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Ich gehe an das über zwei Meter grosse Fenster, das von der Decke bis zum Boden reicht und lasse meinen Blick über die Stadt und in die Ferne schweifen, wo ich sogar die Themes ausmachen kann und sehe, wie sie sich durch London schlängelt. Aber auf die Strasse unter mir, riskiere ich keinen Blick, sonst werde ich noch von Schwindel befallen. Schliesslich befinde ich mich im fünfundvierzigsten Stock, knapp hundertfünfzig Meter über Boden. Ich hätte mir niemals ausmalen können, irgendwann in dieser Höhe zu arbeiten. Ganz zu schweigen davon, dass ich mal in London leben werde. Und jetzt bin ich hier.
Ich gehe zurück an meinen Schreibtisch und frage mich, was ich nun machen soll. Soll ich hier warten, bis endlich jemand kommt und mich in meine neuen Aufgaben einarbeitet oder wäre es vielleicht klüger das Büro meines Vorgesetzten aufzusuchen? Ich brauche nicht lange darüber nachzudenken und trete wieder in den Flur hinaus.
Während ich den Korridor entlanggehe, komme ich an anderen Räumen vorbei und lächle jedem zu, der mir einen Blick entgegenwirft. Als ich am Ende des langen Ganges in einen Vorraum vor Mr. Bakers Büro trete, erkenne ich die Frau wieder, die mich schon bei meinem Vorstellungsgespräch empfangen und sich als Mr. Bakers Sekretärin vorgestellt hat. Sie lächelt mir zwar zu, während sie von Bakers Tür auf mich zukommt, aber es erscheint mir genauso kalt, wie ihr Charakter auf mich wirkt. Schon bei meinem ersten Besuch hatte ich ein eigenartiges Gefühl bei ihr. Ich kann mir nicht erklären warum, aber sie erweckt in mir das eigenartige Gefühl, als müsse ich mich bei ihr in Acht nehmen. So wie bei Michael. Nur dass ich es bei ihm viel zu spät festgestellt habe.
Auch dieses Mal trägt sie ein makelloses Kleid. Ein Ensemble aus weisser Seide. Dazu passenden Schmuck, perfekt manikürte Fingernägel und ein stark geschminktes Gesicht. Was für meinen Geschmack, für den beruflichen Alltag, zu aufgedonnert ist. Und wieder frage ich mich, wie sie diese teuren Sachen leisten kann. Hat sie als persönliche Sekretärin einen derart guten Lohn, dass sie sich mit solchen Kostbarkeiten eindecken kann? Ich kann mir jedenfalls kein Bild davon vor Augen führen. Aber vielleicht bin ich ja einfach nur eifersüchtig auf sie. Was ich mir wiederum nicht erklären könnte.
„Sie haben den Job also gekriegt?“ fragt mich die Blondine in einem herablassenden Ton und etwas zu hoher Stimme. „Mr. Baker hat mich soeben informiert, dass Sie heute erscheinen werden und mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass er gleich Zeit für Sie hat. Nur einen kleinen Moment.“
„Danke.“ Ich bleibe stehen, wo ich bin. Die Möbel scheinen in der ganzen Firma das gleiche Muster zu haben und aus demselben Holz zu stammen. Genau wie in Mr. Meyers Büro. Cremefarbene Wände und Möbel aus Mahagoni.
Ich bin angenehm überrascht, dass der Inhaber dieser Firma sich nicht scheut für sein Personal ebenfalls so viel Geld auszugeben, wie für sich selbst. Meine Gedanken schweifen zu jenem Gespräch vor einer Woche zurück. Abermals betrete ich Damian Meyers Büro und sehe ihn hinter seinem riesigen Tisch, wie er lässig dahinter sitzt und seine Augen über mich schweifen lässt. Als wäre ich eine seltene Schönheit oder auch das genaue Gegenteil.
Seine glänzend braunen Augen, die mich jedes Mal an ein grosses Raubtier erinnern, wenn ich sie in meinem Gedächtnis wiedersehe, gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie zogen mich damals sofort in seinen Bann und liessen mich nicht mehr los. Bis jetzt nicht.
