- -
- 100%
- +
Die schlossähnliche Villa Henschel, deren Gebäude man durch einen die Straße begleitenden, mannshohen Zaun aus Eisenstäben hindurch erspähen konnte, lag mitten in einem gepflegten Park, mitten auf einem mit Blumen und bunten Büschen geschmückten Rasen. Die Menschen, die in diesem „Schloss“ wohnten und die man nie zu sehen bekam, mussten Feen oder Zauberer sein, jedenfalls von einer so besonderen Art, dass man als normaler Mensch nicht mit Ihnen sprechen konnte. Und dann bekam ich im Kindergarten ein kleines, blondes, elfenhaft schönes Mädchen zu Gesicht, von der es hieß, dass sie hinter den Henschelschen Gitterstäben wohnte. Das Elfenmädchen mit den Goldhaaren und dem Puppengesicht trug ein samt-seidiges rotes Kleidchen mit gesmokten Stickereien am Halsausschnitt und an den Ärmeln, oder auch ein blaues, oder gelbes – jedenfalls trug sie ein Kleidchen so kostbar, wie ich es nie besitzen würde. Sie spielte und lachte und sang mit den Kindern an ihrem Tisch – meilenweit entfernt von dem Tisch an dem ich saß. Aber ich konnte ihr reizendes Gesicht sehen und jedes Mal, wenn ich sie anschaute, klopfte mir das Herz so sehr, dass ich wegsehen musste. Trotzdem musste ich immer wieder hinsehen, dieses Wundermädchen anstarren, um verwirrt und beschämt die Augen zu schließen und ein warmes Schwindelgefühl im Bauch zu spüren. Ich erinnere mich nicht, dass ich meine kleine Liebe je angesprochen hätte, auch kannte ich wohl nicht einmal ihren Namen. Ich wusste nur, dass sie seit kurzem in der Villa wohnte und wahrscheinlich die Tochter ausgebombter Verwandter war. Und dass es mich jeden Morgen wie magisch in den Kindergarten zog, um sie zu sehen.
Der Kindergarten verschaffte mir aber auch das erste noch ganz unverstandene Gefühl für Naziherrschaft und Krieg. Vom Krieg wussten wir Kinder nichts, auch als später mein Vater verschwand und nur noch gelegentlich für ein bis zwei Tage am Wochenende zu Besuch kam. Wir Kinder bemerkten seine Abwesenheit kaum, war er doch auch vorher tagsüber nie zu Hause, und wenn er abends nach Hause kam, waren wir Kinder meist schon im Bett. Meine Mutter brachte ihm um die Mittagszeit das Essen in Blechdosen, die dick in Zeitungspapier eingewickelt waren, in seinen Filmpalast. Einmal durfte ich meine Mutter bei ihrem Essensgang begleiten und stellte mich, während sie beim Vater im Büro war, in die geöffnete Tür des Kinosaals. Was ich da auf der Leinwand sah, war mir völlig unverständlich. Männer mit Gewehren und Stahlmützen auf dem Kopf, Feuer und Geschrei und martialische Marschmusik. Eine tiefe Männerstimme, der das alles sehr zu gefallen schien, überdröhnte die dahin rennenden Bilder, jubelte laut und macht mir Angst. Meine Mutter zog mich von den Bildern weg und sagte etwas von Wochenschau. Von Krieg sagte sie nichts.
Als der Krieg begann, war ich noch nicht drei Jahre alt. Zwar wussten wir Kinder noch immer nichts vom Krieg, aber was etwa zwei Jahre später an einem Tag im Kindergarten passierte, gab mir eine sehr undeutliche, aber auch sehr unangenehme Ahnung. Die Regeln im Kindergarten waren streng. Wenn die Kinder an ihren kleinen Tischen saßen und ihre Hände nicht mit Essen oder Basteln beschäftigt waren, mussten sie flach auf dem Tisch liegen. Die vier Finger auf, der Daumen unter der Tischplatte. Und wir mussten mucksmäuschenstill sein. Kein Laut durfte über unsere Lippen kommen. Eines Tages, im Sommer, spielten die Kindergartentanten – es waren drei oder vier junge Frauen – zusammen mit der Köchin und der Putzfrau verrückt. Sie drehten das Radio auf, spielten laute Musik und holten Blechdeckel aus der Küche mit denen sie den Takt schlugen und dabei laut sangen. Sie saßen auf Stühlen, die sie auf unsere Kindertischchen hochgestellt hatten, kreischten und sangen, während eine von ihnen mit einem Rohrstock bewaffnet die Kindertische entlang ging und auf jede Hand schlug, die nicht ordnungsgemäß auf dem Tisch lag und jedem Kind, das einen Laut von sich gab, den Rohrstock über den Rücken zog. Dass die Kindergartentanten einen Sieg der deutschen Wehrmacht feierten, konnte ich nicht ahnen, aber dass Erwachsene für mich keine natürlichen Autoritäten mehr waren, stand nach diesem Erlebnis fest.
