Lehrwerksintegrierte Lernvideos als innovatives Unterrichtsmedium im fremdsprachlichen Anfangsunterricht (Französisch/Spanisch)

- -
- 100%
- +
In diesem Zusammenhang führte der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM) unter dem Titel Schule 2.0 eine repräsentative Studie zum Einsatz elektronischer Medien an Schulen aus Lehrersicht durch. Basierend auf einer Befragung von 501 Lehrern unterschiedlicher Fächer und Schulformen konnten überraschende Ergebnisse festgehalten werden. So gaben 91 % der Fremdsprachenlehrer an, den Beamer als häufigstes aller elektronischen Medien zu verwenden. Computer sowie Overheadprojektoren finden mit 48–63 % ebenso regulär Anwendung. Erstaunlich ist dagegen, dass DVD-Player (44 %) im Fremdsprachenunterricht von den befragten Lehrern weniger häufig benutzt werden als etwa Kassettenrekorder oder Plattenspieler (52 %). Ein Blick auf Abbildung 14 verrät darüber hinaus, dass der regelmäßige Einsatz elektronischer Medien im Fremdsprachenunterricht insbesondere im Vergleich zu MINT- aber auch zu anderen Fächern tendenziell geringer ausfällt (cf. BITKOM 2011, 18).

Abb. 14: Einsatz elektronischer Medien an Schulen aus Lehrersicht (BITKOM 2011, 18)
Obwohl Schulen verstärkt mit Informations- und Kommunikationstechnologien ausgestattet sind, kam eine weitere Bildungsstudie zu dem Schluss, dass „die Institution Schule […] nicht auf digitale Medien vorbereitet [ist]“ (Initiative D21 2011, 5). Es stellt sich also die Frage, warum der regelmäßige Einsatz elektronischer Medien trotz positiver Einstellung der Lehrer (cf. BITKOM 2011, 15) und verstärkter technischer Ausstattungen in deutschen Klassenzimmern nur relativ wenig Anwendung findet.
Gemäß der Studie der Initiative D21 ist die vorherrschende Zurückhaltung im Umgang mit Medien vor allem dadurch bedingt, dass für viele Lehrer das Schulbuch nach wie vor die sicherste Basis für die Unterrichtsgestaltung darstellt. Dementsprechend konnte im Rahmen der Erhebung folgende Bilanz gezogen werden: „Digitale Angebote müssen […] besser mit gedruckten Lehrwerken und Unterrichtsmaterialien verzahnt sein, damit sie integraler Bestandteil der Wissensvermittlung werden können und nicht sporadische Ergänzung bleiben“ (Initiative D21 2011, 5).
Angesichts der Forderung nach Aktualität und zeitgemäßem Unterricht ist das Schulbuch mehr denn je Ausgangspunkt vieler Fragen und Diskussionen. Denn gerade in den ersten Lernjahren ist das Lehrwerk von elementarer Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht. Mit Blick auf den Sprachlernprozess stellt es für Lehrende eine (ökonomische) Strukturierungshilfe mit Anregungen für den eigenen Unterricht dar, für Schüler und Eltern dient es hingegen als Orientierung für den Lernfortschritt und die im Unterricht behandelten Inhalte (cf. Leupold 2007b, 49; cf. Quetz 1999, 168; cf. Schwerdtfeger 1989, 48).
Die im Lehrwerk dargebotenen inhaltlichen Schwerpunkte und Aufgabenstellungen richten sich nach den jeweils geltenden curricularen Vorgaben, d.h. nach den aktuellen Lehr-/Bildungsplänen der Bundesländer, den länderübergreifenden Bildungsstandards sowie den europaweit anerkannten Richtlinien des GeR. Aufgrund der Tatsache, dass sich die Vorgaben dabei sowohl an den neusten fachdidaktischen Erkenntnissen als auch an Erfahrungen aus der Unterrichtspraxis orientieren, entstehen die Lehrwerke gewissermaßen „im Spannungsfeld von Bildungspolitik und Schulpraxis“ (Cornelsen 2012, Rund ums Schulbuch, 1).
