Lehrwerksintegrierte Lernvideos als innovatives Unterrichtsmedium im fremdsprachlichen Anfangsunterricht (Französisch/Spanisch)

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In Abhängigkeit von Bildeigenschaften und -inhalt, den jeweiligen Lernzielen, der angewandten Methodik und Lernerausgangslage lassen sich visuellen Medien im Hinblick auf den fremdsprachlichen Lernprozess prinzipiell folgende Grundfunktionen zuschreiben (cf. Reinfried 2007, 418sq.):
Semantisierungshilfe
Stimulus zur Kommunikation
Gedächtnisstütze
Vermittlung landeskundlich-interkultureller Inhalte
Grammatikhilfe.
An dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass visuelle Materialien natürlich auch ihrer Anschaulichkeit und Motivationsförderung wegen eingesetzt wurden und werden. Im modernen Fremdsprachenunterricht des 21. Jahrhunderts sind sie darüber hinaus ein wesentlicher Ausgangspunkt für Analysen, Transfer- und Kreativaufgaben.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Videorekorder erstmals gegen 1970 im Fremdsprachenunterricht Anwendung fanden.
Videos sind analoge oder digitale Aufnahmen […] und stellen eine Form von audio-visuellen Medien dar. Es sind Bewegtbilder mit oder ohne Ton bzw. Text, wobei Texte gesprochen oder geschrieben (z.B. als Untertitel, Beschriftungen) eingesetzt werden können (Porsch/Grotjahn/Tesch 2010, 147).
In Abgrenzung zu herkömmlichen Videos unterscheiden sich Videoproduktionen für den Fremdsprachenunterricht dadurch, dass sie Film(e)/-sequenzen beinhalten, die für Lerner konzipiert wurden bzw. sich an diese richten und in ihrem Lernprozess begleiten. Sie werden im Folgenden als Lernvideos bezeichnet. Fremdsprachliche Lernvideos zielen darauf ab, die Kenntnisse und Kompetenzen des Rezipienten zu initiieren und zu wiederholen oder aber zu intensivieren und auszubauen (cf. Abb. 2).

Abb. 2: Terminologische Differenzierung zwischen herkömmlichen Videoformaten und Lernvideos
Was die ersten für den Fremdsprachenunterricht konzipierten Lernvideos betrifft, so zeigt das Beispiel des Klett-Verlags, dass bereits 1981 erste Lernvideos für das Fach Englisch erschienen sind. Dabei handelte es sich um die fünf Titel: (1) Crossing the Channel, (2) Breakfast at the Clarkes, (3) Looking for a Place to Stay, (4) Shopping in the High Street sowie (5) Camping and Cooking.
Im Jahr 1986 folgten unter dem Titel Visite en France in zwei Teilen die ersten Videokassetten für das Fach Französisch. Kurze Zeit später, in den Jahren 1988 und 1989, erschienen auch für das Spanische die ersten Videokassetten im Rahmen eines zweiteiligen Selbstlernkurses mit dem Titel Spanisch zu Hause, bestehend aus Video, Hörkassette und Begleitheft. Während der Klett-Verlag mit diesen Publikationen eine Vorreiterrolle einnahm, brachte der Cornelsen-Verlag seinerseits die erste Videokassette Vidéo France: Panoramiques (1995) erst zehn Jahre danach auf den Markt.
Ähnliches gilt für den Fremdsprachenunterricht Englisch. Im Jahre 1991 – und damit vergleichsweise spät – stellte der Cornelsen-Verlag unter dem Titel Youth Wave FM die erste Videokassette für die Sekundarstufe I/II zur Verfügung. Auch im Fach Spanisch wurden Videosequenzen mit Ausnahme der Literaturverfilmung Don Quijote de la Mancha (2004) nicht vor dem Aufkommen der DVD als Speichermedium angeboten. Die erste DVD wurde erst im Jahr 2006 unter dem Titel Punto de Vista DVD im Rahmen des gleichnamigen Lehrwerkkompendiums veröffentlicht.