„Hat man Ihnen Ihr Büro schon gezeigt?“
Erschrocken drehe ich mich um und sehe genau in jene Augen, die soeben noch meine Gedanken beherrscht haben. „Äh...ja. Nein.... Also.“ Ich stottere wie ein Kleinkind herum, das man bei etwas Verbotenem ertappt hat. Dafür könnte ich mich ohrfeigen.
„Guten Morgen Miss Weber.“ Er lächelt mich an und reicht mir seine Hand zur Begrüssung, die ich schnell ergreife. Vielleicht eine Spur zu schnell.
„Tut mir leid. Guten Morgen Mr. Meyer. Ich habe Sie nicht gehört. Sie haben mich ein wenig überrascht.“
Er löst seine Hand von meiner. „Das habe ich bemerkt.“ Wieder dieses freundliche Lächeln. „Und haben Sie?“
„Was habe ich?“ frage ich ahnungslos.
„Ihren Arbeitsplatz gefunden?“ Ich bin ihm dankbar dafür, dass er sich in unserer Muttersprache mit mir unterhält. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass Mr. Bakers Sekretärin jedes Wort von unserer Unterhaltung mitanhören würde, wenn sie es verstehen könnte.
„Ja. Ich warte nur noch auf Mr. Baker, damit er mich in meine neuen Aufgaben einführt.“
„Gut. Dann wünsche ich Ihnen einen guten Start und heisse Sie herzlich willkommen bei Meyer Enterprises.“ Ohne ein weiteres Wort geht er weiter zu Bakers Assistentin.
Ich höre, wie er ihr einen guten Morgen wünscht. Mit jener weichen Stimme, wie er mich willkommen hiess. Warum sollte er nicht alle auf die gleiche Art begrüssen wie mich? Ich hebe meine Augenbrauen und verdrehe die Augen, um mich selbst zu tadeln, weil ich annahm, er würde mich als jemand besonderen betrachten.
Mir schwirrt beinahe der Kopf. Zwar war der Tag sehr interessant, aber trotzdem bin ich froh, dass ich endlich in mein Hotelzimmer, das ich seit gut zwei Wochen bewohne, zurückkehren kann. Ich habe viele neue Leute kennengelernt und von Mr. Baker etliche Erklärungen und Papiere erhalten, die meine Aufgabe in der Firma Meyer Enterprises betreffen.
Auch wenn die Arbeit nicht so anspruchsvoll sein wird, wie meine letzte als Chefin der Buchhaltung, freue ich mich trotzdem sehr darüber, dass ich die Stelle in der Kreditabteilung erhalten habe und die damit verbundene Chance in London ein neues Leben aufzubauen.
Mrs Morgan hatte kein bisschen damit übertrieben, als sie meinte, dass die Meyer Enterprises wie eine Grossfamilie sei. Alle gehen freundlich, hilfsbereit und respektvoll miteinander um, ausser die Superblondine von Mr. Baker, wie ich sie insgeheim getauft habe. Sie scheint bei fast allen ein Dorn im Auge zu sein. Sicher bei den Frauen. Bei den männlichen Arbeitskollegen ist das etwas schwieriger zu beurteilen.
Ich schlüpfe aus meinen Stiefeletten und falle erschöpft auf das breite Bett, das zusammen mit einem Kleiderschrank und einem kleinen Sekretär das Zimmer schmückt. Der Raum ist zwar nicht gross, aber er erfüllt seinen Zweck.
Viel lieber wäre ich jetzt in meiner alten Wohnung. Mit meinen persönlichen Möbelstücken und meinem Vater in der Nähe, den ich unheimlich vermisse. Und doch ist mir bewusst, dass der Neubeginn in London, die richtige Entscheidung ist, so schwer mir dieser Schritt auch fallen wird.
Kurzerhand überlege ich mir meinen Dad anzurufen, da klingelt schon mein Telefon. Schmunzelnd nehme ich den Anruf entgegen. „Du kannst wohl Gedanken lesen?“
„Ich habe dich vermisst. Wie geht es dir mein Liebling?“
„Soweit ganz gut.“
„Wie war dein erster Arbeitstag?“
„Gut.“
„Nur gut?“ hakt er nach.
