochmal rein!“, ruft Mittler ihnen nach. „Was ist?“, fragt Merle. „Ich werde alt oder es liegt an den Medikamenten. Ich vergaß, zu fragen, ob ihr den rechten Hausschuh des Verstorbenen gefunden habt?“ Die Kommissarinnen sehen sich überrascht an. „Im Augenblick bin ich überfragt ....“, gesteht Lena. „Ich dito.“, schließt Merle sich schulterzuckend an.
Mittler erklärt: „Während ich in der Nacht den Leichnam betrachtete, bemerkte ich, dass an seinem rechten Fuß kein Pantoffel war. Der Fuß war nackt. Am Linken war ein karierter Hausschuh. Schwarze und weiße Quadrate hatte der. Wie ein Schachbrett, versteht ihr? Wo ist er? Lag er auf dem Grund des Treppenschachts? Im Treppenhaus vielleicht?“ „Davon weiß ich nichts, Ronny. Was ist mit dir Merle?“ „Nein. Keine Ahnung. Ich höre zum ersten Mal davon.“
Lena erklärt: „Wo wir eintrafen, war der Tote bereits geborgen. Albert Meyer veranlasste es. Er war vor uns am Ort des Geschehens. Der Tote war schon im Leichensack, bereit zum Abtransport in die Rechtsmedizin. Wie der Verstorbene aufgefunden wurde, sahen wir auf dem Kameradisplay eines Kollegen der Gerichtsmedizin. Dass ein Hausschuh fehlte, bemerkten wir nicht.“
„Dann los! Geht ins Zimmer des Toten. Seht nach, ob ihr den Pantoffel findet. Wenn nicht, fragt im Haus, ob ihn jemand fand. Putzfrauen. Hausmeister. Schwestern. Pfleger. Jeden, der in Frage kommt. Ich will wissen, wo der Latschen ist.“ „Puh! 6 Stockwerke. 41000 Quadratmeter Nutzfläche. 814 Betten.“, stöhnt Merle. „Damit sind wir den restlichen Tag beschäftigt. Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand wegen dem Hauslatschen?“ „Nein, ist es nicht! Es kommt vor, dass Kriminelle Trophäen ihrer Taten sammeln. Psychisch Gestörte vor allem.“ „Entschuldigung. Das habe ich nicht bedacht. Du hast recht! Tut mir leid.“ „Noch was! Erkundigt euch nach Überwachungskameras. Lasst euch die Aufnahmen aushändigen.“
Später erhält Mittler eine Textnachricht auf sein Smartphone: Pantoffel im Zimmer gefunden. Fotos anbei. Hausmeister hat uns eine DVD mit Film der Überwachungskamera gebrannt. Sind unterwegs zum BOOTSHAUS. Merle & Lena.
Visite.
„Moin Herr Mittler.“, grüßt Doktor Harr. Er macht einen übernächtigten Eindruck. Unter den Augen des Mediziners zeigen sich dunkle Ränder. Oberschwester Ulrike Kill folgt ihm auf dem Fuße. Sie schiebt einen Rollwagen ins Zimmer. Der enthält Akten aller Patienten der Privatstation. Einen Ordner sucht sie heraus, legt ihn auf den Wagen. Im Anschluss widmet sie sich Mittler. „Moin“ nuschelt sie kurz angebunden. Mehr bringt Perle nicht über die Lippen. Sie schüttelt das Kopfkissen auf. Professionell erledigt sie ihre Aufgaben, wuselt geschäftig umher.