Noch bevor Schulbuchverlage die Nachfrage nach filmgestütztem Unterricht zu stillen vermochten, war es seit den 1970er Jahren üblich, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Dritten Fernsehprogramme pädagogisch aufbereitete Sendungen anboten, die unter der Bezeichnung Schulfernsehen für unterrichtliche Zwecke genutzt werden konnten. Die Anfänge machte der Bayerische Rundfunk (BR) im Jahr 1964, dicht gefolgt vom Westdeutschen Rundfunk (WDR) im Jahr 1969. Bis 1972 zogen alle weiteren Sender mit der Ausstrahlung von Schulfernsehen nach. Das fächerübergreifende Angebot beinhaltete zunächst Einzelsendungen und später auch bestimmte Themenreihen (cf. Schludermann 1981, 51). Zu diesem Zeitpunkt war der Film als Unterrichtstechnologie jedoch nur selten methodisch-didaktisch fundiert: „Audiovisuelle Medien [hatten] lediglich [eine] additive Enrichmentfunktion zu erfüllen, eine organische Integration in den Unterricht war nicht gegeben“ (ibid.15).
Im Vergleich zu später folgenden Konzepten von Schulfernsehen als Kontext- oder Direct-teaching-Programm kam dem Unterrichtenden ein dementsprechend großer didaktischer Freiraum zu, denn Sendungen des Schulfernsehens galten im Rahmen der Enrichment-Konzeption als unverbindliche Angebote, die der Lehrer nach eigenem Ermessen und ohne Vorgaben in seinen Unterricht integrieren konnte (cf. Protzner/Protzner 1977, 140sq.). Dennoch nahmen gerade aufgrund der großen Entscheidungsfreiheit hinsichtlich methodisch-didaktischer Vorgehensweisen und deren Unverbindlichkeitscharakter viele Lehrer zunächst eine eher skeptische Haltung gegenüber Fernsehsendungen ein und zweifelten an ihrer Effizienz (cf. Schludermann 1981, 91sq.).
Eine systematische Methodik entwickelte sich erst in den 1980er Jahren. Während der kommunikativen Wende „galten Filme als Träger von Informationen, die durch die zusätzlichen Fragen des Lehrers erschlossen wurden. Aufgabe des Lerners war es [ausschließlich], auf das Gesehene zu reagieren und die Inhalte zu reproduzieren“ (Sass 2007, 9).
Was Sendungen für die Fremdsprache Französisch angeht, so gab es neben den seit 1967 im BR ausgestrahlten Lehrsendungen des Telekollegs (e.g. Bon courage (1–3) (seit 1991), C’est ça, la vie (seit 1996))1 weitere (Sprach-)Sendungen für erwachsene Zuschauer. Hierzu zählt etwa die 39-teilige Serie Les gammas, die die Ankunft dreier humanoider Außerirdischer auf der Erde thematisierte und erstmals 1974 vom BR und weiteren Sendern ausgestrahlt wurde. Zum anderen produzierten der heutige SWR (Südwestrundfunk)2 und der WDR speziell für das Schulfernsehen die Reihen Autun en fête, (seit 1980), Un ordinateur pas ordinaire (seit 1984), La bande des quatre (seit 1985), Les Arnaud de Versailles (seit 1986) und Les trois de Lyon (seit 1988).
Rückblickend lässt sich sagen, dass bis in die 1970er Jahre videogestützter Fremdsprachenunterricht vor allem im Rahmen authentischer TV-Sendungen die Regel war, wohingegen in den 1990er Jahren eine Umorientierung zu Gunsten eigener, didaktisierter Videoproduktionen stattfand (cf. Bufe 1993, 4). Zeitgleich etablierte sich der „kommunikativ-situative, handlungsorientierte Ansatz, der aktive Lerner rückte in den Mittelpunkt des Lerngeschehens“ (Sass 2007, 9). Unter Berücksichtigung der Kognitionsforschung wurde Filmverstehen nunmehr als individueller Prozess der Informationsverarbeitung verstanden. Infolge dieser Erkenntnis findet die Filmarbeit bis heute mit Hilfe unterstützender Aufgaben vor, während und nach der Rezeption statt. Auf diese Weise sind die Lernenden „kognitiv gefordert und reproduzieren Inhalte, indem sie mündlich oder auch schriftlich das Verstandene oder ihre Interpretationen wiedergeben“ (ibid.). Ihnen kommt somit eine autonome und interaktive Lernerrolle zu.
