Kriminalhauptkommissar Ronny Mittler

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„Was war mit Carola?“ „Sie weinte. Dennis ging mit ihr in die Küche, um sie zu trösten. Sie beruhigte sich schnell und bediente weiter Gäste.“ „Was erzählte sie über den Vorfall?“ „Nachdem es im Lokal ruhiger war, übernahm Dennis die Theke. Er hilft ab und zu. Ist ein total lieber Mensch. Ich wollte eine rauchen und setzte mich in die Küche. Carola kam hinzu. Ich fragte, was los war. Sie erzählte, wo sie bei der Clique abkassierte, streichelte Thilo mit der Hand über ihren Po. Sie hätte sich weggedreht. Er hörte nicht auf, langte ihr unter den Rock. Daraufhin sagte sie ihm, er soll die Finger bei sich behalten, oder sie klebe ihm eine. Er packte sie, zerrte sie auf seinen Schoß und begrapschte ihren Busen. Das bekam Dennis mit und schritt ein. Thilo hatte natürlich nicht den Hauch einer Chance gegen ihn.“
„Wieso nicht?“ „Dennis ist ein Hüne. Fast 2 Meter lang. Ein Muskelpaket. Total durchtrainiert. Er ist Kraftsportler. Gewichtheben und sowas.“ „Neigt er zu Gewalt?“ „Nein! Überhaupt nicht! Das ist ein sanfter Riese. Ein liebevoller Mensch. Sagte ich doch schon. Der tut keiner Fliege was. Für den lege ich die Hand ins Feuer.“ „Was ist er von Beruf?“ „Er arbeitet bei der Stadtverwaltung. Beim Bauamt. Sachbearbeiter für .... keine Ahnung!“ „Wie lautet sein Nachname?“ „Jakobs.“ „Und der von Carola?“ „Siemers. Ich schreibe Adressen und Telefonnummern auf, wenn ihr wollt.“ „Das ist nett, vielen Dank.“ Lola beschriftet einen Zettel, den sie Merle reicht.
„Ja, ich denke, wir sind fürs Erste fertig. Oder hast du noch Fragen Lena?“ „Nein. Vorerst nicht. Ich lasse meine Visitenkarte da. Falls dir was einfällt, Lola, ruf mich an.“ „Darauf kannst du dich verlassen, dass mir was einfällt!“, grinst sie vielsagend, haucht einen Kuss auf das Kärtchen, bevor sie es in ihren Ausschnitt steckt.
Dennis.
Im Auto fragt Merle breit grinsend: „Sag mal, was war das denn?“ „Was?“ „Lola hat dich volle Granate angebaggert!“ „Ach? Ist das so?“, gibt sich Lena betont ahnungslos. „Hab ich gar nicht mitgekriegt!“ „Haha! Jetzt hör aber auf! Verarschen kann ich mich alleine!“
Lena lacht über die Bemerkung, greift zum Gurt und schnallt sich an. Merle sitzt mit verschränkten Armen auf dem Fahrersitz und stiert ihre Kollegin an.
„Was ist? Übst du Röntgenblick? Fahr los. Worauf wartest du?“ „Gibs zu!“ „Was?“ „Lola gefällt dir!“ Stille. „Hallo?“ Schweigen. „Los sag!“ Ruhe. „Erde an Lena. Bitte melden!“ Statt Antwort zu geben singt Lena: „Sie ist die fesche Lola, die Schönste im Salon ....“ „Ja! Du magst Lola!“, jubelt Merle und trommelt aufs Lenkrad. „Ich habe es gewusst! Jippi Ja Yeah Schweinebacke!“
„Wenn du dich beruhigt hast, gib mir bitte Lolas Zettel mit den Adressen. Ich rufe diese Carola an.“ Grinsend übergibt Merle die Notiz. Lena tippt Carolas Handynummer. Sie schaltet auf Lautsprecher, um Merle mithören zu lassen.
