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Bis zum heutigen Tag hatte ich keinen so komplizierten Fall, wie es dieser werden wird. Auch hatte ich bis jetzt mit keiner Berühmtheit zu tun. Aber diese Angelegenheit sprengt deutlich den Rahmen. Nur ein kurzes Gespräch mit einer Mutter, die verzweifelt versucht ein letztes Mal ihren Sohn zu sehen, bevor der Krebs sie von dieser Erde holt, hat dies alles ausgelöst.
Langsam lenke ich mein Auto auf den Besucherparkplatz der Fussballarena von Weggis, die Thermoplan-Arena. Es ist bereits nach fünf Uhr, als ich aus dem Auto steige und auf das grosse Fussballstadion zugehe.
Wie ich gleich feststellen werde, bin ich gerade zur rechten Zeit gekommen, um den Fussballern beim Spielen zuzusehen.
Kaum bin ich auf der Zuschauertribüne, entdecke ich den gut aussehenden, muskulösen Oliver Falk, wie er über den Rasen sprintet und den Ball mühelos an sich reisst.
Er sieht in Wirklichkeit noch viel besser aus, als auf den Bildschirmen oder in den Zeitungen, in denen er ständig zu sehen oder abgebildet ist.
Oliver Falk strahlt eine Kraft von Entschlossenheit aus, die niemand daran zweifeln lässt, dass er sein Ziel erreichen wird, das er sich gesetzt hat.
Mit einer für mich aussergewöhnlichen Faszination verfolge ich das Trainingsspiel und lasse den Mann, den ich bereits seit bald drei Wochen suche, nicht mehr aus den Augen.
Als der Trainer das Spiel mit dem Schlusspfiff beendet, gehe ich so locker wie möglich bis zur Abschrankung, die die Tribüne vom Spielfeld trennt.
Alle ausser Oliver, der noch ein paar Runden joggt, gehen in Richtung Umkleidekabinen, um sich unter die Duschen zu stellen. Die Reporter rufen ihnen zu, woraufhin der eine oder andere stehen bleibt und ein kurzes Interview gibt.
Ich schenke den Fragen der Journalisten kein Gehör, sondern konzentriere mich voll und ganz auf meine Zielperson. Fasziniert sehe ich ihm zu, wie er mit einer Leichtigkeit über den Rasen rennt, als würde er schweben. Nur der Schweiss, der ihm über den Rücken läuft und sein rot, weisses Trikot nass werden lässt, verrät dass die sportliche Aktivität nicht ohne Mühe an ihm vorbeigeht. Geduldig warte ich, bis Oliver Falk in meine Nähe kommt und gerade als er in den Katakomben, die zu den Umkleidekabinen führen, verschwinden möchte, rufe ich laut und mit starker Stimme seinen Namen. Dabei winke ich ihm mit heftigen Bewegungen zu, damit er mich bemerkt. Nach dem dritten Mal dreht er sich endlich zu mir. Er sieht mich argwöhnisch an und geht ungerührt weiter.
Ich versuche die Reporter und Fotografen, die um mich stehen, zu ignorieren und all die anderen Menschen, die sich hier befinden, auszublenden.
„Oliver Falk!“ rufe ich abermals lauthals. „Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen? Bitte!“
Doch er macht keine Anstalten, mir zuhören zu wollen und weg ist er. Deprimiert nehme ich auf dem nächsten freien Stuhl Platz. Mein Blick schweift über das Spielfeld, wobei ich angestrengt überlege, wie ich den weltberühmten Fussballspieler dazu bringen kann, dass er mir einige Minuten seiner Zeit schenkt.
Plötzlich erscheint ein Schatten neben mir und eine tiefe Stimme spricht mich anklagend an. „Sie sind keine Reporterin und auch keine Fotografin.“ Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung. „Sind Sie ein Fan von Oliver?“
Erschrocken sehe ich auf und sehe einen Mann neben mir stehen, den ich vorhin auf der Seite des Spielfeldes schon gesehen habe. Irgendwie kommt er mir bekannt vor, nur kann ich ihn momentan nicht zuordnen. Auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, die hinterste Ecke meines Gehirns zu durchkämmen, fällt mir nicht ein, mit wem ich es hier zu tun habe.