„Wie ist heute ihr Befinden?“, erkundigt sich Dr. Harr. „Danke der Nachfrage, ich fühle mich besser.“ „Schön. Schön. Das freut mich. Wie gesagt.“
Er greift die Patientenakte. Blättert. Liest. Tippt mehrmals auf ein Blatt und sagt: „Nachtschwester Friederike protokollierte Schwindel. Sie nennt einen Schwächeanfall aus Überanstrengung als Grund. Was war da los?“ „Das ist richtig. Bei der Inaugenscheinnahme des verstorbenen Herrn van der Leuwen wurde mir schwindlig.“ „Ah ja. Ich entsinne mich. Friederike erwähnte es. Sie bat sie um Rat, nicht wahr? Als anwesenden Experten sozusagen.“ „So war es. Beim Betrachten des Verstorbenen schwächelte ich dann.“ „Verständlich. Ungewöhnliche Situation, der sie ausgesetzt waren.“
Mittler zuckt mit den Schultern, sagt: „Nicht wirklich.“ „Sie sind bei der Mordkommission, richtig?“ „Das trifft zu. Ich bin KHK.“ „Diese Abkürzung steht vermutlich nicht für Koronare Herzerkrankung?“, scherzt Professor Harr. „Nein!“, lacht Mittler. „Kriminalhauptkommissar.“ „Ah ja! Schön, schön. ... Ergo ist der Anblick Verstorbener für sie, ... wie drücke ich es aus ... professioneller Alltag und dergleichen?“ „In der Tat kann man es so bezeichnen.“
„Sie bekommen des Öftern Unappetitliches vor Augen?“ „Das ist unumgänglich.“ „Zu diesem Beruf ist vermutlich nicht jeder geeignet.“ „Sie sagen es, Doktor Harr. Ein Mordermittler muss psychisch topfit sein und Charakterstärke besitzen. Ein belastbarer Magen ist ebenso von Vorteil.“ „Der Anblick eines Verstorbenen ist für sie Routine, nehme ich an, Herr Kommissar?“ „Wie sie sagen. Es gehört zum Arbeitsalltag eines Mordermittlers.“
Oberschwester Kills Tätigkeiten sind beendet. Sie bezieht Position neben Professor Harr. Fachlich erweckt sie einen kompetenten Eindruck. Ansonsten zeigt Ulrike nicht die Herzlichkeit, die Frauen ihrer Berufsgruppe auszeichnet. Ihr Gesicht ist schwer zu lesen, stellt der Kriminalhauptkommissar fest. Nicht die geringste Gefühlsregung ist erkennbar. Die braunen Knopfaugen sind ausdruckslos geradeaus gerichtet. Perle erweckt den Anschein ins Leere zu stieren. Dessen ungeachtet sind ihre Sinne scharf gestellt. Nichts entgeht ihr.
„Darf ich eine Frage an sie richten, Herr Professor?“, erkundigt sich Ronny Mittler. „Bitte gerne. Womit kann ich dienen?“ „Der verstorbene Thilo van der Leuwen trug wegen Fraktur des Handgelenks Gips am rechten Arm.“ „Das ist richtig.“ „War er trotz des Handicaps in der Lage, einen Knoten zu binden?“ „Einen Knoten? Wie kommen sie darauf?“ Der Professor zeigt sich überrascht. „Konnte er?“, fragt Mittler nach. „Selbstverständlich. Das ginge zwar nicht flott wie gewohnt, dennoch ist es möglich.“
Doktor Harr wendet sich an Oberschwester Kill. „Ulrike, was sagen sie? War Thilo mit Gips in der Lage Knoten zu binden?“ „Herr van der Leuwen war motorisch eingeschränkt, aber dass schaffte er.“ Ulrikes raue Stimme dröhnt, dennoch bewegen sich ihre Lippen beim Sprechen nur minimal.
„War der Patient depressiv?“ Mittler stellt die Frage in den Raum, schaut beide an. In Schwester Kills Gesicht erkennt er keine Regung. Sie schweigt. Harr ringt um Antwort.