„Hallo?“, meldet sich eine Frauenstimme. „Moin. Spreche ich mit Carola Siemers?“ „Ja, ... das bin ich.“, lautet zögernd die Antwort. „Mein Name ist Lena Schösteen. Ich bin Oberkommissarin der Kriminalpolizei.“ „Ist was passiert? Mit Dennis?“ „Nein, keine Sorge. Frau Siemers, ich möchte sie in einer polizeilichen Angelegenheit sprechen. Wo halten sie sich derzeit auf?“ „In der Berufsschule. Wir haben Pause.“ „Conerusschule?“ „Ja genau.“ „Ich befinde mich in der Nähe. Können wir uns unterhalten?“ „Nein. Das geht nicht, wir schreiben in der nächsten Stunde eine Arbeit.“ „Wann haben sie Schulschluss?“ „Um 13 Uhr.“ „Vorschlag. Um die Ecke ist die Pizzeria Palazzo. Kennen sie die?“ „Ja.“ „Treffen wir uns dort? 13 Uhr 15? Ist das für sie okay?“ „Ja, das passt. Wie heißen sie noch?“ „Schösteen. Lena. Oberkommissarin der Kripo.“ „Ist es wegen Samstagabend?“ „Das erzähle ich ihnen, wenn wir uns sehen. Viel Erfolg bei der Klausur. Tschüss Frau Siemers.“ „Dankeschön. Bis dann.“
Lena schaut auf Lolas Notizzettel. „Ich rufe Dennis Jakobs an.“ Sie tippt die Telefonnummer. Besetzt. „Jede Wette, Frau Siemers telefoniert mit ihm! Das kontrolliere ich.“ Im Register des Smartphones sucht sie die vorher gewählte Nummer von Carola und aktiviert sie. Besetzt. „Siehst du!“ „War zu erwarten.“, sagt Merle. „Sicher war es das!“ „Hättest du mit Lola nicht anders gemacht, oder?“, kichert Merle. „Also weißt du was!“, entrüstet sich Lena. „Du freches Stück! Macht Witze auf meine Kosten!“ Lachend haut sie Merle auf die Schulter. „Redet man so mit seiner Vorgesetzten? Für dich gibts heute keinen Nachtisch, damit du es weißt! Los jetzt! Wir fahren zum Revier und gehen ins Bauamt. Schauen wir uns den jungen Mann persönlich an.“
Merle parkt den Wagen auf dem Stellplatz der Kriminalpolizei. Von dort spazieren sie zum Nachbarhaus, in dem das Bauamt untergebracht ist. Im ersten Stock finden sie das Büro von Dennis Jakobs, wie das Schild an seiner Tür ausweist. Lena klopft an.
„Herein.“, tönt es von innen. Sie treten ein. „Moin Herr Jakobs. Schösteen und Jörgisdottir. Kriminalpolizei.“ Er steht auf, reicht zur Begrüßung die Hand. Wie Lola beschrieb, ist er ein Riese.
„Bitte nehmen sie Platz, was kann ich für sie tun? Möchten sie etwas trinken?“ „Nein Danke. Ich komme gleich zur Sache. Herr Jakobs, ihre Lebensgefährtin Frau Siemers teilte ihnen telefonisch mit, dass wir mit ihr Kontakt aufnahmen?“, beginnt Lena das Gespräch. „Ja. ... Vorhin. Woher wissen sie das denn?“, staunt er. „Wir sind die Kripo.“ Er lacht bemüht.