„Darf ich fragen, wer Sie sind?“
„Ich bin sein Manager. Und Sie?.“
Jens Gudet. Mit einem Mal fällt mir der Groschen, woher ich diesen Mann kenne. Er weicht kaum von Olivers Seite und verteidigt den Fussballer, wo er nur kann.
„Ich habe etwas Privates mit ihm zu besprechen.“ sage ich schlicht.
„Und das wäre?“
„Darüber kann ich nur mit Herr Falk sprechen. Können Sie ihm bitte mitteilen, dass ich auf ihn warte? Es ist wirklich sehr wichtig.“
„Es tut mir leid, aber ich kann Sie nicht zu ihm lassen.“
So komme ich nicht weiter. Ich fingere in meiner Handtasche herum und nehme eine von meinen Visitenkarten hervor. „Könnten Sie ihm wenigstens diese hier geben?“ und strecke ihm die Karte hin.
„Personensuchdienst, Verena Rapone.“ liest Olivers Manager leise vor, so dass es niemand hören kann und verengt dabei seine Augen. „Was soll das bedeuten?“
„Ich kann Ihnen leider nicht mehr verraten. Geben Sie ihm die Karte? Er soll mich anrufen. Es ist wichtig.“ beteuere ich ein zweites Mal. „Ich werde noch bis Morgen Mittag im Hotel Seesicht sein.“
„Ich werde es ihm ausrichten. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen.“
„Danke.“
Der hochgewachsene Mann, Mitte vierzig, nickt mir kurz zu und geht ebenfalls auf den Tunnel zu, in dem Oliver zuvor verschwand.
Enttäuscht erhebe ich mich und verlasse die Hotelbar. Es ist bereits nach zehn Uhr und dunkel draussen, als ich mich entschliesse auf mein Zimmer zu gehen und mir einräumen muss, dass er nicht daran interessiert ist, zu wissen, was ich ihm zu sagen habe und dass er nicht kommen wird.
In meinem Zimmer mache ich es mir auf meinem Doppelbett bequem und nehme die Unterlagen, die ich über Oliver Falk gesammelt habe, zur Hand, um sie zum wiederholten Mal durchzulesen, obwohl ich alle Details auswendig weiss.
Viel mehr, als mich auf meine Akte zu konzentrieren, überlege ich mir, wie ich ihn dazu bringen kann, mich anzuhören. Es muss doch irgendeinen Weg geben, um ihn genug neugierig zu machen, so dass er Kontakt zu mir aufnimmt?
Nach langem grübeln, nehme ich ein Stück Papier in die Hand und kritzle ein paar Stichworte darauf. Nur so viel, dass er erahnen kann, über was ich mit ihm reden möchte, aber dass es für einen Aussenstehenden keinen Sinn ergibt.
Bis morgen Mittag werde ich in der Hotellobby auf ihn warten. Falls er bis zu jenem Zeitpunkt nicht erscheint, werde ich noch einen einzigen Versuch starten, um ihn zu einem Gespräch zu bewegen. Andernfalls muss ich mich geschlagen geben.
Jetzt werde ich mich erst einmal unter die Dusche begeben und danach ein paar Stunden Schlaf gönnen.
Ich sitze nun schon seit über zwei Stunden in der Lobby und warte wahrscheinlich vergeblich auf den gut aussehenden, schwarzhaarigen Fussballer, den ich ständig vor meinen Augen sehe, wie er über das Spielfeld sprintet. Er ist wirklich unverschämt attraktiv, was mich etwas aus der Bahn zu werfen droht.
Ich höre wie die Schiebetür des Hoteleingangs aufgeht und drehe automatisch meinen Kopf dahin, um im nächsten Augenblick deprimiert den Blick abzuwenden und lustlos in der Zeitschrift, die ich in meinen Händen halte, weiterzublättern.
Obwohl ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe, dass er noch erscheinen wird, ist mir schon seit dem frühen Morgengrauen bewusst, dass er meiner Bitte nicht nachkommen wird.
Ich entscheide mich noch eine halbe Stunde zu bleiben, danach werde ich im Restaurant nebenan eine Kleinigkeit zu mir nehmen. Wenn er sich bis dann nicht zeigt, werde ich nach ihm suchen gehen.