„Herr Hauptkommissar, ich bin unsicher, ob ich zu Auskunft verpflichtet bin. Datenschutz. Patientenschutz. Ärztliche Schweigepflicht und dergleichen. Sie verstehen? Heutzutage wird man schneller verklagt, wie man seinen Namen ausspricht. Sie wissen, wie es heißt: Ist der Ruf erst ruiniert .... Wie gesagt.“
„Ich möchte sie einen Moment unter vier Augen sprechen.“, bittet der Kriminalhauptkommissar. „Ist das möglich?“ Oberschwester Kill zeigt eine menschliche Reaktion. Die Knopfaugen weiten sich, ihre Kinnlade klappt herunter. Der Mund formt ein „O“. „Ulrike, sind sie so freundlich?“ Ihr Chef weist mit einer Hand Richtung Tür. Schwester Kill dreht auf dem Absatz um, stampft aus dem Zimmer. „She is not amused!“, kommentiert Harr ihren Abgang.
„Herr Professor, ich glaube nicht, dass Thilo van der Leuwen Suizid beging.“ „Wie bitte? Im Ernst?“ Der Doktor reist die Augen auf. „Sie vermuten, ... er ... wurde ...?“ „Ich gehe von Mord aus!“ „Ach du Scheiße!“, reagiert der Arzt sehr menschlich. „Darf ich?“ Er zeigt auf einen Stuhl neben Mittlers Bett. „Bitte nehmen sie Platz.“ „Entschuldigen sie meine Wortwahl. Zugegebenermaßen überrascht mich ihre These. Sie erwischen mich sozusagen auf dem falschen Fuß. Sagt man das so?“ Er ist sichtbar erschüttert, pustet kräftig durch und fragt: „Was veranlasst sie zu dieser Annahme?“
„Doktor Harr, ich bitte um Verständnis. Beim derzeitigen Ermittlungsstand benenne ich keine Einzelheiten. Wir verfolgen verschiedene Hinweise. Es gibt Indizien. Nochmals meine Frage. War Thilo depressiv? Zeigte er psychische Auffälligkeiten?“
„Nein. Ich kenne den Jungen, seit er auf die Welt kam. Hätte er seelische Probleme, wüsste ich das. Da bin ich sicher. Seine Eltern wären auf mich zugekommen, um Rat zu suchen. Thilos Vater Volkmar und ich sind Freunde. Es besteht ein Vertrauensverhältnis zwischen uns. Ich bin Gründungsmitglied des Yacht & Segelsportvereins, wie die van der Leuwens. Wir sehen uns regelmäßig.“
„Was wissen sie darüber, wie Thilo sich das Handgelenk brach?“ „Eine harmlose Geschichte. Ein Zank unter jungen Burschen. Wie er alle nasenlang vorkommt. Nicht der Rede wert.“ „Harmlos? Finden sie? Ein Mensch wird verletzt, landet mit Armbruch im Krankenhaus. Ohne Übertreibung ist der Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, betrachtet man es von rechtlicher Seite, Herr Harr.“
„Schön. Schön. Sie haben recht. Ein Krankenhausaufenthalt war im Grunde nicht notwendig. Er hätte nach Röntgen und Eingipsen nach Hause entlassen werden können.“ „Warum blieb er?“ „Volkmar und Griselda bestanden darauf. Sie wünschten, dass ich den Heilungsprozess persönlich begleite.“ „Aus welchem Grund?“ „Wie gesagt. Sie baten darum.“
„Ihre Antwort reicht mir nicht. Wenn die Verletzung eine Banalität darstellte, frage ich mich, warum die Eltern diese Bitte an sie richteten.“ „Sie wünschten, dass ihr Sohn zu einhundert Prozent wieder hergestellt wird. Das er sich erholt. Im Krankenhaus sei er unter Kontrolle, meinte Volkmar. Zu Hause ist der Junge doch nur auf Achse. Das sagte er wörtlich.“