„Herr Jakobs. Wir möchten uns mit ihnen über den Vorfall Samstagabend im BOOTSHAUS unterhalten.“ „Deshalb sind sie zu mir gekommen? Wurde ich angezeigt?“ „Nein.“ „Was wollen sie dann von mir?“ „Schildern sie uns, was vorfiel.“
„Na gut. Ich unterhielt mich mit Hein de Beers. Das ist ein Segelkamerad. Ich stand mit ihm an einem Stehtisch. Ich beobachtete, das Thilo van der Leuwen meine Freundin am verlängerten Rücken betatschte. Sie schob seine Hand weg und trat einen Schritt zur Seite. Daraufhin beugte er sich zu ihr, fasste unter ihren Rock. Carola schrie auf, schlug seinen Arm weg und sagte, er soll die Finger bei sich behalten, oder sie klebe ihm eine. Thilo stand auf, packte sie, setzte sich wieder und zog sie dabei auf den Schoß. Mit dem linken Arm umklammerte er sie, mit rechts befummelte er ihre Brust. Da war ich schon auf dem Weg dorthin. Wie er mich sieht, lässt er Carola los. Sie springt zur Seite. Ich schnappe den Drecksack am Kragen. Er lacht höhnisch und ruft: Schaut mal Leute, Tarzan ist wieder da! Dann macht er Affengeräusche, haut sich auf die Brust und spuckt mir ins Gesicht. Da schubse ich ihn Richtung Stuhl. Er stürzt und fängt an zu jammern.“
„Was sagte er?“ „Mein Arm, mein Arm. Das zahl ich dir heim. Ich verklag dich. Das wirst du teuer bezahlen. Du wirst deines Lebens nicht mehr froh.“ „Was geschah weiter?“ „Lola kam. Sie schmiss die Clique raus. Ich bin mit Carola in die Küche gegangen, um sie zu beruhigen. Das war alles.“
„Herr Jakobs. Wir möchten, dass sie ihre Darstellung zu Protokoll geben. Kommen sie dazu aufs Revier.“ „Zeigte Thilo mich also doch an? Oder warum soll ich eine Aussage machen?“ „Bedauerlicherweise sieht die Sachlage anders aus, Herr Jakobs. Herr van der Leuwen wurde vergangene Nacht tot aufgefunden.“
„Thilo ist tot? Ich war das nicht. Er ist zwar ein Arsch, aber ich bringe doch keinen um!“ „Ich sprach nicht von Mord, Herr Jakobs. Ich sagte, er wurde tot aufgefunden. Wieso gehen sie sofort von Mord aus?“ Er stammelt: „Ich, ... ich dachte, ... weil sie, ... von der Kripo sind ....!“
Dennis Jakobs zeigt Stressreaktionen. Er schwitzt, ist nervös. Auf seiner Stirn bilden sich Schweißtropfen. Lena macht Druck: „Gehen wir einmal davon aus, Thilo van der Leuwen wurde ermordet. Sie haben ein Motiv Herr Jakobs. Er begrapschte ihre Freundin, beleidigte sie in der Öffentlichkeit, verhöhnte und bespuckte sie. Morde werden schon aus geringeren Beweggründen verübt.“
„Aber ich doch nicht! Sie müssen mir glauben! Ich versaue mir doch nicht das Leben.“ Er setzt sich kerzengerade auf, faltet die Hände, erklärt: „Carola und ich. Wir planen unsere Zukunft. Wenn sie mit der Lehre fertig ist, heiraten wir. Wir wollen bauen und Kinder. Mindestens vier. Das setze ich nicht aufs Spiel wegen diesem eitlen Pfau! Das setze ich für nichts und niemanden aufs Spiel!“
„Haben sie ein Alibi für den gestrigen Abend?“ „Allerdings! Das habe ich!“ Ein Lächeln zeigt sich in seinem Gesicht, das zu einem Strahlen erblüht. „Ich war beim Sport. Das können mindestens zehn Leute bezeugen.“ „Wo waren sie?“ „Im Fitnesscenter. 19 bis 22 Uhr.“ „Und anschließend?“ „Bin ich heimgefahren.“ „Gibt es Zeugen?“ „Vielleicht sahen Nachbarn mich heimkommen. Eventuell mein Vermieter.“ „Das bedeutet, ihnen fehlt für den Zeitraum ab 22 Uhr ein Alibi!“
Carola.