Statt den interkulturellen und den handlungsorientierten Ansatz als zeitgeschichtliche Einzelphänomene zu beschreiben, werden diese und weitere seit der Jahrtausendwende auftauchende fremdsprachendidaktische Konzepte in der vorliegenden Arbeit unter dem Begriff des neokommunikativen Fremdsprachenunterrichts zusammengefasst. Der Begriff des neokommunikativen Fremdsprachenunterrichts geht zurück auf die Vorarbeiten von Königs (1991) und Reinfried (2001) und impliziert die Erweiterung des kommunikativen Ansatzes um Lerner- und Handlungsorientierung, Ganzheitlichkeit sowie Interkulturelles Lernen und Mehrsprachigkeitsdidaktik. In Anlehnung an Reimann (2014a, 90) kann daher von einer „Fortschreibung des kommunikativen Paradigmas unter geänderten Vorzeichen“ gesprochen werden. In Anbetracht aktueller Tendenzen ergänzt er die von Königs und Reinfried aufgestellten Leitlinien um die Schwerpunkte „Differenzierung, Inklusion, Transkulturalität, fächerübergreifendes Lernen, Aufgaben- und Standardorientierung, Multimedialität, Neubewertung der Kognitivierung sowie Metakognition“ (ibid.).
Im Zuge der neokommunikativen Phase sind weitere Videoproduktionen für den Fremdsprachenunterricht hervorzuheben. Hierzu zählt etwa die im Rahmen von Planet Schule ausgestrahlte Sitcom Extr@ aus dem Jahr 2004. Auf der Grundlage von 13 voneinander unabhängigen Einheiten alltäglicher Lebenssituationen erzählt Extr@ die Geschichte des Amerikaners Sam (bzw. des Argentiniers Hector), der in der Gemeinschaft dreier junger Erwachsener versucht, seine (kulturelle) Umgebung zu erfassen und sich selbst – trotz Sprachschwierigkeiten – verständlich zu machen. Die Sitcom ist für die Sprachen Deutsch, Französisch, Spanisch und Englisch erhältlich. Die von SWR und WDR bereitgestellten Produktionen des englischen Senders Channel 4 zielen mit Witz, Situationskomik und identitätsstiftenden Charakteren darauf ab, „die Sprache einfach und für alle Lern-Niveaus zugänglich zu machen. Sie decken den wichtigsten Wortschatz und die wichtigsten Strukturen der Zielsprache ab“ (SWR/WDR 2011). Um den Einsatz der Serie zu erleichtern, stehen auf der zugehörigen Homepage Planet Schule kostenlose Unterrichtsmaterialien und Erfahrungsberichte zur Verfügung.
In diesem Kontext ist ebenso die deutsch-französische Sendereihe Karambolage zu erwähnen, die seit 2004 jeden Sonntag um 20 Uhr auf dem binationalen Kulturkanal Arte ausgestrahlt wird. Unterteilt in verschiedene Rubriken, thematisiert die Sendung im Rahmen eines zwölfminütigen Programms kulturelle Besonderheiten des deutschen und französischen Alltags. Die präsentierten Szenen können als DVD erworben werden und in vielerlei Hinsicht für den schulischen Erwerb interkultureller und fremdsprachlicher Kompetenzen herangezogen werden. Dabei bietet insbesondere die spielerisch-visuelle Darstellung Schülern die Möglichkeit, alltagsbezogene Themen durch entdeckendes Lernen zu erschließen (cf. Küster 2010, 43sqq.; cf. Satzinger 2016, 248sqq.).