„Sie wollten ihn unter Aufsicht wissen? Weshalb?“ „Sie befürchteten, ihr Filius nähme die Blessur auf die leichte Schulter. Thilo ist aussichtsreicher Kandidat für das Olympiateam der Segler. Eine schwerwiegende Verletzung oder gar Behinderung käme äußerst ungelegen.“
„Verständlich. Zum Leben eines Spitzensportlers gehören Selbstdisziplin, hartes Training, Verzicht und Durchhaltevermögen. Der Wille, sich für den Erfolg zu quälen, muss vorhanden sein. Stimmen sie zu?“ „Das ist richtig, Herr Mittler.“ „Mangelte es Thilo an der nötigen Disziplin?“ „Ich fürchte, der Junge war irdischen Freuden mehr zugetan, wie eisernem Training.“ „Genauer?“
Professor Harr windet sich auf dem Stuhl. Man sieht, wie unangenehm es ihm ist, Auskunft zu erteilen. „Thilo war Partygänger. Ständig auf Achse. Feiern stand bei ihm hoch im Kurs. Wein, Weib und Gesang und dergleichen. Er nahm das Leben leicht. Übernahm nicht die notwendige Verantwortung. Dem Alkohol entsagte er nicht, wie man es von einem Sportler erwartet.“
„Wie kam es zum Bruch des Handgelenks? Spielte Trunkenheit eine Rolle?“ „Details sind mir alleinig vom Hörensagen bekannt. Ich war kein Augenzeuge der Auseinandersetzung.“ „Ich bin mit allem zufrieden, was sie wissen. Erzählen sie, Herr Doktor. Wurde getrunken?“ „Alkohol war sicher im Spiel. Davon ist auszugehen. Sitzt Thilo samstagabends mit Freunden im BOOTSHAUS, trinken sie. Vorglühen nennen die jungen Leute es heutzutage. Für den nachfolgenden Clubbesuch.“
„Kam es innerhalb der Gruppe zu einer Auseinandersetzung?“ „Nein. Soweit ich informiert bin, drehte es sich bei dem Streit um Carola. Sie kellnert aushilfsweise im BOOTSHAUS. Verdient sich was dazu. Nettes Mädchen. 19 Jahre alt.“
„Sie war der Grund der Auseinandersetzung? Wie kam das?“ „Thilo verhielt sich ihr gegenüber, ... wie drücke ich es aus ...? Er benahm sich nicht wie ein Gentleman.“ „Was deuten sie an? Genauer bitte.“
Stockend berichtet Doktor Harr: „Er berührte Carola. ... In unangemessener Weise. ... Am Gesäß. ... Zwang sie, ... sich auf seinen Schoß zu setzen, ... dergleichen.“ „Er begrapschte sie gegen ihren Willen?“ „Ja. Soweit mir bekannt ist.“ „Nötigung und sexuelle Belästigung also. Was weiter? Wie kommt der andere Teilnehmer der Streitigkeit ins Spiel? Wie heißt er? Was macht er?“
„Dennis Jakobs. Auch ein Segler. Er ist Carolas Freund. Ihr Verlobter, wenn ich nicht irre.“ „Wie alt ist er?“ „Das weiß ich nicht. Mitte zwanzig vielleicht.“ „Was ist er von Beruf?“
Professor Doktor Harr legt die Stirn in Falten. „Einen Moment bitte. ... Kurz nachdenken. ... Er arbeitet bei der Stadtverwaltung. Welche Position er begleitet, ist mir unbekannt. Ich kenne nicht jedes Vereinsmitglied persönlich. Zu den jungen Leuten pflege ich kaum Kontakt. Allenfalls sehe ich sie bei Vereinsfeiern. Hin und wieder sonntags beim Tee trinken im BOOTSHAUS. Diesbezüglich bin ich außerstande weiterzuhelfen, Herr Mittler.“ Er erhebt sich. „War es das? Haben sie noch Fragen? Ich muss los, Visite, sie verstehen?“
„Falls ich weitere Auskünfte benötige, weiß ich ja, wo ich sie finde. Danke für ihre Zeit Professor Harr.“
Im BOOTSHAUS.