Lena und Merle gehen zu Fuß zur Pizzeria Palazzo. „Ich glaube Dennis. Er ist keiner von der Sorte, die einem eiskalt lächelnd ins Gesicht lügen.“, ist Merle überzeugt. „Ich glaube ihm auch.“, antwortet Lena. „Warum hast du dann so einen Druck gemacht? Wir wissen doch noch gar nicht, ob es sich überhaupt um Mord handelt.“ „Ich verlasse mich auf Ronnys Riecher. Wenn er sagt, es ist einer, stimmt es in 99 von 100 Fällen. Das weißt du so gut wie ich.“ „Klar weiß ich das. Aber kriminalistisches Gespür ist keine Beweisgrundlage. Das ist, ... äh, ... Dingens.“ „Sprich dich aus, Merle“ „Jetzt hab ich´s! Ein Bauchgefühl. Mir fiel das Wort nicht ein. Mehr ist es nicht. Ronny ist schließlich nicht der heilige Spekulatius!“ „Hihi. Der ist gut! Muss ich mir merken.“, kichert Lena. „Aber dennoch. Gesetzt den Fall, es war Mord, ist Dennis Jakobs Hauptverdächtiger, bis wir einen anderen ermitteln.“
In der Pizzeria sind alle Tische frei. Sie wählen einen am Fenster, der am weitesten von der Bedientheke entfernt ist. Hier ist eine Unterhaltung möglich, ohne das jeder mitbekommt, worum es geht. Um 13 Uhr 14 betritt eine junge Frau die Pizzeria.
„Das ist sie gewiss.“, vermutet Lena und ruft „Frau Siemers?“ Die Angesprochene tritt an den Tisch. „Ich bin Oberkommissarin Lena Schösteen.“ Sie zeigt ihren Dienstausweis. „Das ist meine Kollegin Kommissarin Merle Jörgisdottir.“ Carola begrüßt die Beamtinnen. „Setzen sie sich. Was möchten sie essen? Ich lade sie ein.“, bietet Lena an. „Hungrig bin ich, bezahlen kann ich aber selber.“ „Worauf haben sie Appetit?“ „Auf jeden Fall Pizza. Die schmeckt im Palazzo sehr lecker.“
„Darf es etwas zu trinken sein?“, erkundigt sich der Kellner, während er Speisekarten austeilt. „Eine Cola Zero bitte.“, ordert Lena. „Für mich das gleiche“, schließt sich Merle an. „Danke, ich brauche keine Speisekarte. Ich bekomme eine Fanta und eine Pizza Spinat.“, bestellt Carola. „Große oder kleine Pizza für die Signorina?“ „Klein bitte.“ „Wird pronto erledigt. Wissen sie schon, was sie nehmen?“ Er schaut Lena an. „Für mich eine große Tonno.“ Merle wählt eine Pizza Calzone.
Nachdem die Bestellung aufgegeben ist, beginnt Carola ungefragt zu erzählen. „Dennis ist total durch den Wind, weil sie ihn verdächtigen.“ „Sie sprachen mit ihm?“ „Nein. Er textete. Er wusste, dass ich eine Arbeit schreibe. Mein Smartphone war aus. Ich las es, als ich auf dem Weg zum Palazzo war.“
Sie hält einen Moment inne, sammelt sich, bevor sie nahezu flüsternd sagt: „Das Thilo tot ist, kann ich noch gar nicht glauben!“ „Sie mochten ihn?“ „Gott bewahre! Nein! Ich konnte ihn nicht ausstehen!“, braust sie auf und schiebt schnell hinterher: „Das er tot ist, finde ich selbstverständlich trotzdem blöd.“
„Seit wann waren sie mit Thilo bekannt?“ „Ich lernte ihn im Gymnasium kennen. Da war ich 11 Jahre alt. Von Jahrgangsstufe 5 bis 8 besuchten wir die gleiche Klasse. Ich ging nach dem ersten Halbjahr der 8 ab zur Realschule. Habe Mittlere Reife gemacht, danach eine Ausbildung zur Bürokauffrau begonnen.“
„Wie war Thilo? Wie charakterisieren sie ihn?“ „Aufdringlich. Penetrant. Widerlich.“, sprudelt sie hervor. „Das fällt ihnen als Erstes ein?“ „Ja. Und noch erheblich mehr.“ „Was wäre das?“ „Meiner Meinung nach, hatte der sie nicht alle!“ Carola zeigt die Vogelgeste. „Irgendetwas in seinem Hirn funktionierte nicht, wie bei anderen Menschen. Ich weiß, man soll nicht schlecht über Tote reden, aber Thilo war speziell! Auf eine ungesunde Art! Er benahm sich schon als Kind wie ein Stalker!“