In diesem Kontext steht die Schulbuchentwicklung gegenwärtig vor der Herausforderung, nicht nur den geltenden Standards zu genügen, sondern ebenso den neusten mediendidaktischen Stand zu berücksichtigen. Betrachtet man unter diesem Aspekt die Schulbücher vergangener Lehrwerksgenerationen, lässt sich feststellen, dass diese über eine enorme Methoden- und Medienvielfalt verfügen: Als Spiegelbild komplexer Unterrichtsbedingungen stehen Lehrern und Schülern seit geraumer Zeit lehrwerksergänzende Zusatzangebote in Form von Multimedia, Handreichungen sowie Übungs- und Arbeitsheften zur Verfügung. Dieser Anspruch bleibt für neue Generationen von Schulbüchern bestehen. Sie sollten gemäß den gesetzten Standards aus einem didaktisch aufbereiteten „Konglomerat von auditiven, visuellen und audiovisuellen Elementen [sowie] einem zusätzlichen Übungsheft“ bestehen (Hu/Leupold 2008, 79) und „die Anforderungen der Lehrpläne lückenlos und in didaktisch-methodisch zeitgemäßer Weise“ erfüllen (Brill 2013, 139). Im Hinblick auf die bestehenden curricularen Vorgaben bedeutet das, dass die Schulung des Hör-Seh-Verstehens ein integraler Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts sein muss. Folglich sind Begleitmaterialien wie Audio-CDs nicht mehr ausreichend, sondern müssen durch das Angebot audiovisueller Medien ergänzt werden.1
Letztere haben wie alle anderen Medien die Funktion, Schüler zu motivieren und in ihrem Lernprozess zu unterstützen. Gleichermaßen soll das Zielsprachenland ein Stück näher ins fremdsprachliche Klassenzimmer gebracht werden. Dies gelingt bei audiovisuellen Medien besonders gut, zumal sie es trotz geographischer Distanz in vielen Fällen ermöglichen, Eindrücke aus dem Zielsprachenland äußerst authentisch, greifbar und anschaulich zu vermitteln (cf. Leupold 2007b, 48sq.).
Da das Schulbuch in den Augen vieler die sicherste Grundlage für die Unterrichtsgestaltung darstellt, gilt es, das Leitmedium Lehrwerk fortan so zu gestalten, dass zeitgemäße Aufgaben und Anwendungen zum Hör-Seh-Verstehen bereitgestellt werden, die die Schüler in ihren Lern- und Arbeitsprozessen unterstützen.
Im Sinne der Medienkompetenz muss dem Lehrer mit Hilfe des Lehrwerks grundsätzlich ein Spagat zwischen mediengestütztem Lernen und Kompetenzorientierung gelingen. Nur so kann das übergreifende Bildungsziel der Lernerautonomie im Kontext von Wissensvermittlung erreicht werden (cf. Küster 2002, 39sq.). Die relevanten Methoden und Medien stehen dabei in Abhängigkeit von den zu erreichenden Lernzielen und festgesetzten Inhalten des Fremdsprachenunterrichts, wobei der Medieneinsatz im Gegensatz zu früheren didaktischen Ansätzen nicht mehr als zweitrangig anzusehen ist (cf. Schludermann 1981, 26).
Was fremdsprachliche Lernvideos betrifft, so stellt deren Entwicklung eine besondere Herausforderung dar: Curriculare Rahmenrichtlinien geben keinerlei Anhaltspunkte darüber, auf welcher Ebene Lernvideos eingesetzt werden sollen, um das Ziel eines integrierten Hör-Seh-Verstehens tatsächlich zu erreichen. Für den Laien, aber leider auch für den Experten, bleibt daher ungewiss, ob es sich um eine Integration auf sprachlicher, inhaltlicher und grammatikalischer Ebene handelt oder ob lediglich der Einsatz von Lernvideos im Sinne einer kontinuierlichen Integration in den Unterrichtsalltag gemeint ist. Richtet man sich nach den bestehenden Leitlinien, liegt die Interpretation der Vorgaben letztlich im Auge des Betrachters. Folglich bleibt Raum für unzählige Spekulationen und Mutmaßungen, auf welche Weise Lernvideos ihren Weg in die schulische Praxis finden sollen.