Lena öffnet die Tür des Lokals, tritt ein und geht zur Theke. „Moinchen.“, grüßt eine Frau hinter dem Tresen. Unverblümt mustert sie den frühen Gast vom Scheitel bis zur Sohle. „Was weht mir der raue Nordseewind denn da Hübsches in die Hütte?“ In ihrem Mundwinkel klemmt eine Zigarette, die beim Sprechen wippt. Sie nimmt den Glimmstängel raus, löscht ihn im Spülwasser, wirft den Stummel in einen Mülleimer. „Dämliches Rauchverbot. Gilt auch für mich. Ab und zu ziehe ich mal eine durch, wenn keine Gäste da sind. Aber nun bist du ja reingeschneit, Schätzchen. Was darf ich für dich tun? Käffchen? Tee? Erotische Massage?“ Sie lacht, als sei es ein Scherz, trotzdem entsteht bei Lena der Eindruck, das Angebot sei Ernst gemeint.
„In der Reihenfolge wäre schön!“, spielt sie den Flirt mit und setzt sich auf einen Barhocker. „Hoppla. Jetzt wird´s interessant!“ Die Bedienung lehnt sich auf die Theke, schaut ihrem Gast tief in die Augen. „Scheint doch kein schlechter Tag zu werden, wie ich beim Aufstehen dachte. Fangen wir mit dem Käffchen an?“ „Gerne.“, antwortet Lena mit brüchiger Stimme. Sie räuspert sich. „Frosch im Hals?“, erkundigt sich die attraktive Frau gutgelaunt. „Lieber einen Kräutertee?“ „Nein. Alles gut!“, flunkert die Oberkommissarin und ärgert sich insgeheim, das es ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlug.
Die dunkelblonde Bedienung steht mit dem Rücken zu Lena, derweil sie die Kaffeemaschine mit Wasser befüllt. „Dauert einen Moment. Ich muss die Maschinerie erst in Gang bringen.“, erklärt sie. Sie hat eine sportliche Figur. Ihr Haar trägt sie lang bis zu den Hüften. Hübsch, denkt Lena, gefällt mir. Ihr Herz klopft schneller, wie normal.
Die Tür zum Gastraum wird geöffnet. Merle Jörgisdottir tritt ein. „Moin.“, grüßt sie. „Auch ein fröhliches Moinchen!“, trällert die Bedienung und wendet sich ihrem neuen Gast zu. „Hallihallo! Hab ich ein Glück!“, raunt sie anerkennend. „Hat eine Fähre mit Schönheitsköniginnen angelegt, oder was geht ab?“, scherzt sie.
„Kein Parkplatz zu finden!“, erklärt Merle und knallt den Autoschlüssel auf den Tresen. „Norddeich ist rappelvoll mit Touris.“, nörgelt sie. „Den Wagen habe ich notgedrungen direkt vors Lokal gestellt und das Blaulicht aufs Dach gepackt. Wenn einer nicht dran vorbeikommt, muss er sich melden.“
„Blaulicht? Hab ich was mit den Öhrchen oder hast du das wirklich gesagt?“, fragt die Wirtin. „Kommissarin Jörgisdottir. Kriminalpolizei.“, stellt sich Merle vor. Sie hält ihr den Dienstausweis vor die Nase, zeigt auf Lena und sagt: „Meine Vorgesetzte. Oberkommissarin Schösteen.“
„Vorname Lena.“, fügt diese apart lächelnd hinzu. Die Wirtin wendet sich ihr zu und raunt: „Lena heißt das schöne Kind. Nett! ... Sehr nett!“ Der Angesprochenen rieseln angenehme Schauer den Rücken hinunter. An ihren Armen stellen sich Härchen auf.