„Inwiefern? Erläutern sie uns das bitte.“ „Es begann in der 5. Klasse. Kurz nachdem wir uns kennenlernten. Er saß am Nebentisch. Schmachtete mich an. Schenkte mir Kleinigkeiten. Einen Bleistift. Einen Apfel. Eine Schlumpffigur. Kaugummi. So was. Anfangs fand ich es schön und ihn nett. Ich fühlte mich geschmeichelt und hofiert. Sowas kannte ich noch nicht. Es war das erste Mal, das ein Junge sich für mich interessierte.“ „Erwiderten sie seine Gefühle?“ „Ich schwärmte für ihn und schenkte ihm ein Foto von mir. Ab da drehte er durch.“
„Wie sah das aus?“ „Er wurde extrem aufdringlich und verfolgte mich. Suchte ständig meine Nähe. Morgens stand er an der Bushaltestelle, lauerte darauf, dass ich ankam. Er wollte meinen Ranzen tragen. Begleitete mich zum Klassenzimmer. War ich auf dem Mädchenklo, wartete er vor der Tür. Wenn ich sagte, er soll es lassen, nervte er mit dummen Aktionen.“
„Was zum Beispiel?“ „Er schlich sich auf dem Schulhof hinterrücks an, hob meinen Rock hoch, brüllte die Farbe meiner Unterhose.“ „Oh, wie ätzend!“, rutscht es Merle raus. „Manchmal rannte er mich absichtlich um. Oder er umarmte mich von hinten. Dann drückte er zu, bis mir die Luft wegblieb.“
„Sie müssen Angst empfunden haben Carola. Half ihnen niemand? Lehrer oder Schüler?“, möchte Lena wissen. „Mitschüler fürchteten sich vor ihm. Manche deckten ihn.“ „Seine Freunde unterstützten ihn?“ „Richtige Freunde waren es nicht. Eher Kinder, die sich aus Angst oder Berechnung mit Thilo anfreundeten. Damit er sie in Ruhe ließ. Ausgenommen Rollo. Der ist genauso ein Stinkstiefel. Er ist Thilos bester Kumpel.“
„Moment bitte Frau Siemers.“, unterbricht Lena. Sie zückt ihr Notizbuch, um einen Eintrag nachzulesen. „Sprechen sie von Herrn Roolfs?“ „Genau der! Wieso steht der in ihrem Buch?“ „Im Rahmen der Ermittlung nannte uns Frau Andersen seinen Namen.“ „Ach so.“
„Rollo und Thilo also? Wie machten sie ihnen das Leben schwer?“ „Rollo hielt mich fest, damit Thilo mich durchkitzeln konnte. Eigentlich wollte der mich nur befummeln. Ich war für mein Alter ziemlich entwickelt. Die Kitzelei war Vorwand. Das Schlimmste war, er leckte mir durchs Gesicht, am Hals, sogar in den Ohren. Es war absolut ekelhaft.“
„Das glaube ich gern. Es wundert, dass kein Lehrer etwas dagegen unternahm.“ „Rollo und Thilo stellten sich geschickt an, es fiel nicht auf. Sie zogen mich hinter eine Säule oder Wand, ließen es wie ein Kinderspiel aussehen.“ „Sie beschwerten sich nicht bei Lehrern?“ „Dazu fehlte mir der Mut. Thilo schüchterte mich ein. Er sagte, wenn ich ihn verpetze, passiere etwas ganz Schlimmes. Ich hatte riesige Angst.“ „Womit drohte er konkret?“ „Das meine Eltern sterben und ich ins Waisenhaus käme. Unser Haus würde abbrennen. Solche Dinge. Darum traute ich mich nicht, es zu erzählen.“ „Ich vermute, sie litten, weil sie sich allein gelassen fühlten?“ „Ja, es ist, wie sie sagen Frau Schösteen. Irgendwann bekamen Lehrer es endlich mit und bestraften Thilo und Rollo.“ „Hörten die Belästigungen auf?“ „Sie kamen nicht mehr in der Häufigkeit vor. Aufgehört hat es nie.“