Jedes Mal, wenn die Tür aufgeht, drehe ich mich zu ihr um, aber nicht der Mann, den ich gerne sehen würde, tritt ein.
Die halbe Stunde und mein Essen sind vorüber. Ich packe meine Sachen und verlasse das Hotel, in dem ich übernachtet habe, um mit einer grossen Entschlossenheit abermals zur Fussballarena zu fahren. Nur habe ich nicht damit gerechnet, niemanden hier anzutreffen.
Wieder steige ich in mein Auto und suche die Adresse von ihm heraus, gebe sie ins Navigationsgerät ein und mache mich auf den Weg.
Mein TomTom führt mich über die Hauptstrasse in eine der nächsten Nachbargemeinden. Nach etlichem abbiegen, halte ich vor einem eisernen Tor, das ein riesiges Anwesen dahinter erahnen lässt. Ich steige aus und trete an die Einfahrt, um einen Blick auf sein zu Hause zu erhaschen. In dem Moment, in dem ich meine Hand um die Eisenstäbe lege, kommt ein stämmiger Mann auf mich zu und brüllt mich mit kräftiger, angsteinflössender Stimme an.
„Was tun Sie hier? Verschwinden Sie auf der Stelle!“ und kommt näher.
„Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht unhöflich sein. Ist er da? Ich muss unbedingt mit Herr Falk sprechen. Es ist äusserst wichtig.“
„Er möchte niemanden sehen. Und für Stalkerinnen hat er sowieso keine Zeit.“
„Ich bin keine Stalkerin. Hier.“ Ich strecke ihm eine Visitenkarte hin.
„Das hat überhaupt nichts zu bedeuten. So eine Karte kann jedermann machen.“ Der Bodyguard gibt die Karte durch die Eisenstäbe zurück und betrachtet mich mit einer grimmigen Miene. „Wenn Sie nicht in einer Minute verschwunden sind, werde ich die Polizei rufen.“
Mir wird schnell klar, dass es keinen Sinn macht, mit diesem Mann weiter zu diskutieren. „Okay, Sie haben gewonnen. Aber bevor ich gehe, geben Sie ihm bitte diesen Umschlag. Ich nehme den Briefumschlag heraus, den ich letzte Nacht vorbereitet habe und reiche es ihm.
Der Leibwächter auf der anderen Seite des Tors nimmt es widerwillig an sich. „Und jetzt machen Sie, dass Sie wegkommen.“
„Versprechen Sie mir, dass Sie es ihm geben.“
„Werde ich.“
3.
Ich öffne das Fenster, um die stickige Luft aus meinem Büro herauszubekommen. Wo ich kurz stehen bleibe und die herrlichen Sonnenstrahlen betrachte , die sich durch die Wolken kämpfen. Nach einem verregneten Wochenende sollte es heute, laut Wetterprognose, einen äusserst heissen und sonnigen Tag werden.
Es sind nun bereits vier Tage vergangen, seit ich in Weggis und vor Oliver Falks Anwesen war. Ich habe gehofft, dass er sich bei mir meldet, sobald er meine Nachricht erhalten hat. Nun denke ich, ist es an der Zeit den Fall zu den Akten zu legen. Ich sollte mich bei seiner Mutter melden, um ihr mitzuteilen, dass ich alles versucht habe, um ihn zu einem Treffen zu überreden. Dabei ist es mir nicht einmal gelungen, mit ihm zu sprechen. Es wird mir schwer fallen, ihr in die Augen zu sehen, während ich ihr meinen Misserfolg eingestehen muss.
Ein plötzlicher Luftzug lässt mich zur Tür drehen. Meine Schwester steht im Türrahmen.
„Hast du Zeit?“
„Sehe ich so aus, als wäre ich beschäftigt?“ gebe ich etwas zu barsch zurück.
„Du brauchst mich nicht anzufunkeln.“ erwidert sie leise.
„Entschuldigung. Das wollte ich nicht. Ich war nur gerade zu sehr in Gedanken versunken.“
„Ich weiss etwas, was dich gleich aufheitern wird.“ Tina lächelt mich an und ihre Augen nehmen einen bestimmten Glanz der Erregung an.