Noch eine andere Erfahrung, eine im Familienkreis, hat dazu beigetragen, dass ich Erwachsene schon als Kind nicht als unfehlbar wahrnahm, sondern in ihnen schon im Vorschulalter Menschen mit Fehlern sah.
Unsere Wohnung in der Weinbergstraße bestand aus fünf Zimmern, einer Kammer, einer Küche und einem Bad. Wir Kinder wohnten im Kinderzimmer, an welches das Zimmer des jeweiligen Dienstmädchens anschloss, sodass sie uns – wir aber auch sie – des Nachts überwachen konnten. Zum Garten hin lagen das Elternschlafzimmer, das Esszimmer und das Herrenzimmer, welches für uns Kindern nur zu Weihnachten zugänglich war oder wenn Gäste kamen und wir Ihnen mit Diener und Knicks guten Tag sagen durften, ehe wir im Kinderzimmer zu verschwinden hatten. Allerdings führte der Durchgang zu einer kleinen Terrasse mit der Treppe zum Garten nur durch das Herrenzimmer. Wenn wir in den Garten wollten, aber nur dann, durften wir daher das Herrenzimmer betreten.
Als mein Vater, es muss in den ersten Kriegsjahren gewesen sein, auf Urlaub oder über ein Wochenende zu Hause war, zeigt er uns Kindern seine neueste Errungenschaft: eine Taschenuhr aus Silber, die ihm ganz offensichtlich viel bedeutete. Wir durften die Uhr ansehen, sie aber nicht berühren. Das wurde uns unter Androhung der schlimmsten Strafen strikt verboten.
Ich muss zuvor sagen, dass meine Eltern uns Kinder nicht schlugen. Ich kann mich an schlimme Schimpftiraden, an Hausund Stubenarrest und an Taschengeldentzug erinnern, aber an keine elterlichen Schläge. Umso eindrucksvoller für mich war das, was an jenem Urlaubstag passierte:
Auf dem Weg in den Garten durchquerte ich das verbotene Herrenzimmer – und sah auf Vaters Schreibtisch die neue Uhr liegen. Ich blieb stehen und schaut die Uhr an. Das glitzernde runde Schmuckstück mit der langen Kette und den Zahlen im Gesicht zog mich magisch an. Schließlich lag die Uhr auf meiner Hand, ich streichelte sie vorsichtig mit nur einem Finger und entdeckte dabei ein kleines Rädchen, das sich kinderleicht drehen ließ. Mehrmals drehte ich das niedliche Rädchen hin und her und sah, wie die Zeiger der Uhr sich langsam und lautlos in Bewegung setzten. Aber mir zitterten die Knie. Zwar waren die Eltern ausgegangen und meine Brüder spielten im Garten. Es konnte also nichts passieren. Trotzdem legte ich das kleine Wunderwerk sehr bald und sehr sorgfältig an genau die Stelle zurück, an der es vorher gelegen hatte. Die Stelle hatte ich mir genauestens gemerkt.