„Wie näherte er sich ihnen nach dem Schulwechsel?“ „Bei zufälligen Begegnungen in der Öffentlichkeit. Auf dem Weihnachtsmarkt. Beim Osterfeuer. Auf dem Sportplatz. Am Strand. In einem Geschäft. Bei solchen Gelegenheiten machte er sich an mich ran. Wollte mich einladen. Zu Kaffee und Kuchen. Zum Schwimmen, tanzen, segeln und so. Ich lehnte alles ab. Ich sagte zigmal, er soll mich in Ruhe lassen, ich wolle nichts von ihm. Das ging zu einem Ohr rein, zum anderen wieder raus.“ „Warum zeigten sie ihn nicht an?“ „Ich traute mich nicht.“ „Weswegen?“ „Kennen sie die Familie van der Leuwen? Reiche Leute mit Anwälten sind das. Die hätten mich doch fertig gemacht!“
„Wie lang sind sie mit Dennis zusammen?“ „Vier Jahre und sieben Monate.“ „Wie alt waren sie, wo sie mit ihm zusammenkamen?“ „Ich war fast 15.“ „Wie reagierte Thilo darauf, dass sie liiert sind?“ „Ich weiß, das er schlecht über mich redete. Er setzte Gerüchte in die Welt.“ „Was genau?“ „Er behauptete, ich ginge anschaffen und Dennis sei Zuhälter. Mein Freund beendete das Gerede.“ Merle, die bisher vornehmlich die Rolle der stillen Zuhörerin einnahm, meldet sich mit einer Frage zu Wort: „Wie gelang ihm das?“ „Er stellte Thilo vor seinen Kumpels zur Rede. Er muss ziemlichen Eindruck auf sie gemacht haben. Seitdem war Ruhe.“
„Bei Herrn Jakobs beachtlicher Physis wundert es nicht, dass van der Leuwen unterlegen war.“, vermutet Merle. „Mein Freund ist 1,99 m und betreibt seit Ewigkeiten Kraftsport. Außerdem ist er nicht auf den Kopf gefallen. Der wusste, wie man Thilo Grenzen setzt!“ „Sie sagen das mit Stolz, Frau Siemers,“ bemerkt Lena, „das verstehe ich.“ „Heute habe ich das Selbstvertrauen, das früher fehlte. Ich bin dank Dennis Hilfe aus der Schildkrötendeckung gekommen.“
„Das ist schön für sie. Dennoch gerät der heroische Einsatz zu ihrer Ehrenrettung im Augenblick eher zu seinem Nachteil.“ „Wieso denn?“ Carola schaut erschrocken. Eine Sekunde später fällt der Groschen. Sie flüstert: „Weil er ihr Hauptverdächtiger ist? Aber das ist vier Jahre her. Sie glauben doch nicht ernsthaft, er ...?“ „Was wir glauben, ist zweitrangig.“, erklärt Merle. „Für uns zählen Fakten. Wie die Tatsache, dass zwischen Jakobs und van der Leuwen ein Zwist bestand. Dem gehen wir im Verlauf der Ermittlungen nach. Das ist unsere Aufgabe. Dabei lassen wir Umstände nicht außer acht, die Dennis entlasten, seien sie dessen versichert.“
Lena fragt: „Frau Siemers, sie sagen, dass sie Ruhe vor Thilo hatten, nachdem ihr Freund ihn zur Rede stellte. Ab wann belästigte er sie erneut mit Anzüglichkeiten?“ „Wo ich im BOOTSHAUS zu kellnern anfing, kamen wieder obszöne Bemerkungen. Gleich am ersten Arbeitstag ging das los. Vergangenen Samstag war es dann einfach zu viel.“
„Es kam demnach regelmäßig vor?“ „Das er mich blöd anmachte, meinen sie?“ „Ja.“ „Wie gesagt. Seit ich dort zur Aushilfe kellnere. Vor knapp zwei Jahren habe ich bei Lola zum ersten mal ausgeholfen. Manchmal machte Thilo einen Spruch am Abend, ein anderes Mal mehr. Es kam vor, dass er nichts sagte, darum ist es schwierig, es in Zahlen zu fassen, Frau Oberkommissarin.“
„Wie äußerte er sich? Wie führte er sich auf? Wie muss ich mir seine Belästigungen vorstellen?“ „Häufig machte Thilo dumme Bemerkungen. Hin und wieder betatschte er mich.“ „Wo berührte er sie? Wie ging das vonstatten?“ „Wenn ich beim Stammtisch bediente und in Reichweite stand, gab er mir schonmal einen Klaps auf den Hintern.“ „Was noch?“ „Er griff an meine Beine, streichelte über die Oberschenkel.“ „Wie reagierten sie?“ „Ich drehte mich weg oder schlug auf seine Hand.“ „Sie sagten nichts dazu?“ „Doch. Sicher. Ich sagte, er soll es lassen.“