Allerdings bleibt an dieser Stelle zu bedenken, dass eine mediengestützte Didaktik immer nur dann greifen kann, wenn die Schulen über die nötigen technischen Voraussetzungen verfügen. Faktisch bewertet aber nur ein Viertel aller Lehrer die technische Ausstattung ihrer Schule als gut oder sehr gut – 72 % aller Fremdsprachenlehrer dagegen als mittelmäßig bis sehr schlecht (cf. BITKOM 2011, 30sqq.). Angesichts dieses Ergebnisses einer Umfrage im Rahmen der Studie Schule 2.0 stellt sich die Frage, wie trotz technisch mangelhafter Ausstattung die Kompetenz des Hör-Seh-Verstehens anhand audiovisueller Materialien geschult werden kann.
Etwaige Lösungsansätze führender Schulbuchverlage können dem weiteren Verlauf dieser Arbeit entnommen werden (cf. Kap. 6.3.4.3). Es sei vorab darauf hingewiesen, dass im Fall technisch mangelhaft ausgestatteter Schulen die seit 2012/13 von den Verlagen Klett und Cornelsen für den Französischunterricht bereitgestellten Lernvideos von großer Hilfe sind, da sie mit dem Erwerb des zugehörigen Übungshefts jedem Schüler individuell zur Verfügung stehen. Das hat den Vorteil, dass Lehrer unabhängig von der technischen Ausstattung ihrer Institution Hör-Seh-Verstehen nahezu uneingeschränkt schulen können, zumal die Schüler von zu Hause aus auf das Medium zugreifen können.
Hinzu kommt, dass insbesondere die seit 2012 auf dem Markt erschienenen Lernvideos auf die spezifischen Kompetenzen und Bedürfnisse des Anfangsunterrichts zugeschnitten sind. Zwar bestehen gemäß des GeR noch keine europaweit gültigen Deskriptoren zum Hör-Seh-Verstehen auf der Niveaustufe A1, die frühe Einsatzmöglichkeit ebendieser Lernvideos kommt jedoch der Forderung des Lehrplans nach, Medien an geeigneter Stelle bereits im Anfangsunterricht einzusetzen. Damit gelingt es den besagten Verlagen, der Diskrepanz zwischen Lehrplan und GeR zumindest ein Stück weit entgegenzuwirken (cf. Kap. 6.3).
Insgesamt kommt dem modernen Lehrwerk durch die bewusst systematische Aufnahme von Lernvideos eine richtungsweisende Bedeutung zu, die „im günstigsten Fall auch Neuerungen in den Unterricht“ (Quetz 1999, 168) transportiert und belegt, dass Lehrwerk und technischer Fortschritt einander nicht ausschließen. Die überarbeitete Konzeption geht einher mit einer regelrechten Aufwertung des Lehrmaterials, da neben den traditionellen Basiskompetenzen auch die zeitgemäße Schulung des Hör-Seh-Verstehens hinreichend Berücksichtigung findet.
5 Kompetenzerwerb durch Lernvideos: Diskursfähigkeit, Medienkompetenz und Differenzierungsmöglichkeiten
Lernvideos leisten in vielerlei Hinsicht einen Beitrag zum fremdsprachlichen Kompetenzerwerb. Ausgehend von den curricularen Forderungen nach einem integrierten Hör-Seh-Verstehen als Teilfertigkeit des Sprachlernprozesses ermöglichen sie eine einzigartige Bündelung von Kompetenzen, deren Zusammenspiel die Ausbildung fremdsprachlicher Diskurs- und Handlungsfähigkeit begünstigt. Letztere umfasst neben funktional-kommunikativen, transkulturellen und Sprachlernkompetenzen auch Sprachbewusstsein und Medienkompetenz. Im Sinne einer individuellen Förderung, die den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und Bedürfnissen der Schüler gerecht wird, sollten beim Einsatz von Lernvideos zusätzlich Strategien zu Gunsten eines differenzierten Kompetenzerwerbs herangezogen werden.
Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung verschiedener Hör-Seh-Beispiele zeigt dieses Kapitel auf, inwiefern Lernvideos den Erwerb der zuvor genannten Kompetenzen unterstützen können. Neben Förderungsmöglichkeiten zur Schulung funktional-kommunikativer Fertigkeiten soll deren Potential als Wegbereiter für transkulturelle Kompetenzen sowie Sprachlernkompetenz, Sprachbewusstheit und Medienkompetenz vorgestellt werden, sodass abschließend auf Szenarien eines differenzierten Kompetenzerwerbs eingegangen werden kann.
5.1 Förderung funktional-kommunikativer Kompetenzen durch Lernvideos
Lernvideos haben ein hohes Kommunikationspotential. In Ergänzung zu textbasiertem Lehrmaterial sind sie integraler Bestandteil der Fremdsprachenvermittlung. Zu den Unterrichtszielen zählt jedoch nicht nur das erfolgreiche Decodieren und Interpretieren eines audiovisuellen Inputs. Entscheidend ist, dass der Lerner neben der Anwendung diverser Strategien zur Bildentschlüsselung auch in der Lage ist, auf der Basis des audiovisuellen Inhalts auf unterschiedlichen Ebenen zu interagieren. Dies betrifft insbesondere die Fähigkeit, andere – mündlich, schriftlich oder darstellerisch – am eigenen Hör-Seh-Verstehen teilhaben zu lassen und miteinzubeziehen.
Die kommunikative Kompetenz umfasst mehrere Teilfertigkeiten und ist in diesem Zusammenhang „eng mit dem Erwerb und der Verfügbarkeit von grundlegenden sprachlichen Mitteln verbunden: Wortschatz, Grammatik, Orthographie, Aussprache und Intonation“ (HKM 2011, 16). Wie im Folgenden veranschaulicht wird, besteht eine enge Verbindung zwischen produktiven und rezeptiven Aufgabentypen der Hör-Seh-Verstehensschulung. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass sich deren Entwicklung gegenseitig beeinflusst und unterstützt.
5.1.1 Rezeptive Kompetenzen
„Das Verhältnis gesprochener zu geschriebener Sprache [beträgt] in der täglichen Kommunikation […] 95 % zu 5 %“ (Thaler 2007b, 12; cf. Kieweg 2000, 5). Inwieweit diese Pauschalisierung zutrifft, sei allerdings offen gelassen, da nicht alle Sprachen über eine autonome Verschriftlichung verfügen.1 Dennoch unterstreicht das Zitat die Wichtigkeit der gesprochenen Sprache und somit die Funktion des Hörens als notwendige Bedingung für sprachliche Interaktionen und als Teil des sozialen Handelns.
Audiovisuelle Medien bieten einen sehr guten Zugriff auf authentische und unverfälschte Aussprache, weil sie diverse Register und Varietäten der Zielsprache präsentieren. Für Fremdsprachenlernende ist insbesondere das Kennenlernen von Phänomenen der gesprochenen Sprache (code parlé) von großer Bedeutung. Gerade im Französischen aber auch im Spanischen kommt es im Alltag immer wieder zu Äußerungen, die von der standardisierten Schriftsprache abweichen. Hierbei handelt es sich um teilweise erhebliche Differenzen auf lexikalischer und grammatischer Ebene, um Ellipsen oder Versprecher. Mit Hilfe von Lernvideos können Lernende in ihrem Sprachbewusstsein für eben diese sprachlichen Besonderheiten sensibilisiert werden.2 „Wird dieser Typ von Sprache nicht vermittelt, dann schränkt dies auch das Verstehen […] ein“ (Meißner 2001, 361). Der Sprachlerneffekt ist insofern gegeben, als Lerner darauf vorbereitet werden, spezifische Merkmale der Alltagssprache zu verstehen. Dies wirkt sich wiederum positiv auf ihre sprachliche Kommunikations- und Handlungsfähigkeit aus und ist von hoher transkultureller Bedeutung (cf. Reimann 2011, 124).