Stunden später spielten wir drei Kinder im Kinderzimmer. Die Eltern waren zurück, es sollte gleich Abendbrot geben. Da stürmte mein Vater ins Kinderzimmer. »Wer hat mit meiner Uhr gespielt?« schrie er und ging, vor Zorn rot im Gesicht auf meinen älteren Bruder los. »Lass ihn los, lass ihn los, ich war es!« rief ich laut dazwischen und: »Ich habe die Uhr angefasst, ich habe sie in die Hand genommen, ich war es!« Mein Vater wollte nichts hören, packte meinen Bruder, legte ihn übers Knie und schlug zu. »Ich war es, ich war es!« schrie ich immer wieder, aber mein Vater ließ nicht ab. Nachdem er den Großen hinlänglich vermöbelt hatte und dieser laut heulte, packte er sich den Kleinen und versohlte ihn ebenfalls. Mein ständiges Schreien »Ich, ich war es!« hielt ihn nicht auf und erst als letzte kriegte dann auch ich meine Tracht Prügel verabreicht.
Als mein Vater wieder draußen war, schauten mich meine beiden Brüder mit bösen Blicken an und wandten sich von mir ab. Dass es mir so sehr leidtat und dass ich mich bei ihnen entschuldigte, änderte nichts daran.
3.Tübingen (1943)
In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 1943, als Kassel, unter anderem der Henschel-Werke wegen, in Schutt und Asche gelegt wurde, brannte auch unser Haus in der Weinbergstraße bis auf die Grundmauern ab. Eine Phosphorbombe hatte es getroffen und alles Brennbare vernichtet. Auch meinen Puppenwagen mit meinen geliebten Puppen. Mein Vater, der einen solchen Angriff auf Kassel vorausgehen hatte, hatte dafür gesorgt, dass wir nach den Sommerferien 1943, die wir bei meiner Tante Gertrud in Tübingen verbrachten, nicht nach Kassel zurückgekehrt waren.
In Tübingen wurde ich eingeschult. Etwas spät, wie ich fand, aber da ich im November geboren war, nahm man mich 1942 mit nur fünfeinhalb Jahren trotz meines dringenden Wunsches und eines Besuchs in der Kasseler Schule, an den ich mich gut erinnern kann, nicht an. Der Schulanfang in Tübingen stellte sich für mich dann allerdings als beschwerlich heraus. Stand ich doch unter der Fuchtel von insgesamt drei Lehrern: in der Schule unter der absoluten Autorität von Herr Lange; zuhause unter der meiner Mutter und Tante Gertruds, die beide von Beruf Lehrerin waren. Immer wieder wischten Mutter und Tante die Schiefertafel aus, auf der ich die vom Lehrer am Anfang jeder Zeile vorgeschriebenen Buchstaben „OH MAMA“ und „HALLO OMA“ feinsäuberlich bis zum Ende der Zeile hingeschrieben hatte. Immer wieder, den ganzen Nachmittag, hatte ich versucht, diese verflixten Buchstaben gerade und gleichmäßig auf die Tafel zu bringen. Immer wieder kam Tante Gertrud oder Mama mit dem feuchten Schwamm und wischte alles aus. Bis endlich die ungefähr siebte vollgeschriebene Tafel Gnade bei ihnen fand. Voller Stolz präsentierte ich am nächsten Morgen mein Werk Herrn Lange, als dieser die Reihen abschritt und jede Tafel eingehend begutachtete. Ich saß in der Fensterreihe auf der letzten Bank und freute mich auf sein Lob. Doch Herr Lange schaute nur kurz auf meine Tafel, schüttelte den Kopf, nahm eine dicke rote Kreide aus der Tasche und vernichtete die Freude über mein Meisterwerk mit einem dicken Strich.

Bärbel geht zur Schule.
Tante Gertrud hatte eine große Wohnung und Platz für uns alle, aber keinerlei Verständnis für Kinder. Außerdem war sie krank und ertrug keinen Lärm. Nachdem unser Haus abgebrannt und eine Rückkehr nach Kassel daher unmöglich geworden war, eine dauerhafte Bleibe von Tante Gertrud jedoch nicht gebilligt wurde, mussten wir aus ihrer Wohnung verschwinden. Wohnungen gab es aber keine, und in Tübingen schon gar nicht. Also wohin? Mein kleiner Bruder wurde zu unserem Onkel Karl, der in Eger, im Sudetenland, eine angesehene Staatsstelle innehatte, verfrachtet. Das Kindergeschrei am Bahnhof, als der fünfjährige Jochen allein einer fremden Person übergeben wurde, klingt mir noch heute in den Ohren. Mein älterer Bruder Peter und ich wurden getrennt bei Tübinger Freunden untergebracht, während sich unsere Mutter in ganz Württemberg auf Wohnungssuche machte.