„Wie soll ich das verstehen?“
„Ich habe einen ganz ungewöhnlichen Gast hier draussen.“ Sie dreht sich um und verlässt mein Büro. Ich folge ihr in den Flur hinaus und bleibe abrupt stehen, als ich unseren Besucher erkenne. Ein paar Schritte von ihm entfernt steht sein Leibwächter, den ich bereits einmal gesehen habe.
„Herr Falk.“ Ich strecke ihm meine Hand hin. „Es ist mir eine äusserst grosse Freude, Sie hier begrüssen zu dürfen.“ Ich kann mein Glück kaum fassen, dass er doch noch erschienen ist, was jedoch gleich wieder getrübt wird, als er nicht auf meine Begrüssung eingeht.
„Lassen sie uns in Ihr Büro gehen.“ Sein Tonfall verrät nichts Gutes. Er klingt verärgert und aufgeregt zugleich.
„Möchten Sie etwas zu trinken?“
„Nein. Unser Gespräch wird nicht lange dauern.“
„Dann folgen Sie mir doch bitte.“ Ich gehe ihm voran in mein Arbeitszimmer, bewusst dass er seine Augen tief in meinen Rücken bohrt.
„Nehmen Sie doch Platz.“ Ich schliesse die Tür hinter uns und deute ihm auf einen Stuhl, in dem vor wenigen Wochen bereits seine Mutter gesessen ist.
„Was soll dieser verdammte Mist.“ Er schleudert den Umschlag, den ich ihm über seinen Bodyguard zukommen liess, über den Tisch und funkelt mich mit einem finsteren Blick an.
Mit grosser Genugtuung entdecke ich, dass das Kuvert geöffnet wurde. Er muss die Nachricht gelesen haben und wird wissen, dass ich herausgefunden habe, wie sein richtiger Geburtsname lautet. Dass seine Eltern ihn mit acht Jahren weggegeben haben und an welchen Orten er seine Kindheit verbracht hat.
„Ich habe nicht die Absicht, Ihnen irgendwie zu schaden, wenn es das ist, was Sie von mir annehmen. Auf keinen Fall.“
„Warum spionieren Sie mir nach? Was wollen Sie? Und wie zum Teufel sind Sie an diese Informationen gelangt?“ Er versucht gar nicht zu leugnen, der zu sein, der er in Wirklichkeit ist, was mich in der Tat überrascht.
Ich lasse meinen Sarkasmus lieber in der Tasche stecken und schenke ihm besser sofort reinen Wein ein. „Ihre Mutter hat mich damit beauftragt.“
„Was?“ Er zieht seine Augen zu gefährlichen Schlitzen zusammen.
„Emma Kyssen. Sie hat mich geben, Sie zu suchen.“
„Ich habe keine Mutter.“
„Ich kann verstehen, wenn Sie so reagieren. Ich glaube, ich würde es nicht anders machen. Aber...“ Sein scharfer Ton lässt mich abrupt verstummen.
„Sie wissen überhaupt nichts. Meine Eltern sind für mich gestorben, als ich acht war.“
„Ihre Mutter denkt jeden Tag an Sie.“
„Lassen Sie mich bloss mit Ihren Heucheleien zufrieden. Sie hat mich einfach weggeben. Wie einen Hund den man fortschickt, wenn man ihn nicht mehr um sich haben möchte.“
„Jetzt tun Sie sich und ihren Eltern Unrecht.“
„Sie haben keine Ahnung, wie es war. Ich möchte nichts mehr von Ihnen hören, geschweige denn Sie sehen. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden.“ Sein Gesicht verzerrt sich vor Wut und Hass.
Ich sollte ihn jetzt gehen lassen, trotzdem stichle ich weiter. „Haben Sie eigens den langen Weg gemacht, um mir das mitzuteilen oder gibt es noch einen anderen Grund, warum Sie hier sind?“
„Ich wollte wissen, wer Sie sind und was genau Sie von mir wollen.“ Er mustert mich mit einem kalten Blick. „Warum machen Sie das?“ und deutet mit einer Handbewegung durch den Raum.