„Nein, nicht nur gut. Die Leute da sind wirklich nett. Nicht so wie...wie...“
„Du brauchst es nicht auszusprechen, meine Liebe. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass deine neuen Mitmenschen dich so sehen, wie du wirklich bist und dass du dich wohl fühlst, da wo du jetzt bist.“
„Ach Dad. Es klingt ja beinahe so, als hättest du keine Ahnung, wo ich bin. Dabei weisst du ganz genau, wo ich mich aufhalte und du kennst meine Telefonnummer. Du kannst mich jederzeit anrufen oder mich besuchen. Das haben wir abgemacht, oder?“
„Ja, das haben wir abgemacht.“ murmelt mein Vater am anderen Ende der Leitung in den Hörer. „Nur haben wir meine Flugangst vergessen.“
„Du kannst mit dem Auto kommen.“
„Ja.“ Er klingt plötzlich ziemlich bedrückt.
„Ich werde dich bald besuchen.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
„Geht es dir auch wirklich gut?“
„Gut wäre etwas übertrieben. Aber mit jedem Tag, an dem ich weit von ihm entfernt bin, geht es mir besser.“
„Ich wünsche es dir.“
„Ich weiss.“ Ein kurzer Moment herrscht eine angespannte Stille in der Verbindung, bevor mein Dad sie vorsichtig beendet. „Sandy hat nach dir gefragt.“
„Was hast du ihr gesagt?“
„Das Übliche. Aber ich weiss nicht, wie lange ich sie noch hinhalten kann. Was soll ich ihr nur sagen?“
„Dass ich sie schrecklich vermisse.“
„Willst du dich nicht wenigstens bei ihr melden?“
„Das geht nicht.“ Meine Stimme klingt brüchig. Verzweifelt versuche ich meine innere Unruhe zu überspielen. Nur dass es vor meinem Vater nicht verborgen bleibt.
„Ach Jessica. Es tut mir im Herzen weh, dich so leiden zu hören.“
„Es wird schon wieder. Das habe ich mir geschworen.“
„Das ist mein starkes Mädchen. Ich hab dich lieb.“
3.
Die Fahrstuhltüren gleiten auf und ich trete in den Flur der fünfundvierzigsten Etage. Bereits seit vier Wochen gehe ich jeden Tag durch diesen Korridor in mein Büro. Sogar an den Wochenenden bin ich für ein paar Stunden hier, genau wie an diesem Sonntag.
Irgendwie kann ich von Glück sprechen, dass meine Vorgängerin so ein Durcheinander hinterlassen hat. Somit fehlt es mir keineswegs an Arbeit und kann so meinen einsamen Tagen etwas entfliehen. Und den Fragen meiner Mitbewohnerin gezielt ausweichen.
Seit gut drei Wochen teilt Mira nicht nur ihr Büro bei Meyer Enterprises mit mir, sondern auch ihre Wohnung. Sie ist ein wahrer Engel, wie auch Rose Morgan. Kaum habe ich hier begonnen zu arbeiten, boten mir beide ihre Hilfe an, was ich sehr zu schätzen weiss. Und obwohl ich ihnen sehr dankbar für ihre Unterstützungen bin, kann ich ihren Fragen, die aus berechtigten Sorgen herbeigeführt werden, keine Antworten liefern. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ein Teil von mir würde gerne über meine Schwierigkeiten sprechen, doch der andere ist noch viel zu weit davon entfernt.
Durchaus wissen sie, wann sie mich nicht weiter bedrängen dürfen, aber irgendwann bin ich ihnen einige Erklärungen schuldig, was mein eigenartiges Benehmen gegenüber anderen betrifft. Ich wünsche mir nur, dass sie mir dafür genug Zeit geben werden. Denn ich habe sie in dieser wenigen Wochen, in der ich in London lebe, schon ziemlich lieb gewonnen.
Es ist ruhig in den Räumen, die an mein Büro grenzen. Schliesslich ist heute Sonntag. Wer ausser mir sollte sonst noch anwesend sein? Niemand ist so verrückt und geht an seinen freien Tagen arbeiten. Das musste ich schon einige Male von Mira anhören. Was ja im Grunde genommen auch stimmt. Aber für mich ist es der einzige Weg vor meiner Bedrückung und den schrecklichen Erinnerungen zu fliehen, die mich immer noch täglich einholen.