Was die Sendegebiete betrifft, so ist im Gegensatz zu früher das TV-Programm ausländischer Fernsehanstalten nicht mehr nur denjenigen zugänglich, die unmittelbar in der Nähe des Zielsprachenlands leben. Stattdessen macht es die neue Medientechnik seit geraumer Zeit möglich, Fernsehsendungen nicht nur aus Frankreich und Spanien, sondern aus aller Welt (einschließlich Frankophonie und Hispanophonie) zu empfangen.
Zusätzlich zu den Videoangeboten des (Schul-)fernsehens gibt es mittlerweile eine Vielzahl technischer Innovationen, die den Unterricht unter dem Begriff der neuen Medien maßgeblich prägen. Folglich sind im Fremdsprachenunterricht des 21. Jahrhunderts Kassette und Video fast gänzlich durch CD und DVD ersetzt worden.
Denkt man an die alten VHS-Kassetten zurück, so hatten diese aufgrund des enthaltenen Magnetbands nicht nur einen hohen Verschleiß, sondern waren darüber hinaus sehr teuer in der Anschaffung (e.g. Itinéraires: langue et civilisation françaises par la vidéo, 1992, Hachette, 60 Min., DM 198, cf. Langenscheidt 1993) und in ihrer Bildqualität begrenzt. Ganz zu schweigen von dem zeitaufwendigen Vor- und Zurückspulen und den Schwierigkeiten beim Filmerwerb.
Im Gegensatz dazu haben die neuen Speichermedien, abgesehen von geringen Anschaffungskosten, den Vorteil, dass sie neben einer hohen Speicherkapazität auch über einen besseren Klang verfügen und nicht zuletzt dank des Internets einfach und schnell zu erwerben sind. Zudem ermöglicht die direkte Titelauswahl eine einfache Handhabung für die schulische Praxis:
Szenen des Films können in Sekunden gefunden werden, da die DVD in Kapitel unterteilt ist und sogenannte Lesezeichen zulässt, mit denen man den Film in individuelle Szenen einteilen kann. DVDs stellen neben einer enormen Bildqualität auch die direkte Auswahl von Sequenzen, Standbildern, Vergrößerungen – manchmal auch Perspektivenwechsel – zur Verfügung […] und bieten Untertitel in verschiedenen Sprachen sowie zusätzliches Bildmaterial an (Grünewald/Küster 2009, 167).
Angesichts dieser Vorzüge ist es kaum verwunderlich, dass die DVD als Speichermedium aus dem modernen Fremdsprachenunterricht nicht mehr wegzudenken ist. Wie die vorausgehenden Ausführungen gezeigt haben, ist der technische Stand von heute auf eine langjährige mediengeschichtliche und fachdidaktische Entwicklung zurückzuführen, die den Einsatz statischer wie auch bewegter Bilder in Form fremdsprachlicher Lernvideos überhaupt ermöglicht haben.
Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse und unterrichtsrelevanter Publikationen kann Abbildung 3 entnommen werden. Die x-Achse dient als zeitliche Orientierung von den Anfängen Comenius’ bis hin zu den ersten fremdsprachlichen Lernvideos um die Jahrhundertwende. Die darüber liegenden Pfeile markieren dagegen die fremdsprachendidaktische Auf- und Abwertung (audio-)visueller Medien im Fremdsprachenunterricht. Sie stehen im Zeichen der sogenannten fünf großen Methoden der Fremdsprachendidaktik (Grammatik-Übersetzungsmethode, Reformbewegung/Direkte Methode, Audiovisuell global-strukturelle Methode, Kommunikativer Ansatz, Neokommunikativer Ansatz).
Was die Form des Speichermediums betrifft, so zeichnet sich parallel zum Einsatz der DVD aktuell ein weiterer Trend ab, der in den kommenden Jahren sicherlich an Relevanz gewinnen wird. Er ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.

