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„Guten Abend Frau Berner.“
Jetzt wo er näher kommt, kann ich auf seinem Schild den Namen lesen. Ach ja, Dr. Stevens.
„Wie ich sehen kann, hatten Sie nicht so einen grossen Appetit.“
„Ich dachte ich hätte grossen Hunger, aber ich kriege nichts mehr hinunter.“
„Das ist ganz normal nach fast drei Tagen Schlaf. Wenigstens haben sie etwas Kleines zu sich genommen. Wie fühlen Sie sich?“
„Ich kann mich kaum bewegen und habe Mühe aufzustehen.“
„Kein Wunder bei Ihren Verletzungen.“
„Die Verletzungen in meinem Gesicht und an meiner rechten Hand habe ich schon gesehen. Aber warum habe ich Schmerzen, wenn ich zu tief Luft hole und mich zu schnell zur Seite drehe?“
„Sie haben sich beim Sturz zwei Rippen gebrochen. Die Heilung braucht ihre Zeit und Sie dürfen in den nächsten Wochen keinen Sport treiben. Etwas Bewegung ist gut, aber ja nicht überanstrengen. Ausserdem weist ihr Oberkörper mehrere blaue Flecken auf, sowie auch ihre Beine.“
Das habe ich noch gar nicht bemerkt und schiebe sogleich mein Krankenhauspyjama hinauf, um mein Körper zu betrachten. „Oh.“
„Die sehen schlimmer aus, als sie sind.“
Ich bedecke mich wieder und lege mich zurück ins Bett. Das Sitzen hat mich ziemlich ermüdet.
„Dass Sie sich keinen Knöchel verstaucht haben, grenzt gerade noch an ein Wunder. Ihr Fuss ist lediglich angeschwollen. Keine Verstauchung und keinen Bruch.
Aber Ihre rechte Hand ist verstaucht. Die Bandage stellt das Handgelenk ruhig und durch den leichten Druck, das sie verübt, sollte die Schwellung rascher abklingen. In zwei Tagen sollten Sie die Bandage abnehmen können.“
„Okay. Das klingt gut. Aber warum habe ich die Erinnerungen an den Sturz verloren?“
„Wir nehmen an, dass Sie einen schweren Schock erlitten haben. Dadurch werden Ihre Erinnerungen an den Unfall verdrängt. Vielleicht können Sie mit gezielten Gedächtnisübungen die offene Lücke füllen. Vorausgesetzt Sie wollen es auch.“
„Es ist ein eigenartiges Gefühl, nicht zu wissen, was passiert ist.“
„Ich kann Frau Dr. Christensen bitten, dass sie sich morgen bei Ihnen meldet. Sie ist wirklich eine ausgezeichnete Ärztin auf diesem Gebiet und hat schon vielen geholfen, die an einer Amnesie litten.“
Ich kann es kaum erwarten, diese Frau Christensen kennenzulernen. Denn ich möchte ein Stück von meinem Leben zurückerhalten, auch wenn es nur ein paar Stunden sind, fehlt mir irgendwas. Hoffentlich ist sie wirklich so gut, wie Dr. Stevens sagt.
„Wie lange muss ich noch hier bleiben?“
„Sie sind erst gerade heute Morgen aus ihrem Bewusstsein erwacht. Wir behalten Sie noch etwas zur Kontrolle hier. Ausserdem können Sie sich kaum auf Ihren eigenen Beinen halten. Sie werden also noch eine paar Tage bei uns bleiben müssen. Schlafen Sie jetzt erst mal und morgen können Sie vielleicht schon wieder eine kleine Runde im Flur umhergehen."
Die nächste Frage ist mir zwar ein wenig peinlich und wäre zum ersten Mal froh, wenn jetzt eine Ärztin statt ein Arzt hier wäre, aber ich möchte wissen, was mit meinem Körper los ist. „Warum habe ich solche Schmerzen in meinem Unterleib und warum blute ich?“
Seine Miene verändert sich und Mitgefühl widerspiegelt sich in seinem Blick. „Eigentlich wollte ich, dass jemand bei Ihnen ist, wenn ich Ihnen diese schlechte Nachricht überbringe.“ er räuspert sich mehrmals und setzt sich auf einen Stuhl, der sich neben meinem Bett befindet.
„Was für eine Nachricht?“ meine Stimme hört sich sogar in meinen eigenen Ohren ganz schrill und fremd an, als ich ihn bitte, mich endlich einzuweihen.
„Frau Berner.“ wieder räuspert er sich „Sie haben ihr Kind verloren. Es tut mir schrecklich leid. Wir konnten es nicht mehr retten. Wir konnten nichts mehr für das Ungeborene tun.“
„Mein Kind?“ geht es noch verwirrter?
Nach meinem Gesichtsausdruck konnte er die Situation richtig beurteilen. „Wussten Sie etwa nicht, dass Sie schwanger waren? Sie waren in der achten Woche.“
„Ich und schwanger? Nein, auf keinen Fall.“ Ich bin froh, dass ich bereits liege, sonst hätten meine Knie bestimmt nachgegeben. Warum sollte ich schwanger sein? Wir haben doch immer auf die Verhütung geachtet. Ich war in der achten Woche und ich habe nichts bemerkt? Oder etwa doch? Meine Gedanken drehen sich ständig im Kreis.