„Und sie sind wer?“, fragt Merle diensteifrig. „Wer ich bin? Das werde ich dir sagen.“ Zur Überraschung der Polizistinnen beginnt die Gefragte zu singen: „Ich bin die fesche Lola, der Liebling der Saison, ich hab ein Pianola, daheim in mein´ Salon. Ich bin die fesche Lola, mich liebt ein jeder Mann, doch an mein Pianola, da lass ich keinen ran.“
Sie streckt Merle die Hand zum Gruß hin. „Dreimal darfst du raten, wie ich heiße. Ein Tipp: Rumpelstilzchen ist es nicht!“ Sie lacht sympathisch. „Nur ein Späßchen. Lola nennt man mich. Lolita Andersen lautet der Name, der im Perso steht. Inhaberin dieser Gaststätte. Geboren in Hamburg. 1,70 m. Augenfarbe grün. Naturblond. 31 Lenze. Schuhgröße 39. BH Doppel D. Lesbisch. Alleinstehend. Was habe ich verbrochen Kommissarin?“
„Wegen Falschsingen werde ich sie jedenfalls nicht verhaften!“, verkündet Merle amüsiert. „Respekt! Das war klasse! Sind sie Sängerin?“ „Danke für die Blümchen, Schätzchen. Schön wär´s. Nee, ich bin nur eine Bardame, die gerne singt.“
„Frau Andersen ...“ „Nenn mich Lola.“ „Na gut. ... Frau Lola, ... was können sie ...“ „Also bitte!“, unterbricht die Wirtin Merle. „Was bist du denn für eine? So steif? So förmlich? Wir sind doch unter uns, Goldstück. Sag du zu mir!“ „Okay. ... Du. ... Ja. ... Ist gut.“, stammelt Merle verdattert. „Wie wär´s mit einem Käffchen zum Auflockern?“, fragt Lola. „Was?“ „Tass Kaff? Braun. Heiß. Leckerschmecker! Kennste?“ „Äh. Ja. .... Gerne.“
Es ist ein selten vorkommender Umstand, Merle verwirrt zu sehen. Für gewöhnlich ist sie für Witze, Sprüche und Alberei zuständig. Entsprechend rar gesät sind Momente, wo sie jemand aus dem Konzept bringt.
Sie setzt sich auf den Barhocker neben Lena. Die kichert, hält sich eine Hand vor den Mund.
„Was denn?“, flüstert Merle und stößt ihre Kollegin in die Seite. Die wispert sich lustig machend: „So steif? So förmlich? Goldstück?“ Sie kriegt sich kaum ein vor Vergnügen. „Ach du bist blöd!“, grinst Merle.
Lola stellt zwei dampfende Kaffeetassen auf die Theke. „Keks dazu?“ „Nein danke.“, antwortet Merle. „Ich hätte gerne einen.“, meldet Lena Bedarf an. „Was Süßes für die Süße.“, schäkert Lolita. „Bitteschön.“
Sie legt ein Gebäckstück auf die Untertasse und sagt: „Jetzt raus mit der Sprache. Was wollt ihr von Lola. Hab ich falsch geparkt? Oder sucht ihr jemanden der im Stadtpark die Bürger belästigt? Ich nehm den Job!“ Die Polizistinnen brechen in Gelächter aus. „Bedauerlicherweise ist die Stelle schon besetzt.“, antwortet Lena. „Na sie mal eine kuck! Humor hast du auch, Herzblatt! Das wird ja immer besser!“, freut sich Lola.
„Der Grund, aus dem wir hier sind, ist leider unerfreulich.“, erklärt Merle. „Au. Das klingt unschön.“ „Sie kennen, ... äh, du kennst Thilo van der Leuwen?“ „Klar! Und ob! Was hat die Knalltüte angestellt?“ „Er ist tot!“ „Was?“ Lolas Gesichtszüge frieren ein. Sie muss sich am Tresen festhalten. „Er wurde vergangene Nacht tot aufgefunden.“ „Der lag doch im Krankenhaus!“
Lola ist bitterernst. Die Fröhlichkeit mit der sie sich präsentierte, ist verschwunden. Man sieht ihr die Bestürzung an. Sie zieht einen Hocker unter der Theke hervor, setzt sich.