„Ich möchte Familien, Freunden, Bekannten helfen wieder zueinander zu finden, bei denen die Wege auseinander gingen.“
„Haben Sie selbst so etwas erlebt?“
„Das ist Privat.“
„Genau das ist meine Familienangelegenheit auch.“ Er sieht mich triumphierend an.
„Wollen Sie nicht wissen, warum Ihre Mutter Sie nach so vielen Jahren sucht?“ Ich versuche etwas in ihm wachzurütteln, aber er sieht mich weiterhin vollkommen gleichgültig an.
„Was hat Sie Ihnen vorgegaukelt?“
„Sie leidet an Krebs. Ihr bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Für eine Sekunde glaube ich so etwas wie Entsetzten in seinen Augen zu sehen, ehe er unbeeindruckt antwortet. „Vielleicht geschieht ihr das ganz recht.“
„Das ist grausam.“
„Kann schon sein. Sie hat ja noch ihren Tom, der sie in seine starken Arme nehmen kann.“
Ich sehe ihn verständnislos an. „Tom?“
„Haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht?“
„Doch. Aber Ihr Vater ist bereits vor zehn Jahren gestorben.“
Sein Mund bleibt offen stehen, nachdem er etwas darauf erwidern wollte, aber kein Laut brachte er heraus. Jeder Muskel scheint angespannt zu sein, während er sich langsam aus seinem Stuhl erhebt. „Wir hätten dann alles besprochen.“
„Sie bleiben dabei? Sie wollen Ihre Mutter nicht sehen?“
„Nein, will ich nicht.“
„Dann tut es mir leid, dass ich Sie belästigt habe.“
Ich begleite ihn nach draussen, wo sein Bodyguard geduldig auf ihn wartet. Sie nicken sich stumm zu, woraufhin der Mann mit einem Headset im Ohr und einem Drei-Millimeter-Haarschnitt auf seinem Kopf, vorangeht, auf den Offroader zu, der vor unserer Bürotür steht, um seinem Chef die Wagentür zu öffnen. Oliver Falk steigt ein, ohne nochmals zurückzublicken. Anscheinend ist für ihn die Angelegenheit hiermit beendet.
Kopfschüttelnd sehe ich dem grossen, schwarzen Auto, mit einem Schwyzer Kennzeichen, nach. Wie soll ich nur seiner Mutter beibringen, dass ihr Sohn sie nicht sehen möchte? Dass ich ihn nicht umstimmen konnte, sich mit ihr zu Treffen?
„Was war denn das?“ zerrt mich meine Schwester aus meinen bedrückten Gedanken, die sich soeben in mein Gehirn geschlichen haben.
„Frag mich etwas Leichteres.
„Er sah nicht gerade erfreut aus.“
„Ganz und gar nicht. Er will seine Mutter nicht sehen.“
„Aber ein Highlight war es trotzdem oder?“
„Wie?“ Ich sehe Tina mit grossen, verständnislosen Augen an.
„So jemand Berühmtes wie Oliver Falk hatten wir bis heute noch nie in unserem Büro.“ Auch wenn der Fall Kyssen / Falk sich nicht so ereignet, wie wir es uns gewünscht haben, strahlt mich meine Schwester über die Theke hinweg an.
Nachdem ich Tina die Einzelheiten von meinem Gespräch mit Oliver Falk erzählt habe, war sie genauso erschüttert, wie ich. Der einzige Unterschied besteht darin, dass ich die Aufgabe habe, die schlechte Nachricht seiner Mutter, mit der ich in fünfzehn Minuten verabredet bin, mitzuteilen.
Es ist beinahe einen Monat her, seit sie mich das erste Mal aufgesucht hat. Jetzt, vier Wochen später habe ich ihr nichts weiter zu sagen, als dass ihr Sohn sie nicht sehen möchte. Dass er kein Interesse daran hat, sich mit ihr zu versöhnen.
Mir wird ganz eng ums Herz, wenn ich daran denke, dass ich gleich ihren letzten Wunsch zunichtemachen werde.