Ich streife meinen Schal ab und ziehe meine Handschuhe aus, die mich vor der eisigen Kälte beschützen, die ausserhalb des Wolkenkratzers herrscht und lege alles über die Garderobe. Während ich mir den Mantel aufknöpfe, trete ich ans Fenster und blicke auf die Stadt hinunter. Ich betrachte die funkelnden Lichter der Weihnachtsbeleuchtungen, die fast an jedem Gebäude angebracht sind und die noch immer leuchten, weil der dichte Nebel die Dunkelheit nicht vertreiben lässt.
Nicht mal mehr einen Monat dann ist Weihnachten. Alle werden die Feiertage mit ihren Geliebten verbringen. Sie werden sich glücklich um einen Tisch versammeln und ein feines Essen geniessen, das die Mutter mit ihren Kindern zubereitet hat, während ich mich in diesem Raum aufhalten werde, weil ich zu grosse Angst habe, nach Hause zu meinem Dad zu gehen. Ich habe ihn nun schon seit über sechs Wochen nicht mehr gesehen. Das gab es in meinem ganzen Leben noch nie. Ich vermisse ihn. Auch wenn wir fast täglich miteinander sprechen, ist es nicht das Gleiche, wie wenn ich ihm in die Augen sehen könnte.
Deprimiert seufze ich auf und drehe mich um, um mich endlich an den Schreibtisch zu setzen und mich in die Arbeit zu stürzen. Gerade als ich einen Schritt nach vorne machen möchte, bleibe ich wie versteinert stehen und ein erschrockener Schrei dringt aus meiner Kehle, als ich den Mann entdecke, der im Türrahmen steht, der mich von oben bis unten mustert und dabei seine Stirn in tiefe Falten zieht.
„Was tun Sie hier?“ fragt er mich mit ernster Miene.
Plötzlich habe ich das Gefühl etwas Unrechtes zu tun, dass es verboten ist, am Wochenende hier zu sein. „Ich... ich wusste nicht, dass Sie hier sind, Mr. Meyer.“ antworte ich ihm kaum hörbar. „Ich dachte ich wäre alleine und könnte etwas von der Arbeit aufholen, die liegen geblieben ist. Aber wenn sie das nicht möchten, werde ich wieder gehen.“ Sofort knöpfe ich meinen Mantel wieder zu. Doch bevor der letzte Knopf geschlossen ist, legt mein Chef seine Hand auf meinen Arm, woraufhin ich unverzüglich einen Schritt von ihm abrücke. Schreckliche Bilder flammen vor meinem inneren Auge auf. Meine Hände beginnen zu Zittern und stecke sie rasch in meine Manteltaschen, damit er mein Beben nicht sehen kann.
„Miss Weber, alles in Ordnung?“
Ich kenne den Ausdruck in seinen Augen. Schon so viele haben mich mit Blicken der Verständnislosigkeit angesehen. Ich ertrage dieses Mienenspiel nicht mehr und starre deshalb zu Boden. „Ich... Ja... Alles Bestens.“ Was sollte schon sein? Was sollte ich ihm sagen? Dass ich Angst hatte, er würde mich in seine Arme reissen, mich küssen und überall berühren, um mir danach einen Fusstritt in den Magen zu verpassen?
„Tut mir leid, wenn ich Ihnen das nicht abnehme, Miss Weber. Denn Sie erwecken den Eindruck, als hätten Sie gerade einen Geist gesehen.“ Seine Stimme klingt sanft und irgendwie beruhigend, was mich veranlasst den Kopf zu heben.
Ich sehe direkt in seine braunen Augen, die mich eindringlich beobachten und die rein gar nichts mit den Augen gemein haben, die mich in jeder Nacht in meinen Albträumen verfolgen. „Es ist alles gut, wirklich Mr. Meyer.“ Wem versuche ich das einzureden? Ihm oder mir selbst?