„Wollt ihr einen Schnaps?“ Die Kommissarinnen verneinen. „Also auf den Schreck brauche ich einen.“, ächzt Lola. Sie gießt Weizenkorn in ein Schnapsglas, kippt ihn runter. „Die armen Eltern ...!“, flüstert sie. „Wie kam er um? Autounfall? Er fuhr immer wie eine gesenkte Sau. Mehr als einmal hab ich gesagt, dass ihn das mal Kopf und Kragen kostet. Stell dir vor, du fährst ein Kind tot, da wirst du deines Lebens nicht mehr froh, sagte ich zu ihm. Die sind längst im Bett, wenn ich rase! Das war seine dämliche Antwort! So ein Schwachmat!“
„Es war kein Autounfall. Er wurde erhängt aufgefunden.“ „Was? ... Selbstmord? ... Thilo?“ Lola zeigt sich wie vom Schlag getroffen, gleichfalls überzeugt. „Der doch nicht! Niemals!“ „Wie meinst du das? Du scheinst deiner Sache sicher zu sein?“, beurteilt Lena die Reaktion der Gastwirtin. „So einer bringt sich doch nicht um! Der Junge ist der größte Narzisst, den ich im Leben zu Gesicht bekam! Das ist ein dermaßen selbstverliebter Arsch! Am Liebsten hätte er einen Butler eingestellt, der mit einem Spiegel vor ihm herrennt.“ „Thilo war ichbezogen, findest du?“ „Haha!“, lacht sie zynisch. „Das wär untertrieben. Er ist ein Angeber! Ein Großmaul! Ein Gernegroß durch und durch!“
„Ein Gutaussehender noch dazu!“, merkt Merle an. „Zugegeben, er sieht heiß aus, ... für einen Kerl ... falls frau auf sowas abfährt. Vielleicht schaut sie dann blauäugig über seinen Narzissmus hinweg.“ Sie hält inne, überlegt einen Augenblick. „Mein Typ ist er nicht. Nicht als Mensch ... und erst recht nicht als Sexualpartner. Da habe ich einen vollkommen anderen Geschmack! Sagte doch, ich steh auf Frauen.“ Bei den letzten Worten schaut sie Lena tief in die Augen. Die Oberkommissarin läuft knallrot an, unterdessen die Wirtin weiterspricht.
„Thilo ist tot! Nicht zu fassen! Und ich rede, wie wenn er noch da wär.“ Lola schüttelt fassungslos den Kopf. Sie schüttet Wasser in ein Glas und trinkt. Urplötzlich hält sie inne und fragt: „Was seid ihr eigentlich für Polizistinnen? Von der Kripo, sagtest du? Welche Abteilung?“ „Mordkommission.“, antwortet Lena.
„Scheiße! Ich habs geahnt! Wegen der Klopperei Samstagabend kommt ihr, stimmts?“ „Erzähl. Was war los, Lola?“ „Thilo geriet in Streit mit Dennis. Carolas Freund. Sie bedient aushilfsweise, wenn es ihre Zeit erlaubt.“ „Wie kam es zur Auseinandersetzung?“ „Ich bekam es nicht von Anfang an mit. Hatte alle Hände voll mit Bierzapfen zu tun. Samstagabend ist es immer rappelvoll. Weil viele Leute vor der Theke standen, hatte ich den Teil der Gaststube achtern kaum im Blick. In der Nische am Stammtisch saßen sie. Da hinten.“ Lola zeigt auf einen massiven Tisch, an dem zwölf Personen Platz finden.