FSU = Fremdsprachenunterricht
Abb. 3: Die mediengeschichtliche Entwicklung vom statischen Bild zu den ersten fremdsprachlichen Lehrfilmen
2.3 Onlineressourcen statt DVDs – ein künftiger Trend?
Seit der letzten Jahrhundertwende hat sich technisch einiges verändert. Während der Anfang der 1990er Jahre noch voll und ganz der Kommerzialisierung des World Wide Web verschrieben war, verkörpert das Web 2.0 gegenwärtig ganz im Gegensatz zu den Anfangsjahren ein neues Internetverständnis, das seine Nutzer sowohl zur aktiven Interaktion, Kommunikation als auch zum Daten- und Informationsaustausch befähigt, ohne dabei fachspezifische Computerkenntnisse abzuverlangen. Folglich gelten neben „Wikis [und] Weblogs […] [mittlerweile ebenso] Bild- und Videoportale“ als klassische Beispiele der netzbasierten Mitgestaltung (Grünewald 2011, 5). Unabhängig davon, wo man sich gerade befindet, erlauben jene Internetportale den direkten Zugriff und das Abspielen (audio-)visueller Inhalte.1 Diese Dienste werden jedoch nicht nur von Privatpersonen genutzt. Auch Schulbuchverlage machen sich die Möglichkeiten des Internets zu Nutze, indem sie das Speichermedium DVD zu Gunsten einer Speicherung im Web ersetzen oder parallel anbieten.
Zwar sind die Inhalte der Lernvideos innerhalb des Schulbuchsektors bisher nur vereinzelt und keineswegs flächendeckend online verfügbar, das Angebot außerhalb des Schulbuchsektors zeigt jedoch, dass das Web zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein äußerst verlockendes und vielversprechendes Medium zur Speicherung audiovisueller Inhalte darstellt (cf. Kap. 6.1.2; cf. Kap. 6.3.4.3). Dies gilt sowohl für fremdsprachliche Lernvideos als auch für sogenannte Erklärfilme (auch: Tutorials), die Schülern in Ergänzung zum Unterricht grammatikalische Themen anschaulich erklären. Letztgenannte werden seit dem Jahr 2015 auch von Schulbuchverlagen bereit gestellt (e.g. Erklärfilme zu Déc série jaune)2. Grund hierfür ist nicht allein die Tatsache, dass die Inhalte jederzeit und von überall durch nur einen Mausklick oder aber das Scannen eines QR-Barcodes aufgerufen werden können.3 Womöglich könnten sogar Produktions- und Anschaffungskosten reduziert werden. Es bleibt also abzuwarten, wie sich die Frage nach dem Speichermedium in den kommenden Jahren entwickeln wird.
3 Mentale Prozesse bei der Rezeption und Verarbeitung audiovisueller Daten
Das Medium Film hat in der Vergangenheit nur zögerlich Einzug in das fremdsprachliche Klassenzimmer gehalten. Gründe für dieses eher marginale Dasein liegen nicht zuletzt in den damit verbundenen Schwierigkeiten und Herausforderungen, die es zu überwinden und zu meistern gilt. Die anfängliche Zurückhaltung geht oft mit der Befürchtung einher, dass viele Personen mit der Bilderflut der Massenmedien kognitiv überfordert sind und in der Masse der Informationen ertrinken. Dabei ist nicht die Menge an Informationen das Problem, „sondern der effektive Umgang damit“ (Ballsteadt 2004, 12).
Bei der Rezeption audiovisueller Daten im Klassenzimmer wird der Lernende sowohl mit visuellen als auch mit verbalen Informationen konfrontiert. Unabhängig davon, wie gut das zu Grunde liegende audiovisuelle Medium ist, so ist sein Einsatz erst dann effektiv, wenn „[…] sich der Lehrer über sein Ziel, d.h. über kognitive, affektive und psychomotorische Lernziele […]“ bewusst ist (Spreitzer 1977, 117). Folglich fordert die audiovisuelle Rezeptionsdidaktik nicht nur Kenntnisse über medienimmanente Zusammenhänge (cf. Schludermann 1981, 117), sondern ebenso über die Rezeption und Verarbeitung audiovisueller Daten. Das Wissen des Lehrers über diesbezügliche mentale Prozesse stellt daher eine wichtige Grundlage für die systematische Erarbeitung von Übungsformen dar, um Schüler in ihrem Hör-Seh-Verstehen zu schulen. In diesem Sinne zielt das vorliegende Kapitel darauf ab, einen Einblick in lernpsychologische Aspekte zu ermöglichen und auf dieser Basis adäquate Übungsstrategien hinsichtlich audiovisueller Datenverarbeitung vorzustellen.