„Bin ich Ihnen zu nahe getreten? Wenn das der Fall ist, möchte ich mich dafür entschuldigen. Das war nicht meine Absicht.“
„Nein. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“ Ich versuche an ihm vorbeizugehen, um den Schal und die Handschuhe von der Garderobe zu nehmen. Dabei mache ich einen grösseren Bogen um ihn, als wirklich nötig wäre. Doch zu meinem Erschrecken muss ich feststellen, dass der Abstand doch nicht genug ist. Denn schon wieder liegt seine Hand auf meinem Arm. Ich möchte mich von seinem stählernen Griff lösen, aber er gibt mich nicht frei. Beinahe gerate ich in Panik und Tränen drohen die Augen zu verlassen. Durch feuchte Augen sehe ich ihn an und bitte ihn leise mich loszulassen.
Augenblicklich lockert er seinen Griff, lässt mich aber nicht los. Von einer Sekunde auf die andere fühlen sich seine Finger nicht mehr wie Klauen an, die sich in meinen Arm bohren, sondern wie eine lautlose, tröstende Liebkosung. Mein Blick schweift von seinen Augen zu seiner Hand auf meinem Arm und wieder zurück. Lese ich etwa Mitgefühl in seinem Ausdruck?
Warum verspüre ich plötzlich das Bedürfnis von diesem Mann, den ich kaum kenne, beschützt zu werden?
Soeben noch wollte ich vor ihm fliehen, weil mich beinahe eine Panikattacke erfasste und nun wünsche ich mir nichts sehnlicher als von ihm gehalten zu werden, in seinen Armen zu liegen und meinen Kopf an seinen muskulösen Körper zu legen. Voller Hoffnung starre ich in seine wunderschönen Augen und male mir aus, wie es ist, von ihm umarmt zu werden, nur um im nächsten Moment bitter in die Realität zurückzukehren. Seine Finger streifen über meinen Handrücken und lassen mich schliesslich ganz los. Wo gerade noch seine Hand lag, fühlt es sich nun unbehaglich kalt und verlassen an. Unbegreiflich blicke ich ihn an.
Verlegen, wie mir scheint, fährt er durch seine kurzen, dunkelblonden Haare. „Ich werde Sie nicht länger belästigen und Sie Ihre Arbeit machen lassen. Aber tun Sie mir einen Gefallen, ja?“
Ich muss mich räuspern, um einen Ton herauszubekommen. „Welchen?“
„Machen Sie irgendwann Feierabend. Morgen ist auch noch ein Tag.“
„Werde ich, Mr. Meyer.“ Ich warte ab, bis er den Raum verlassen hat und sinke erleichtert auf meinen Stuhl hinab.
Müde, aber nicht erschöpft, reibe ich über meine Augen. Ich habe gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Mehr als vier Stunden bin ich an meinem Platz gesessen und habe ein Dokument nach dem anderen bearbeitet ohne eine Pause zu machen. Nur ein einziges Mal bin ich den Flur entlanggegangen und habe mir etwas zu trinken aus dem Automaten geholt, um gleich wieder an meinen Computer zurückzukehren.
Bedauerlicherweise meldet sich jetzt mein Magen, den ich nicht ignorieren kann. Also entschliesse ich für heute die Arbeit zu beenden, um irgendwo in einem gemütlichen Café einen kleinen Sack einzunehmen.
Gerne hätte ich mich noch länger mit den Rechnungen beschäftigt, die unverarbeitet auf meinem Pult liegen, denn mein Job macht mir richtig viel Spass, auch wenn es ganz einfache Aufgaben sind. Sie erfüllen ihren Zweck, weil sich mich daran hindern, an meine Vergangenheit zu denken und das ist momentan das Wichtigste was zählt.
Nur ab und zu wurde meine Aufmerksamkeit auf die Zahlen unterbrochen. In jenen Augenblicken schweiften meine Gedanken stets zur gleichen Person. Die attraktiven braunen Augen, die sich in mein Inneres bohrten und die angenehme Wärme, die sich auf meinem Arm ausbreitete, als er mich für wenige Sekunden mit seiner Hand hielt, liessen meine Erinnerungen an jenen Moment nicht mehr los. Auch jetzt schleicht mein Chef im Kopf umher.