Das halbe Jahr, für das es unsere kleine Familie in wechselnder Zusammensetzung nach Tübingen verschlagen hatte, muss eine für mich nicht sehr glückliche Zeit gewesen sein. Denn nur zwei weitere, gar nicht so glückliche Ereignisse erinnere ich aus dieser Zeit. Der eine Vorfall hatte mit der Schule zu tun. Unsere Mutter war, wie gesagt, auf Wohnungssuche im „Ländle“ unterwegs und die Wohnung von Lambrechts, bei denen ich untergebracht war, lag fast eine halbe Stunde Fußmarsch von der Schule entfernt. Zu weit für meine Blase. Die Toiletten in der Schule stanken aber so grässlich und waren in jeder Hinsicht unappetitlich, dass die Blase warten musste. In zunehmender Angst, es nicht mehr halten zu können, lief ich fast den ganzen Weg bis zum hinteren Ende der Gartenstraße in Lustenau, rannte dort die Treppe hinauf in den ersten Stock, klingelte an der Wohnungstür und entleerte meine volle Blase just in dem Moment, als Frau Lambrecht mir die Türe öffnet.
Außer diesem für mich hochpeinlichen Vorfall – die Lambrechts waren ja Fremde für mich – erinnere ich nur noch den Schmerz, der mich erfüllte, als mein Bruder Peter, der bei Freunden, die auf einer Anhöhe wohnten, untergekommen war, auf dem Weg in sein Zuhause einen Hang erklomm. Ich stand am Fuß dieses Hanges und heftete meine Augen sehnsüchtig auf den kleinen Jungen, der immer kleiner wurde und schließlich auf der Höhe als winziger Punkt hinter den Bäumen verschwand.
Und doch taucht da eine Begebenheit in meinem Gedächtnis auf, die für mich zwar auch eher peinlich war, die aber dennoch eines gewissen Witzes nicht entbehrt.
Einer der Sonntagsausflüge, die meine Mutter mit uns unternahm, ehe sie auf Wohnungssuche ging, führte uns hinauf zur Wurmlinger Kapelle. Ein kleiner Friedhof, der sich mit seinen frischen Blumengestecken wie eine Art Halsschmuck um das kleine Kirchlein legte, verleitete mich zu allerlei Fragen über Kirchen, über Friedhöfe, über das Sterben und darüber, was das alles mit Religion zu tun habe. Zum ersten Mal erfuhr ich bei dieser Gelegenheit, dass es zwei verschiedene Glaubensrichtungen in Deutschland gibt, hörte etwas von „katholisch“ und „evangelisch“, und zum ersten Mal nahm sich unsere Mutter Zeit, mir alle meine Fragen zu beantworten. Denn natürlich wollte ich genau wissen, worin der Unterschied zwischen „katholisch“ und „evangelisch“ bestand. Meine Mutter erklärte es mir und sie erklärte es sicher sehr gut. Doch nichts davon erinnere ich, außer der Tatsache, die mich am meisten beeindruckte, nämlich, dass den Katholiken eine Feuerbestattung verboten war, den Angehörigen der evangelischen Kirche jedoch nicht. Als ich ein paar Tage später von Herrn Lange im Rahmen einer Erhebung von Schülerdaten gefragt wurde, ob ich evangelisch oder katholisch sei und ich mich nicht mehr an die Worte erinnern konnte, sagte ich: »ich gehöre zu denen, die nach dem Tod verbrannt werden.«
4. Künzelsau
Unter der Bedingung, dass sie ihren Beruf als Lehrerin wiederaufnehmen würde – die männlichen Lehrer waren gefallen, an der Front oder in Gefangenschaft –, ergatterte unsere Mutter tatsächlich eine für damalige Verhältnisse traumhafte Unterkunft für uns: im Lehrertrakt des Schlosses von Künzelsau. Offensichtlich hatte sie es dem Bürgermeister des Ortes angetan, denn statt sie in die schon vereinbarten zwei Dachzimmer mit Kochplatte auf dem Flur zu bringen, die ihr bei ihrem ersten Besuch angeboten worden war, führte er sie bei ihrem zweiten Besuch in Künzelsau ins Schloss.