3.1 Audiovisuelle Informationsverarbeitung
Bei der Ausstrahlung audiovisueller Dokumente findet eine Informationsübertragung mittels verschiedener Sinneskanäle statt: dem visuellen und dem akustischen. Anders als bei realen Kommunikationssituationen können Sender und Empfänger audiovisueller Inhalte einander in ihren Aussagen und ihrem Sprechtempo nicht beeinflussen. Ein Eingriff in die präsentierten Inhalte ist nicht möglich, weswegen die Informationsaufnahme einseitig durch den Rezipienten stattfindet. Da es sich um eine sogenannte Einwegkommunikation handelt, besteht die Aufgabe und Leistung des Hör-Sehenden zum Zeitpunkt der audiovisuellen Rezeption darin,
informative Signale, die ihm über mehrere Sinneskanäle zugeführt werden, und die zudem ganz unterschiedlichen semiotischen Systemen angehören, auf[zu]nehmen und zu sinnvollen Bewusstseinsinhalten [zu] verschmelzen (Scherer 1984, 20).
Man spricht hierbei allgemein auch von multimodaler Sprachverarbeitung, da der mentale Apparat aus verschiedenen sensorischen Modulen besteht: dem visuellen, auditiven, gustatorischen, taktilen und olfaktorischen Modul (cf. Ballstaedt 1988, 7). Die erfolgreiche Verarbeitung der wahrgenommenen Stimuli ist abhängig von dem Zusammenspiel verschiedener psychologischer, physiologischer und physikalischer Faktoren, die in gegenseitiger Wechselwirkung zueinander stehen und zu einer einheitlichen Wahrnehmung beitragen. Die zu Grunde liegenden Verarbeitungsprozesse sind allerdings derart komplex, dass insbesondere die Frage nach dem Integrationsmechanismus „auditiver und visueller sprachlicher Information […] bisher noch nicht ausreichend geklärt“ ist (Schmid 2007, 24).
Um etwaige Verarbeitungsmechanismen besser zu verstehen und die verschiedenen Areale modalitätsspezifischer Verarbeitung zu lokalisieren, lohnt sich ein Blick in den Aufbau des menschlichen Gehirns: Demnach werden visuelle Reize im Okzipitallappen des Cortex (d.h. im hintersten Teil des Großhirns) verarbeitet, wohingegen empfangene auditive Signale in den Temporallappen (d.h. in den laterobasalen Teil des Großhirns) und taktile Informationen in den Parietallappen (auch: Schläfenlappen, d.h. in den mittleren/oberen Teil des Großhirns) geleitet werden.1
Visuelle Daten werden verarbeitet, indem das Auge optische Reize in Form von einfallenden Lichtstrahlen aufnimmt. Diese werden bei Eintreten in das Auge mehrfach gebrochen und erzeugen bei einem emmetropen (normalsichtigen) Auge eine verkleinerte und umgekehrte Projektion des betrachteten Objekts auf der Netzhaut (Retina). Dort werden die optischen Informationen durch die Photosensoren (Stäbchen und Zapfen für Dämmerungs- bzw. Farbsehen) in Nervenimpulse umgewandelt und über den Sehnerven (Nervus opticus) zum Gehirn weitergeleitet (cf. Silbernagl/Despopoulos 2012, 366sq.)