Die Schulung verschiedener Varietäten und Sprachregister umfasst natürlich auch den systematischen Aufbau einer allgemeinen Hörverstehenskompetenz. In Anlehnung an das zu Grunde liegende Lernziel und Material empfiehlt es sich, zwischen selektivem, Detail- und Globalverstehen zu unterscheiden. Dementsprechend variieren auch die zugehörigen Aufgabentypen zwischen Lückentexten, richtig/falsch-Aufgaben, oder dem globalen Erfassen der Gesamtsituation. An dieser Stelle ist auch denkbar, dass die Bildspur ausgeblendet wird oder Geräuschen Sinn verliehen wird. Ein klassisches Beispiel ist das Hineinfühlen und Vertrautmachen mit (Film-)Musik: Nur ein kurzer Ausschnitt genügt, um Gefühle zu wecken, Assoziationen herzustellen oder Vermutungen über den Film anzustellen.
Gleichermaßen haben bestimmte Äußerungen von Schauspielern aufgrund von Übertreibungen oftmals einen besonders einprägsamen Charakter, der zum Nachahmen einlädt und daher besonders stimulierend und einprägsam ist.
Gesellt sich zum Hören noch das Sehen, kommt zur authentischen Sprache die beobachtbare Handlung dazu, paralinguistische Handlungsmerkmale werden sichtbar, aus den disembodied voices werden beobachtbare native-speakers, landeskundliche Elemente werden seh-/einseh-/verstehbar, Bilder können genauere Informationen liefern, visuelle Markierungen fungieren als Erinnerungshilfe, der Weltausschnitt erweitert sich, Lernen wird einsichtiger und motivierender (Thaler 2007b, 12).
Um den Umgang, d.h. die Decodierung und Identifikation der soeben beschriebenen chaîne parlée visualisée zu schulen, empfiehlt es sich, die Aufmerksamkeit phasenweise entweder auf das Hör- oder Sehverstehen zu legen. Hintergrund ist der, dass das gezielte Ausblenden der Bildspur zu einer erhöhten Konzentration bei der Hörverstehensleistung führen kann. Umgekehrt trägt das Ausblenden der Tonspur zu einer Schärfung des Sehvermögens bei. Voraussetzung ist in beiden Fällen natürlich eine geeignete Aufgabenstellung sowie eine für diesen Übungstyp geeignete Filmszene. Um dies zu gewährleisten, greift das Lehrwerk bzw. das zugehörige Übungsheft in der Regel auf konkrete Beobachtungsaufgaben zurück, die diverse Kategorien betreffen und mithilfe vorgegebener Raster oder Zuordnungsübungen gelöst werden können. Trotz des zuletzt aufgeführten Beispiels werden die Teilfertigkeiten Hör- bzw. Sehverstehen nur in Einzelfällen isoliert berücksichtigt. So genießt vor allem die alleinige Schulung des Sehverstehens einen Ausnahmestatus (e.g. Lernvideo Minotauromaquia – Pablo no laberinto von Juan Pablo Etcheverry in Rutas). Die Regel ist stattdessen ein kombiniertes Hör-Seh-Verstehen, welches als Ausgangspunkt für anknüpfende Aufgaben fungiert.
Obgleich die Kompetenz des Sehverstehens bislang nur vereinzelt Beachtung durch lernvideobezogene Aufgabentypen findet, obliegt dem Medium ein unvergleichbares Potential hinsichtlich dessen Schulung. Dieses Potential wird umso deutlicher, wenn man das von Reimann vorgeschlagene integrative Modell des Sehverstehens auf Lernvideos überträgt.3 Demnach vermag der Einsatz von Lernvideos die Sphären des interkulturellen und des analytisch-interpretatorischen Sehverstehens zusammenzuführen. Infolgedessen öffnet sich der Fremdsprachenunterricht für neue, bislang vernachlässigte Dimensionen des Sehverstehens, die sich von der visuell-nonverbalen Ebene, dem konversationellen Kontext und künstlerisch-modellierten, kulturgebundenen Visualisierungs- und Deutungskonventionen über statische und bewegte Bilder bis hin zur Diskontinuität von Texten (Lese-Seh-Verstehen) erstrecken (cf. Reimann 2014b, 213sqq.; 2016, 26sqq.).