„Die ganze Clique war da. Samstags treffen sie sich im BOOTSHAUS, bevor sie woanders hinfahren.“ „Wer sind die Leute?“ „Der Hofstaat von Thilo. Handverlesene Vollpfosten wie er. Kinder reicher Eltern. Schnöselbälger! Thilo hat das Sagen.“
Lena zückt ihr Notizbuch. „Hast du Namen für uns?“ „Ich muss nachdenken. Wer war da? Rollo. Der beste Kumpel von Thilo. Genauso ein Angeber. Roolfs ist der Nachname. Arbeitet im Betrieb seines Vaters. Irgendwas mit LKW.“ „Fahrzeugbau Roolfs im Gewerbepark Leegemoor.“, ergänzt Merle, die den Namen in ihr Smartphone eingab. Lena schreibt es auf.
„Weiter bitte, Lola.“ „Oke Krause.“ „Der Sohn von Tinus Krause? Der mit den Lebensmittelmärkten?“, erkundigt sich Merle. „Ja genau!“ „Ist Oke ein Spitzname?“ „Nein. Ein ostfriesischer Vorname.“ „Nie gehört.“ „Wer war noch dabei?“, fragt Lena. „Harold und Carina. Geschwister. Wie heißen die mit Nachnamen? Moment, ... ich hab´s gleich. Ihre Eltern betreiben Bäckereien.“ „Dornbusch?“ „Stimmt. An jeder Ecke ´ne Filiale und ich komm nicht drauf!“, wundert sich Lola. Sie zwinkert Lena zu und fragt: „Was bringt mich nur so aus dem Konzept?“
Die Oberkommissarin muss sich kurz sammeln, um zu fragen. „Wer fällt dir noch ein?“ „Hilko Starck. KFZ-Zubehör verkaufen seine Eltern. Auch im Gewerbepark ansässig.“ „Okay.“ Lena schreibt eifrig mit. „Keke Glas. Von Beruf Tochter. Eine Zicke, wie sie im Buch steht. Ihre Alten sind Inhaber des Großhandels Nordland. Geschenkartikel. Souvenirs. Süßwaren und was weiß ich ....“ „Kenne ich. Alteingesessene Firma.“, bestätigt Merle. „Aber Keke? Wer nennt sein Kind denn so?“, fragt Lena. „Ist gleichfalls ein ostfriesischer Name. Alter Landadel, die Familie. Da benennt man die Nachkommen traditionell.“, weiß Lola. „Bei dir trifft sich die Prominenz!“ „Manchmal könnte ich darauf verzichten, aber sie bringen das Geld ins BOOTSHAUS, von dem ich lebe.“
Merle zählt: „ 1, 2, 3, 4, 5, 6. Rechnen wir Thilo hinzu, sind es bisher 7 Personen. Wer fehlt noch?“ „Siemke Busch. Caroline Meierhof. Jelto Möller. Mehr fallen mir nicht ein. Ihr müsst Carola fragen. Sie kennt die Clique besser.“ „Das werden wir.“, versichert Merle.
„Schildere uns bitte aus deiner Perspektive, was Samstagabend geschah.“, fordert Lena die Gastwirtin auf. „Ich stand am Zapfhahn.“ Lola stellt sich zur Demonstration hin. „Der Laden war gerammelt voll. Gegen 22 Uhr gibt es Geschrei. Was gebrüllt wurde, verstand ich wegen der Musik und dem allgemeinen Lärmpegel nicht. Alle Gäste drehen sich um und schauen zur Nische. Ich höre Affengeräusche. Ich stelle mich auf eine Wasserkiste, um über die Köpfe hinwegzusehen. Thilo schlägt sich wie ein Gorilla auf die Brust.“ Lola macht es vor. „Er spuckt Dennis ins Gesicht. Der packt ihn am Hemdkragen und stößt ihn weg. Thilo fällt rückwärts auf den Fußboden. Im Fallen knallt er mit dem rechten Arm auf eine Stuhlkante. Das war´s. Ich ging hin und sagte der Clique, sie sollen das Lokal verlassen. Thilo jammerte wegen des schmerzenden Arms, ist aber mit seinem Gefolge abgerauscht.“