Künzelsau,
Ölbild aus dem 19. Jhdt.
Und im Schloss ging es uns gut. Meine Mutter, wir drei Kinder und die 17-jährige Toni, die ihr Arbeitsdienstjahr in unserer Familie absolvierte und die vor Heimweh nach ihrem Dorf immer wieder in Tränen ausbrach, bewohnten zu fünft drei große Zimmer. Ein Kinderschlafzimmer, das auch Toni mit uns teilte, ein Elternschlafzimmer, das meine Mutter alleine bezog, und ein großes Wohn- und Esszimmer. Die Küche und das Bad mussten wir mit einem kinderlosen Ehepaar teilen, mit Dr. Karl Helbricht und seiner Frau Gertraude. Dr. Helbricht war Mathematiklehrer in der Napolaschule7, zu der unser Lehrertrakt gehörte. Ob in weiser Voraussicht der Dinge, die da kommen würden, oder nur, weil sie die Sprache beherrschte, jedenfalls versuchte Frau Helbricht uns Kindern Englisch beizubringen, indem sie auf alle Türen und Schränke und auf jede Menge anderer Gegenstände englischsprachige Zettel klebte, die uns den korrekten Umgang mit dem jeweiligen Gegenstand vermitteln sollten. „Please flush the toilet“stand da, oder: „Please shut the door“. Mein erster englischer Satz lautete daher:
„p l e a s e sch u t te d o r“
Das ganze Schloss war rosa angestrichen, was uns damit erklärt wurde, dass Rosa die einzige Farbe gewesen sei, die es noch gab, als es nötig wurde, das Gebäude vor dem Einzug der Napola zu verputzen. Ehe dann die kleinen Jungen in Uniform kommen konnten. Angeblich die besten ihres Jahrganges. Sie sahen wie kleine Soldaten aus und gingen, mir völlig unverständlich, immer nur neben- oder hintereinander in Reih und Glied. Man sah sie nie einzeln herumrennen oder rumtoben, nur ab und zu, von einer schreienden Stimme gezwungen, über steile, extra im Schlosshof aufgestellte Holzwände klettern oder durch Schlammpfützen kriechen.
Aber die Jungen aus der Napola gingen uns nichts an, sagte meine Mutter. Und in der Tat, wir drei Kinder lebten, sofern es das Wetter irgendwie zuließ, im Park. Der Park hinter dem Schloss, früher einmal ein groß angelegter, hochherrschaftlicher Lustgarten, war völlig heruntergekommen. Aber ein wunderbarer Spielplatz. Mit seinen gefallenen Bäumen, die tiefe Löcher im Boden hinterlassen hatten, vor denen die herausgerissenen Wurzeln wie Vorhänge hingen; mit seinen Wiesen, die nie gemäht wurden und auf denen es niemanden gab, der uns hätte verjagen können, wenn wir beim Blumenpflücken das Gras niedertrampelten; und mit seinem Wäldchen, in dem man wunderbar Verstecken spielen konnte, war er ein Paradies für Kinder. Das Schönste im Park war jedoch die Ruine eines Wohnheimes, das für noch mehr Napola Schüler gebaut werden sollte, aber niemals fertiggestellt wurde, da es kein Material mehr gab, um irgendetwas zu bauen. Das steinerne Fundament dieses Phantomgebäudes war Leonies und mein Spielhaus und das Zuhause für unsere Puppen. Leonie, die bald meine beste Freundin wurde, wohnte mit ihrer Mutter im Stockwerk über uns. Auf dem Schrottplatz vor dem Schloss fanden wir Scherben in Hülle und Fülle, die wir zusammen mit locker herumliegenden Backsteinen, abgebrochenen Ästen und lehmiger Erde zum Bau einer perfekt eingerichteten Küche benutzten.