Diese und weitere rezeptiv angelegte Übungsdimensionen ergeben sich sowohl durch eine intensive Rezeptionsschulung als auch durch die Arbeit mit ausgewählten Zusatzmaterialien. Letztere stehen mit dem Erwerb der Lernvideos zur Verfügung und gestatten beispielsweise einen Blick hinter die Kulissen des Filmdrehs. Des Weiteren können, abgesehen von Untertiteln, die dazugehörigen Transkripte zur vertieften Textarbeit herangezogen werden. Im Falle authentischer Beiträge eignet sich darüber hinaus die Arbeit mit Filmkritiken oder Sachtexten, die Hintergrundinformationen zum behandelten Thema enthalten (cf. Veneman 2012, 3). Auf diese Weise tritt auf der Basis des Hör-Seh-Verstehens die Förderung des Leseverstehens und anderer Fertigkeiten in den Vordergrund des Sprachlernprozesses.
5.1.2 Produktive Kompetenzen
Gemäß den in den frühen 1970er Jahren formulierten Prinzipien des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts (cf. Kap. 2.2) können die während der Rezeption gewonnenen audiovisuellen Eindrücke für eine Vielzahl an Sprech- und Schreibanlässen genutzt werden. Der Stimulus zur Kommunikation ist bereits in den Phasen vor und während dem Sehen gegeben, da sowohl sprachliches als auch thematisches Vorwissen und Wortschatz aktiviert werden.
Produktive Kompetenzen wie etwa Sprechen, Schreiben, Schauspielern oder Sprachmittlung finden in der Regel während oder nach der Filmarbeit Anwendung. Ein Grund hierfür ist, dass der Rückgriff auf zuvor Gesehenes Mutmaßungen über das weitere Geschehen erlaubt. Das bedeutet konkret, dass beispielsweise Handlungen antizipiert und Charaktere beschrieben werden können. Des Weiteren kann der Schluss des Lernvideos durch Schülerhand verändert oder bei offenem Ende selbst gestaltet werden. Gerade Lernvideos mit offenem Ende (cf. A+ Nouvelle édition (1) – Unité 7, p.65 ex.9, Track 30) erleichtern die Kommunikation im Unterricht, da sie den Lernenden Interpretationsräume eröffnen, „bei denen es kein richtig oder falsch gibt“ (Schrader 2007, 18). Die mitunter fragmentarisch dargestellten Merkmale von Gegenständen, Personen oder Ereignissen wirken auf den Betrachter reizvoll und werden zur Herausforderung, die fehlenden Fragmente zu ergänzen und zu diskutieren. Dieses natürliche Ergänzungsprinzip kann dann im Unterricht als Impuls zum freien Sprechen genutzt werden (cf. ibid. 18sq.). Etwaige offene Formate stellen bei Lernvideos bisher allerdings die Ausnahme dar.
Im Hinblick auf Sprech- und Schreibanlässe verfügen insbesondere Standbilder über großes Potential. Sie können beschrieben, gedeutet und versprachlicht werden und laden zur Interpretation und Assoziation von Geschichten ein (cf. Rössler 2007, 18). Standbilder sind entweder im Rahmen des Zusatzmaterials des Lernvideos vorhanden oder können durch die Pause-Taste des DVD-Players hervorgerufen bzw. durch eine einfache Tastenkombination (Mac: CMD + SHIFT + 3; Windows XP: ALT + DRUCK) als Screenshot erstellt und gespeichert werden. An dieser Stelle ist jedoch zu beachten, dass die Mehrheit aller Lernvideos einem Kopierschutz unterliegt, weshalb die Erzeugung eines Screenshots nur in wenigen Fällen gelingt.