Die Verarbeitung auditiver Daten erfolgt hingegen durch die Aufnahme von Schallwellen über die Ohrmuschel in den Gehörgang, wo diese über das Trommelfell und im Mittelohr über die drei Gehörknöchelchen (Hammer, Amboss, Steigbügel) an die im Innenohr gelegene Cochlea (Ohrschnecke) weitergeleitet werden. Dies führt zu einer Aktivierung der dortigen Hörsinneszellen und Entstehung von Nervenimpulsen, die über den Hörnerven (Nervus vestibulocochlearis) zum auditiven Cortex gelangen (cf. ibid. 387sqq.).
Die sensorischen Module treffen in einem übergeordneten zentralen amodalen System zusammen, das die wesentlichen verbalen und nonverbalen Informationen mit bereits vorhandenen Konzepten abgleicht und weiterverarbeitet bzw. neue Konzepte aktiviert und in Form nichtsprachlicher Schemata organisiert (cf. Ballstaedt 1988, 10). Dieses befindet sich vermutlich in dem Bereich zwischen dem visuellen, dem auditiven und dem taktilen Verarbeitungsmodul (cf. Abb. 4).

Abb. 4: Areale modalitätsspezifischer Verarbeitung im menschlichen Gehirn (Schünke/Schulte/Schumacher 2006, 378)
Neuroanatomischen Erkenntnissen zufolge geht man weiter davon aus, dass der Gyrus angularis „die Eingänge vom visuellen, akustischen und somatosensorischen Cortex [koordiniert] und […] die Wernicke-Region [beeinflusst]“ (Schünke/Schulte/Schumacher 2006, 381). Die Wernicke-Region ist für das Sprachverständnis zuständig und steht in direkter Verbindung zur Broca-Region, die für die Sprachproduktion verantwortlich ist. Beide Sprachzentren befinden sich normalerweise in der linken Hemisphäre des Gehirns und „sind durch den Fasciculus longitudinalis superior (=arcuatus) [sic] miteinander verbunden“ (ibid.) (cf. Abb. 5). Im Hinblick auf die Sprachverarbeitung geben aktuelle Studien zudem Hinweise darauf, dass sich die neuronale Aktivierung bei der Erst- (L1) und Zweitsprache (L2) teilweise voneinander unterscheidet. Dies gilt nach dem heutigen Kenntnisstand zwar nur für gewisse Teilfunktionen, könnte für die Schulung des fremdsprachlichen Hör-Seh-Verstehens aber dennoch von Bedeutung sein (cf. Mueller/Rüschemeyer/Friederici 2006, 182).

Abb. 5: Sprachregionen der normalerweise dominant linken Hemisphäre des menschlichen Gehirns (Schünke/Schulte/Schumacher 2006, 381)
Obgleich die neuronale Verarbeitung audiovisueller Stimuli – auch im Hinblick auf das fremdsprachliche Hör-Seh-Verstehen – weiterer Forschung bedarf, haben sich innerhalb der Fachdiskussion verschiedene Theorien der audiovisuellen Informationsverarbeitung herausgebildet, deren Modelle im Folgenden kurz skizziert werden. Eine ausführliche und detaillierte Gegenüberstellung kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Bei den Grundmodellen handelt es sich um ein dualistisches, ein monistisches sowie ein alternatives Modell der audiovisuellen Informationsverarbeitung. Allen Ansätzen ist gemein, dass sie von einem 3-Stufen-System ausgehen. Die erste Stufe beschreibt periphere Prozesse und Repräsentationen, bei der die Informationen modalitätsspezifisch aufgenommen und getrennt voneinander verarbeitet werden. Unterschiede bestehen zwischen den Modellen erst ab Stufe zwei, der Phase der repräsentationalen Informationsverarbeitung. Während Vertreter der dualistischen Theorie (e.g. Paivio) annehmen, dass eine Interaktion der Kanäle erst bei der referenziellen Informationsverarbeitung in Stufe drei stattfindet, gehen Vertreter des monistischen Modells von der Speicherung beider Sinnesmodalitäten in nur einem System aus (auch: amodales System).