Gestern am Telefon habe ich Frau Kyssen angeboten, sie bei ihr zu Hause aufzusuchen und in diesem Atemzug biege ich in die Strasse ein, in der sie wohnt. Nach einer halbstündigen Fahrt halte ich vor einem kleinen Einfamilienhaus. Es ist nicht gross, aber hübsch, mit einer weissen Fassade und roten Läden. Ein paar wenige Rosensträucher zieren den Plattenweg zur dunkelbraunen Eingangstür.
Die Tür geht schon nach wenigen Sekunden, nachdem ich die Klingel betätigt habe, auf.
„Danke, dass Sie den Weg auf sich genommen haben.“ Emma Kyssen reicht mir die Hand und tritt dann zur Seite, um mich hereinzulassen. „Ich fühle mich heute nicht besonders gut.“
„Sie haben es nett hier.“ sage ich zu ihr, als ich in ein gemütliches Wohnzimmer trete. Es ist zwar einfach, aber sehr einladend eingerichtet.
„Danke. Nehmen Sie doch bitte Platz.“ Sie deutet auf ein cremefarbenes Zweiersofa. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Ja, gerne.“ Ich sehe mich im Wohnzimmer um, während sie in der Küche eine kleine Erfrischung holt. Es ist keineswegs mit irgendwelchen Dekorationen überfüllt. Hauptsächlich sind es Orchideen und Kakteen, die die Einrichtung dieses Zimmer mit etwas anderem als Möbelstücken schmücken. Ein Bild mit einer schönen Landschaft hängt an einer Wand. Keine kleine Porzellanfigürchen, Kerzen oder Erinnerungstücke an Ferien. Nichts dergleichen. Aber auf einer grösseren Kommode, die eher zu einem Alter umfunktioniert wurde, als für ein Aufbewahrungsmöbelstück von Kissenbezügen oder Tischservice gebraucht wird, entdecke ich verschiedene Fotorahmen, auf denen immer wieder derselbe Knabe, von seinen Babyjahren bis hin in sein ungefähr achtes Lebensjahr, abgelichtet ist. Bei Zweien hält eine bildhübsche junge Frau, die wie ein weibliches Ebenbild von Oliver Falk ist, das Kind wie einen goldenen Schatz in den Armen. Es verschlägt mir beinahe den Atem, über die Ähnlichkeit des jetzigen Olivers und der Frau auf diesen Fotos. Weiss der weltberühmte Fussballer, wie sehr er seiner Mutter gleicht?
Neben all diesen Bilderrahmen entdecke ich einen geschlossenen Ordner. Ich nehme ihn in meine Hände und öffne ihn. Obwohl ich mir schon im Klaren bin, was mich in dieser Sammelmappe erwartet, staune ich über die vielen ausgeschnittenen Zeitungsartikel, die alle über eine Person berichten. Oliver Falk.
Nachdem ich ihn flüchtig durchgesehen habe, lege ich ihn wieder zurück an seinen angestammten Platz.
Wieder sehe ich die vielen eingerahmten Fotos an. Was mich bei all diesen Bildern irritiert, ist dass der Mann von meiner Kundin auf keiner einzigen Fotografie abgebildet ist.
„Haben Sie schon hier gelebt, als Ihr Sohn noch bei Ihnen wohnte?“ rufe ich zu ihr in den Nebenraum und setzte mich auf die Couch.
„Nein. Ich bin erst nach Toms Tod in dieses Haus gezogen.“
Im selben Moment, als sie mit einem Krug voll Wasser zurückkehrt und sich gegenüber von mir in einen Sessel, im gleichen Farbton wie das Sofa, setzt, platzt sie mit der Frage, auf die ich schon seit meiner Ankunft warte, heraus. „Haben Sie mein Kind gefunden?“
„Ja, das habe ich.“
„Wie geht es ihm?“
„Ich würde sagen, er hat sich hervorragend gemacht.“ Das ist eine absolute Untertreibung, wenn man bedenkt, dass er etliche Jahre seiner Jugend in verschiedenen Kinderheimen verbracht hat und vielerorts als schwieriger Junge bezeichnet wurde.
„Ist er verheiratet? Hat er Kinder?“ Die Fragen stürzen nur so aus ihr heraus.