„Wie regierte er auf Ablehnung?“ „Meistens laberte er irgendwelchen Mist.“ „Was zum Beispiel? Erklären sie es. Wie müssen wir uns das vorstellen?“ „Kam ich an den Stammtisch, um Bestellungen aufzunehmen, sagte er: Da kommt die schärfste Saftschubse von Norden. Wenn seine Freunde darüber lachten, war er zufrieden.“ „Das klingt wie ein harmloser Scherz, Frau Siemers. Belästigung sieht anders aus. Ein Chauvinist sähe in dem Spruch sogar ein verstecktes Kompliment. Leider ist das so, möchte ich hinzufügen.“, erklärt Merle. „Vor Gericht würde diese Bemerkung wenig Eindruck machen. Es hilft uns nicht weiter.“, ergänzt Lena. „Geben sie uns handfeste Beispiele. Wie beleidigte er sie aufs Heftigste? Sprechen sie es aus.“, motiviert Merle sie.
„Thilo sonderte ordinäre Kommentare ab.“, druckst Carola herum. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, sie greift zu einem Papiertaschentuch. „Wir sehen, wie sehr das Thema sie belastet, Frau Siemers. Dennoch müssen wir darum bitten, sich zu erinnern, welche Worte Thilo wählte.“, erklärt Lena sanft. Carola nickt. Flüsternd berichtet sie: „Einmal behauptete er, man höre, wenn ich zum Tisch käme. Das Geräusch meiner wippenden Titten würde mich verraten.“ „Das sagte er? Wörtlich?“ „Ja. Wort für Wort. Und Schlimmeres! Doofe Sprüche, die er in Witze verpackte.“
„Welcher Art waren diese?“, erkundigt sich Merle. „Machte er sexistische Anspielungen?“ „Ja richtig fiese!“ „Erinnern sie sich an den Wortlaut?“ „Nicht an jeden. Aber einiges blieb im Gedächtnis.“ „Haben sie ein Beispiel für uns?“, möchte Lena wissen.
Carola beugt sich vor. Mit gedämpfter Stimme erzählt sie: „Er machte sich einmal über meine Schamlippen lustig. Zur Clique sagte er, als Kind hatte Carola Schamlippchen. Jetzt hat sie Schamläppchen. Und mit vierzig bekommt sie Schamlappen! Diese Worte begleitete er mit Handbewegungen und Geräuschen. Bei seinen Leuten kam das natürlich super an. Die lachten sich kaputt und ich war die Doofe!“
„Gerieten sie in Wut?“ Sie zögert mit einer Antwort. „Klar, ich war sauer. Denke ich darüber nach, war ich mehr beschämt. Und beleidigt!“
„Haben sie ein weiteres Beispiel dieser sogenannten Scherze?“ „Eine Sache war letztes Jahr im Sommer. Ich trug einen kurzen Rock. Wo ich Getränke zum Tisch brachte und die Gläser verteilte, fragt Thilo: Was passiert, wenn ich Carolas Kitzler festhalte, während sie zur Theke zurückgeht? Die Antwort gab er gleich selbst. Lasse ich los, gibt´s folgendes Geräusch. Er steckte einen Finger in den Mund, machte ein Ploppgeräusch und rief Tschüüüühüüüssss.“ „Auweia. Das ist deftig. Wie reagierten die Personen am Tisch?“ „Sie lachten.“ „Verstehe. Darunter befanden sich Frauen, richtig?“ „Ja, einige.“ „Entrüsteten die sich nicht?“ „Nein.“
„Carola, sie waren sein erklärtes Ziel für Spott. Thilo amüsierte sich auf ihre Kosten und stand bei seinen Gefährten gut da. Bekam ihr Freund das mit?“ „Nicht immer. Ich erzählte es ihm nicht unbedingt.“ „Warum nicht?“
Carola schweigt. Beißt auf die Lippen. Alles, was sie im Zusammenhang mit Dennis aussagt, wird gegen ihn verwendet, denkt sie.