Im Park gab es so viel zu tun, sodass ein einziger Tag uns nie ausreichte. Aber Mutter hatte nichts dagegen, wenn wir den ganzen Tag draußen blieben. Auch wenn an klaren Tagen manchmal Flugzeuge Wellen von Donner über den wolkenlosen Himmel schickten. Die Flugzeuge, das wusste ich, flogen zu den großen Städten, um dort Bomben abzuwerfen. Aber hier, im Park gab es keine Gefahr. Wenn der Sommerhimmel zu donnern begann und unsere Mütter uns nicht riefen, rannten Leonie und ich mit meinen Brüdern in das Waldstück des Parks und versteckten uns in einer Wurzelhöhle. Der donnernde Himmel war wohl kein gutes Zeichen. Aber das Rennen unter die Bäume und das sich Verstecken hinter den Wurzelgardinen war aufregend. Und die silbernen Flugzeuge auf dem tintenblauen Himmel sahen aus wie Schwärme von Zugvögeln, die vorzeitig nach Süden flogen.
Die einzige Gefahr im Park war Dr. Schütz.
Dr. Schütz war der Direktor der Napola Schule. Obwohl er nicht Mamas Direktor war – Mama unterrichtete an der städtischen Oberschule – hatte Mama uns strengstens eingeschärft, Herrn Dr. Schütz niemals zu ärgern. Wenn mir Dr. Schütz im Park begegnete, musste ich strammstehen, meinen rechten Arm nach oben werfen und rufen:
»Heil Hitler, Herr Dr. Schütz!«,
selbst, wenn wir gerade dabei waren, unsere Puppen schlafen zu legen. Wenn ich einmal vergaß, Dr. Schütz zu grüßen oder ihn gar nicht gesehen hatte, wusste meine Mutter das immer und schimpfte mich abends. Mama wurde dann richtig ärgerlich. Dr. Schütz war allmächtig. Alle hatten Angst vor ihm. Ich merkte es daran, dass die Leute, wenn sie mit ihm sprachen, ihre Stimme senkten. Und niemand würde es je wagen, ihn als erster anzusprechen. Außer natürlich mit dem obligatorischen Gruß
»Heil Hitler, Herr Dr. Schütz!«,
den bei ihm niemand zu einem nachlässigen »Ha hit la!« verwischte, was sonst durchaus üblich war.
Ich konnte Herrn Dr. Schütz nicht leiden.
Schon, weil Mama Angst vor ihm hatte konnte ich ihn nicht leiden. Ich wusste nicht, warum Mama Angst vor ihm hatte. Dr. Schütz, dachte ich, musste jemand sein, der Dinge geschehen lassen konnte, die anderen Leuten nicht möglich waren und die ihnen vielleicht schaden konnten. Und Dr. Schütz war nie freundlich. Er war böse. Dr. Schütz hatte mich noch niemals angesprochen, aber ich wusste, dass er böse war.
Eines Tages im April 1945 wurde ich schon mittags von meiner Mutter ins Haus gerufen. Am Nachmittag hatten Flieger den Himmel mit nicht endendem Gedröhn zerschnitten. Sie kamen jetzt jeden Tag. Mama und Toni waren bekümmerter als je. Die Luftangriffe, von denen ich geglaubt hatte, sie gehörten nur zu den Städten, trafen nun auch uns. Immer häufiger füllten die Luftschutzsirenen mit ihrem schrillen Heulen die Nacht. Mama bestand darauf, dass wir in unseren Kleidern schliefen. Wenn dann die Sirenen loslegten, mussten wir mitten in der Nacht aufstehen und mit den anderen Hausbewohnern in den Keller gehen, wo es seltene Süßigkeiten gab und Salzgebäck, das ich vorher noch nie gekostet hatte. Obwohl ich die nächtlichen Stunden im Luftschutzkeller sehr lustig fand, begann ich zu begreifen, was das bedeutete: KRIEG. Da ich eine Welt ohne Flugzeuge nicht kannte war es schwer, mir ein Leben ohne KRIEG vorzustellen. Das Wort FRIEDEN kannte ich schon, aber es blieb mir ein Fremdwort. Aber jetzt ahnte ich, dass die Flieger, und unser verbranntes Haus in Kassel, und die nächtlichen Exkursionen in den Keller etwas mit dem KRIEG zu tun hatten und dass er gefährlich war. Wie sehr gefährlich er war, sollte ich bald darauf noch selber erfahren.