„So viel mir bekannt ist, nein.“
„Wann kann ich ihn sehen?“
„Ich sollte Ihnen vielleicht noch etwas mitteilen, bevor wir zu diesem Punkt kommen. Er lebt seit seinem dreizehnten Lebensjahr in der Zentralschweiz und hat seit da einen anderen Namen angenommen.“
Sie starrt mich zwar gefasst an, bringt aber gerade mal eine Silbe hervor. „Wie...?“
„Oliver Falk.“
Keine Rührung. Keine Mimik. Nichts. Irgendwelche Regung müsste sie doch zeigen oder? Oliver Falk ist ein weltberühmter Fussballer. Einer der besten in dieser Zeit und seine leibliche Mutter zeigt kein bisschen Verwunderung oder Stolz?
„Warum benötigen Sie meine Hilfe?“
„Das habe ich Ihnen schon gesagt.“
„Sie wissen schon längst, wer ihr Sohn ist und haben mich im Ungewissen gelassen. Was verschweigen Sie mir?“ frage ich sie vielleicht in einem etwas zu schneidenden und unfreundlichen Tonfall. Nur kann ich es nicht ausstehen, wenn man mich an der Nase herumführt.
Die Farbe weicht fast vollständig aus ihrem Gesicht, als sie versucht meinem Blick standzuhalten und verkrampft ihre Hände ineinander, die auf ihrem Schoss liegen. „Ich hatte Angst,“ beginnt sie zögernd. „dass Sie mir nicht helfen werden, wenn ich Ihnen die ganze Wahrheit erzähle.“
„Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn ich nicht alles weiss. Sie müssen mir vertrauen, sonst funktioniert das nicht.“
„Versprechen Sie mir, dass Sie versuchen, ein Treffen zwischen mir und meinem Sohn zu arrangieren?“
„Das kann ich nicht.“
Die Dame im Sessel nickt nur schwach mit dem Kopf. Ich kann ihr ansehen, dass sie sichtlich bemüht ist, die richtigen Worte zu finden.
Ich bin bitter schockiert und fassungslos, über das, was mir Olivers Mutter anvertraut hat. Warum hat sie kein Sterbenswörtchen darüber verraten, als sie mich vor wenigen Wochen aufgesucht hat? Ich habe versucht Oliver zu einem Treffen zu überreden. Jetzt bin ich eher froh darüber, dass er seine Mutter nicht sehen möchte. Wahrscheinlich habe ich schrecklich erdrückende und quälende Gefühle in ihm wachgerüttelt, die er sein ganzes Leben zu vergessen versucht. Ich fühle mich äusserst schlecht.
Seit ich diese Arbeit mache, ist mir noch nie annähernd so ein Fall in die Quere gekommen. Zum ersten Mal zweifle ich an meinem Tun. Nur mit grosser Mühe gelingt es mir meine Empfindungen unter Kontrolle zu halten.
Nach einigen Minuten, die wir stillschweigend gegenüber sitzen, finde ich endlich meine Stimme wieder. „Was verschweigen Sie mir sonst noch?“ Ich klinge etwas zu schroff, das ist mir bewusst, aber ich kann nicht anders. „Was ist mit Ihrer Krankheit? Haben Sie wirklich Krebs oder war das nur eine Lüge, um mich zu angeln?“
„Ich habe Krebs. Die Ärzte geben mir noch ungefähr drei höchstens sechs Monate.“ In ihren Augen schimmern Tränen.
Wie kann ich nur so kalt sein. Die Frau vor mir leidet an einer unheilbaren Krankheit und ich habe nichts Besseres zu tun, als sie anzugreifen.
Ihre Stimme zittert leicht, als sie fortfährt „Mein einziger Wunsch ist es, noch einmal meinen Sohn zu sehen. Ich möchte mich bei ihm entschuldigen und ihn um Vergebung bitten, obwohl das was geschehen ist, nicht zu verzeihen ist.“
Ich möchte nicht hier sein. Ich möchte weg von diesem Ort. Ich kann beide Seiten verstehen, aber ich möchte nicht dazwischen stehen. Ich sollte ihr erklären, dass ihr Sohn sie nicht sehen will und verschwinden. Aber lässt das mein Gewissen zu?