„Ich wiederhole meine Frage.“, bohrt Lena. „Weshalb verschwiegen sie ihrem Verlobten die Erniedrigungen, denen sie ausgesetzt waren?“ „Weil ich nicht wollte, dass es Stunk gibt.“ „Was befürchteten sie?“
Carola sieht sich in die Ecke gedrängt. Wie das Kaninchen vor der Schlange windet sie sich vor der Antwort, bis sie wispert: „Das Dennis eine Dummheit macht.“
Auf dem Rückweg zum Revier fragt Lena: „Welchen Eindruck macht Frau Siemers auf dich?“ „Insgesamt einen Guten. Eine Sache verstehe ich allerdings nicht.“ „Die da wäre?“ „Über Jahre hinweg belästigt, erniedrigt, beleidigt der Kerl sie. Er behandelt sie aufs Ekligste und sie sucht sich keine Hilfe. Warum?“
„Die Erfahrung lehrt, solches kommt häufig vor. Denk an Häusliche Gewalt. Wie viele Frauen ertragen über Jahre ein Martyrium! Bis es eskaliert. Und dann kommen wir und kehren den Mist zusammen!“
Wir haben einen Mordfall!
Gerichtsmediziner Dr. Albert Meyer sitzt neben Ronny Mittlers Bett und lässt sich ein Butterbrot schmecken. Es ist später Nachmittag. Die Salamistulle war eigentlich zum Verzehr in der Frühstückspause gedacht. Er kam nicht dazu, sie zu essen. Kauend erklärt er: „Der Verstorbene stand unter Einfluss von Betäubungsmitteln. Abgefüllt bis Oberkante Unterlippe! Der war weder ansprechbar, geschweige denn in der Lage, sich aufzuhängen.“
Hauptkommissar Mittler klatscht in die Hände. „Wusst´ ich´s doch! Es war kein Suizid!“ „Dein Orakel - Magnet sah es voraus! Verlässlich wie eh und je“, kommentiert Meyer.
„Was kannst du mir zum Seil des Erhängten sagen, Albert?“ „Moment.“, antwortet der Rechtsmediziner. Er schiebt das letzte Stück Brot in den Mund und kaut in aller Ruhe. Nachdem es heruntergeschluckt ist, greift er nach seiner Tasche. Daraus entnimmt er eine Thermoskanne, die anhand ihrer Form an einen Leuchtturm erinnert. Er schraubt den Deckelbecher ab, gießt ein und trinkt.
„Wird das heute noch was, mit der Antwort?“, drängt Ronny Mittler. „Abwarten und Tee trinken! Dann Sachen machen!“, antwortet Albert Meyer seelenruhig. In sich ruhend, genießt der Pathologe seinen geliebten Ostfriesentee. Sanft lächelnd stellt er den Becher neben die Thermoskanne auf Mittlers Nachttischschrank. Es amüsiert Meyer, den Freund in der Warteschleife hängen zu lassen. Der trommelt derweil erwartungsvoll mit den Händen auf der Bettdecke. Aus der Aktentasche zieht der Rechtsmediziner einen Schnellhefter, platziert diesen auf den Schoß. Bedächtig klappt er ihn auf, liest stumm die ersten Zeilen. Schließlich hebt er den Kopf. Prüfend schaut er den Hauptkommissar an. Dessen volle Aufmerksamkeit ist ihm sicher.