Eine weitere Möglichkeit ist es, sowohl bei Standbildern als auch bei längeren Sequenzen Dialoge zu verfassen oder aber (bei ausgeblendeter Tonspur) einen Sprecherkommentar zum Film zu entwerfen. In diesem Kontext bietet es sich an, dass sich die Lernenden in die Rolle einer der gezeigten Figuren hineinversetzen und das Erlebte aus deren Perspektive berichten. Das aus einem dieser kreativen Ansätze entstandene Produkt kann dann schauspielerisch von den Schülern inszeniert und im Plenum vorgestellt werden. Ähnlich wie bei der Arbeit mit Spielfilmen ist es bei manchen Lernvideos zudem möglich, Handlungsalternativen zu überlegen oder das Filmgeschehen auf eine parallele Situation aus der eigenen Lebenswelt zu übertragen.
In manchen Fällen ist es denkbar, Lernvideos zur Sprachmittlung zu nutzen. Vor allem schwierige Textpassagen können unter Rückgriff auf die Muttersprache verständlich gemacht werden. In Ergänzung zu inhaltlichen Zusammenfassungen bietet es sich an, Lernende sowohl in der Mutter- als auch in der Fremdsprache Untertitel entwerfen zu lassen und diese mit dem Originalton zu vergleichen. Im Hinblick auf Sprachmittlung können ebenso Artikel und Informationen zu den Darstellern wie auch dem Thema des Lernvideos herangezogen und in die Zielsprache übersetzt werden (cf. Veneman 2012, 4sq.).
Schließlich dienen einige der Hör-Seh-Übungen auch dazu, lektionsspezifische grammatikalische Phänomene oder Vokabular einzuüben und zu vertiefen. Dies geschieht in der Regel im Rahmen der oben genannten Übungsformen, indem Hör-Seh-Aufträge in Form von Beobachtungs-, Lücken-, Kreativ- oder Transferaufgaben weiterverarbeitet und mit lektionsspezifischen Inhalten in Verbindung gebracht werden.
5.2 Transkulturelle Kompetenzen
Angesichts der das 21. Jahrhundert charakterisierenden Globalisierung, der weltweiten Mobilität und des stärker zusammenwachsenden Europas steht der fremdsprachliche Unterricht aktuell vor der Herausforderung, Schüler zusätzlich zu der Ausbildung rein sprachlicher Qualifikationen für den stetig intensiver werdenden Kontakt und Austausch mit anderen Kulturen zu sensibilisieren.
Durch die Entstehung dieses neuen Lernkontextes ist die Institution Schule unter Rückgriff auf den jeweils geltenden Lehrplan darum bemüht, Lernenden einen Einblick in andere Kulturkreise zu gewähren. Dies geschieht durch den Einsatz von Medien, Methoden und Inhalten und ermöglicht „die Vermittlung von Sprache und Landeskunde [als] […] Voraussetzung interkultureller und transnationaler Kommunikationsfähigkeit“ (Hervorhebung im Original) (HKM 2010b, 2).
Laut dem Modell nach Reimann (2011, 136sq.) setzt sich transkulturelle Kompetenz aus zwei Dimensionen zusammen, die er wie folgt definiert:
zum einen, im eher etymologischen Sinn, als eine […] Kompetenz, welche, in Vervollkommnung interkultureller Kompetenz, über die im Fremdverstehen begründete Toleranz derselben hinaus idealtypisch zu einer Überwindung kommunikativer Grenzen oder Barrieren zwischen zwei oder mehreren konkreten Sprach- und Kulturräumen führt […], wobei diese durchaus als different gedacht werden. Zum anderen ergibt sich die Notwendigkeit transkultureller Kompetenz aus der nicht mehr zu verleugnenden permanenten Verflechtung verschiedenster Kulturen in einer globalisierten Welt, welche zur Integration idealerweise weltweiter – mehr als nur homogen gedachter, einzelne Sprach- und Kulturräume betreffender – kommunikativer Bedürfnisse, Handlungen und Kompetenzen führt.
Visuelle Kompetenz ist in diesem Sinne ein wesentlicher Bestandteil transkulturellen Lernens: Sie ist kulturgebunden, denn Bilder (ent-)stehen in direktem Zusammenhang mit den Konventionen eines Landes. Folglich variiert auch deren Bedeutung und Interpretation gemäß dem ihnen zu Grunde liegenden kulturellen Kontext.