Denn jetzt gab es auch Flieger, die ganz niedrig fliegen konnten und die auf der Straße Fahrzeuge und auch Menschen beschossen. Als ich eines Tages alleine eine menschenleere Straße entlangging, um Mama von ihrer Schule abzuholen, kreiste plötzlich ein solcher Tiefflieger über meinem Kopf. Und weit und breit keine Wurzelhöhle, in der ich mich verstecken konnte. Ich war zu Tode erschrocken, öffnete das nächstgelegene Gartentor und kroch in dem fremden Garten unter einen Busch. Noch nie war ich in den Garten eines fremden Hauses eingedrungen und noch nie hatte ich mich, wie jetzt, in einem fremden Garten unter so komisch stechende Zweige gequetscht. Das Flugzeug hatte mich sicher gesehen und würde nun auf mich schießen.
Das Flugzeug kreiste eine ganze Weile über mir, als überlege es, ob es sich lohnte mich zu erschießen. Dann spritzte es eine lange Reihe walnussgroßer Löcher in das Straßenpflaster vor dem Gartentor und machte sich davon.
Von dem Tag an wusste ich was KRIEG war und hasste ihn. Der Hass wurde noch größer, als zwei Wochen später Mama und Leonies Mutter einen Großteil der Lebensmittel, die sie gehortet hatten, in zwei große Waschkörbe packten und diese zusammen mit ihren insgesamt vier Kindern in das Haus von Frau Wagner verfrachteten, die meine Mutter von irgendwoher kannte und die mit ihrem Sohn am westlichen Abhang des Tals wohnte. Wir Kinder durften jetzt das Haus nicht verlassen, denn draußen strich die Schießerei fast den ganzen Tag lang über unsere Köpfe hinweg. Auf der Höhe hinter uns, auf dem Nagelsberg, saßen die Amerikaner mit schweren Geschützen und offenbar mit sehr viel Munition. An dem Abhang auf der gegenüberliegenden Seite des Tals kam immer wieder Feuer und Rauch aus dem Wald. Mama sagte uns, dass sich deutsche Truppen dort verschanzt hätten.
Wenn das Schießen um die Mittagszeit zum Stillstand kam, ließ Mama uns einen Moment in den Garten gehen. Mit einem Feldstecher konnten wir die amerikanischen Kampfkanonen sehen, die aus den Häusern weit oberhalb unseres Hauses in die Luft starrten.
Nach etwa einer Woche waren die mitgebrachten Lebensmittel aufgebraucht. Mama und Leonis Mutter mussten einen neuen Korb holen. Im Keller des Schlosses hatten sie noch Reserven. Der Weg zum Schloss führte durch das Kochertal über den Fluss. Von dort war es bis zum hinteren Parkeingang des Schlosses nicht sehr weit. Aber unsere Mütter mussten den Fluss überqueren, über den es keine Brücke gab. Nur ein Floß. Alle Brücken im Kochertal waren von den Deutschen gesprengt worden, um dem Feind den Übertritt über den Fluss zu verwehren. Als Mama und Leonies Mutter mit ihrem gefüllten Korb vom Schloss zurückkamen, hatte jemand das Floß auf die andere Seite des Flusses gezogen. Tiefflieger waren unterwegs. Ganz offensichtlich hatten sie die beiden Frauen schon ausgemacht und schossen auf sie. Dann ließen sie etwas fallen, was als lilafarbener Nebel wie eine Giftwolke den Berg hinunterrollte und die Badehütten umhüllte, unter denen sich – mein Bruder Peter hatte das mit dem Feldstecher beobachtet –, unsere Mütter versteckt hatten. Meine Seele schoss zum Fluss hinunter, kroch in die violette Wolke und versuchte, meine Mutter herauszuziehen. Aber wenn mir das gelingen würde, würden die Tiefflieger Mama sehen und totschießen. Ich schlug die Arme um den Körper und ging in den Keller, unseren Aufenthaltsort während des Tages. Ich setzte mich auf meinen Platz und begann wie in Trance mein Nachtgebet zu beten: »Lieber Herr Jesus, segne unseren Führer und mache, dass Deutschland den Krieg gewinnt. Bitte bring uns den Frieden und lass Vati gesund nach Hause kommen.«, das einzige Gebet, das ich kannte. Die anderen Kinder folgten und so saßen wir dann alle Fünf in dem dunklen Raum und wiederholten wieder und wieder die wenigen Gebete, die wir kannten.