Ich getraue mich nicht die aufkommenden Gefühle zu ergründen, die in mir emporsteigen und meinen ganzen Körper fesseln, wenn meine Gedanken zu meinem überaus charmanten Boss wandern. Aber sie lassen mich wieder etwas fühlen. Etwas was ich schon seit sehr langer Zeit nicht mehr empfunden habe. Hoffnung. Hoffnung auf bessere Zeiten.
Während ich darauf warte, bis mein Computer heruntergefahren ist, hole ich meinen Mantel, lege ihn um und knöpfe ihn zu. Danach ziehe ich meinen Schal über den Kopf, wobei mein Blick für eine Sekunde in der Dunkelheit verschwindet. Als ich meine Augen wieder öffne, kann ich einen angsterfüllten Schrei nicht unterdrücken. „Wow, haben Sie mich erschreckt.“ und halte eine Hand auf mein bebendes Herz.
„Tut mir leid. Das stand nicht in meinem Interesse.“
„Schon gut. Ich bin eben etwas schreckhaft.“
„Das habe ich mittlerweile auch bemerkt. Vielleicht mögen Sie mir irgendwann den Grund dazu anvertrauen.“
Ich beisse auf meine Unterlippe, um nicht gleich meinen ganzen Ballast von der Seele zu reden, den ich schon seit Monaten mit mir herumtrage und der mich mit seinem Gewicht zu erdrücken droht. „Da gibt es nichts zu erzählen.“ gebe ich schliesslich von mir und nehme meine restlichen Sachen, um endlich aus diesem Raum zu kommen. Denn obwohl ich seine Anwesenheit auf irgend eine Weise geniesse, so habe ich doch Angst, dass er mir zu nahe treten könnte. Ich sehe nur einen Ausweg, um dem allem auszuweichen. Die Flucht. Weg von ihm, so schnell und weit wie möglich.
„Ich dachte ich sehe mal nach Ihnen. Allem Anschein nach haben Sie die gleichen Absichten, wie ich Ihnen vorschlagen wollte. Was halten Sie von einem gemeinsamen Essen?“
Mit offenem Mund starre ich ihn an. Als hätte ich ihn nicht richtig verstanden, frage ich ihn: „Wie bitte?“
„Wollen wir etwas essen gehen? Ich denke, Sie könnten genauso gut wie ich eine kleine Stärkung gebrauchen.“
„Halten Sie das für eine gute Idee?“
„Warum nicht?“
„Sie sind Schliesslich mein Boss.“
„Was sollte daran falsch sein, wenn zwei Mitarbeiter miteinander essen gehen?“ fragend sieht er mich an, aber bevor ich etwas darauf erwidern kann, spricht er weiter. „Waren Sie nie mit ihrem ehemaligen Vorgesetzten essen?“
Ich hatte stets ein hervorragendes Verhältnis zu Philipp, es wäre mir aber zu keinem Zeitpunkt in den Sinn gekommen, mit ihm alleine in ein Restaurant zu gehen. Meine Augen sind fest auf den Mann vor mir gerichtet. „Nein, war ich nie.“
„Dann wird das heute Ihr erstes Mal sein.“ Eine geringe Andeutung eines Lächelns bildet sich um seine Mundwinkel und seine Iris leuchtet verdächtig hell auf. War das eine kleine Anspielung oder interpretiere ich zu viel in seine Bemerkung? Ein schwaches, aber intensives Kribbeln breitet sich in meiner Magengrube aus. Und weg sind meine guten Vorsätze von hier zu verschwinden, um mich in meiner Einsamkeit zu verkriechen. Obwohl mich meine innere Stimme warnt mit ihm zu gehen, siegt das Kribbeln in meinem Körper.
Was auch immer er mit seinem ersten Mal andeuten wollte, es ist nicht von Bedeutung. Denn es ist seine unbefangene Art, die mich fasziniert und die mich zu dieser Entscheidung führt.
„Ich könnte wirklich einen Imbiss gebrauchen.“ Wie zur Bestärkung knurrt mein Magen. Verlegen lege ich meine Hand auf meinen Bauch.
„Dann lassen Sie uns gehen. Ich kenne ein ausgezeichnetes Restaurant.“
Ich gehe neben meinem Chef auf den Fahrstuhl zu. Als die Türen aufgleiten, treten wir ein und er drückt den Knopf für das Erdgeschoss. Vor dem Gebäude steuere ich gleich den Zebrastreifen an. Doch bevor ich noch einen weiteren Schritt in diese Richtung machen kann, spüre ich plötzlich eine Hand auf meinem Arm, die mich mit leichtem Druck festhält und mich zwingt umzudrehen.
„Mein Fahrer wartet bereits.“ Mr. Meyer deutet auf eine schwarze Limousine. Davor steht ein hochgewachsener, stämmiger Mann mittleren Alters. Sein Haar ist kurz, ziemlich kurz und ebenso dunkel wie sein Anzug und das Auto hinter ihm, jedoch trägt er keine Mütze, so wie man es von Chauffeuren kennt.
„Wir gehen nicht zu Fuss?“ Etwas überrascht sehe ich meinen Chef an.
„Wir müssen ein paar Minuten fahren. Aber dafür lohnt es sich. Vertrauen Sie mir.“ Er lenkt mich mit seiner Hand auf meinem Arm zu seinem Fahrer. „Hallo Pietro. Alles gut?“
„Ja, Boss.“ Er tippt sich an seine imaginäre Hutkrempe und beachtet mich dann mit einem freundlichen, aber verständnislosen Blick. „Wo darf ich Sie hinbringen, Mr. Meyer?“ Sein italienischer Akzent ist unverkennbar.
„Miss Weber und ich würden gerne eine Kleinigkeit essen. Bringen Sie uns bitte ins Forestlake.“
„Natürlich. Miss Weber,“ Er knickst mit seinem Kopf in meine Richtung und öffnet uns die hintere Wagentür, wobei mir sein Waffenholster unter seiner dicken Jacke nicht verborgen bleibt. „bitte steigen Sie ein.“
Ich blicke mich nach allen Seiten um, weil mir diese ganze Situation plötzlich ein eigenartiges Gefühl in mir auslöst, steige aber trotzdem in das Auto.
Als hätte ich meine Besorgnisse laut ausgesprochen, äussert sich Damian Meyer leise dazu, der nun neben mir im hellen Lederpolster sitzt. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr überfallen.“ fragt er mich, sobald sich die Limousine in Bewegung gesetzt hat.
„Warum trägt Ihr Fahrer eine Waffe?“
„Verunsichert Sie das?“
„Vielleicht ein wenig.“ gebe ich ehrlich zu.
„Er trägt sie für meinen Schutz.“
„Benötigen Sie denn so was?“
„Bis jetzt war es nicht nötig. Aber man sichert sich lieber im Voraus ab. Stört es Sie?“
„Nein.“ Auch wenn ich versuche meine Unsicherheit zu verbergen, so klinge ich nicht sehr überzeugend. Ich kann meinem Chef nicht in die Augen sehen und blicke daher aus dem schwarz getönten Fenster. Der Rolls Royce, dessen gemütlichen Polster und jeglichen Komfort, welches dieses Schiff auf vier Rädern bietet, ich kaum wahrnehme, rollt leise über die Londoner Strassen.
Die Trennscheibe zwischen Fahrer und Fond ist geschlossen und somit der Chauffeur weder zu sehen noch zu hören. Es ist still im Auto. Nur mein schneller Atem ist zu hören. Ich bete, dass Damian das heftige Pochen meines Herzens nicht bemerkt, das kurz vor einer Panikattacke steht. Ich versuche mich zu beruhigen, aber das ist nicht so einfach, wie man sich das manchmal wünscht.
Verzerrte Erinnerungsfetzen, die noch kein Jahr alt sind, schleichen sich in meinen Kopf und drängen sich langsam immer weiter nach vorne.
Ich dachte ich wäre über das Schlimmste hinweg, doch soeben werde ich eines Besseren belehrt, während sich mein Puls immer mehr beschleunigt.
„Jessica?“
Leise dringt mein Name in mein Ohr. Langsam, wie in Zeitlupe, drehe ich mich zu ihm um. Er sieht mich besorgt und ratlos an.