Der Mann im weissen Kittel, der immer noch auf dem Stuhl neben mir sitzt, redet wirres Zeug. Ich kann ihm wahrhaftig nicht folgen, was er von sich gibt. Irgendwas dringt doch noch zu meinem Gehirn durch.
„Was haben Sie gesagt?“
„Mit grosser Wahrscheinlichkeit können Sie keine Kinder mehr bekommen.“
Abermals starre ich ihn verständnislos an. „Was soll das heissen, ich kann keine Kinder mehr bekommen?“
„Sie haben sich durch den Sturz schwere Verletzungen zugezogen und die Gebärmutter wurde ziemlich in Mitleidenschaft gezogen. Auch wenn Sie mich jetzt dafür hassen werden, möchte ich Ihnen keine allzu grosse Hoffnung machen, dass Sie nochmals schwanger werden können. Wenn Sie genauere Informationen Wünschen, wenden Sie sich bitte an Ihren Gynäkologen.“
Ich weiss nicht, wie ich mit diesen Informationen umgehen soll. In den vergangenen Monaten hatte ich überhaupt nicht den Wunsch danach, schwanger zu werden. Aber jetzt wo ich weiss, dass ich ein kleines Geschöpf in mir trug, wird mir ganz eng ums Herz.
„Ich werde Sie jetzt alleine lassen. Morgen werde ich wieder nach Ihnen sehen. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Frau Berner.“
Als der Arzt schon fast bei der Tür ist, dreht er sich nochmals zu mir um. „Einen kleinen Rat hätte ich da noch für Sie. Vielleicht sollten Sie das nächste Mal nicht mehr so hohe Absätze tragen, wenn sie eine Treppe hinuntersteigen wollen. Versuchen Sie etwas zu schlafen. Das wird Ihnen sicherlich gut tun.“
Hohe Absätze? Was soll denn das wieder bedeuten? Ich kann mich nicht an hohe Schuhe erinnern. Stirnrunzelnd nehme ich mein Smartphone in die Hand und tippe eine kurze SMS an Pam. Danach lege ich es auf den Beistelltisch, drehe mich auf die gesunde Seite und schliesse meine Augen. Zwar fühle ich mich total erschöpft und ich versuche einzuschlafen, aber das was Dr. Stevens mir mitgeteilt hat, treibt mir, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte, Tränen in die Augen. Mutter zu werden war in ferner Zukunft nicht mein Ziel und fühle mich auch jetzt noch nicht bereit dazu, aber da ich nun weiss, dass ich wegen meinen hochhackigen Pumps ein Menschenleben vernichtet habe, überfällt mich die Selbstverachtung doppelt so schwer. Ich lasse meine Augen fest geschlossen und hoffe, dass ich endlich in den Schlaf flüchten kann.
2.
Die Sonne blendet mich, als ich mit pochenden Kopfschmerzen erwache. Wo bin ich? Verwirrt schaue ich mich um. Als ich die vielen Blumen sehe, wird mir wieder alles bewusst. Der Sturz, meine Verletzungen und das verlorene Baby. Aus reinem Impuls heraus lege ich die Hände auf meinen Bauch.
Ich merke gar nicht, dass sich langsam die Tür öffnet und meine Schwester mit ihrer süssen Tochter hereinkommt, so sehr bin ich in Gedanken versunken. Als mein Patenkind sich bereits auf mich stürzen möchte, nehme ich meinen Besuch erst wahr.
„Hey Süsse.“ ich strecke meine Hand nach dem Mädchen aus, woraufhin mein Patenkind zu mir aufs Bett klettert und ihren Kopf an meine Schulter schmiegt.
„Hallo Zoe.“ höre ich nun meine Schwester neben mir, die mich mit einem besorgten Blick mustert.
„Hallo Valerie. Schön euch zu sehen.“
„Wie fühlst du dich?“
„Ich bin auf dem Weg der Besserung.“ leugne ich. Doch meine Schwester lässt sich davon nicht beirren.
„Warum sind dann deine Augen so verquollen und rot unterlaufen?“
Die Frage was wäre, wenn ich immer noch das Kind in mir tragen würde, stiehlt sich abermals einen Weg in mein Gehirn, während ich Caroline sanft über ihr Haar streichle, die immer noch eng an mich gedrückt neben mir liegt.
„Das muss von den Schmerzen sein.“
„Aber ja klar.“ Sie drückt mir einen leichten Kuss auf die Stirn, bevor sie einen Stuhl neben das Bett zieht.
Wie soll ich ihr meine Ängste und Sorgen ausdrücken, da ich selbst den Durchblick nicht habe, wie es mir momentan ergeht? Angespannt schaue ich auf die achtjährige Caroline und bewege meinen Kopf langsam hin und her. Ich hoffe Valerie versteht, was ich ihr damit sagen möchte. Das kleine Mädchen braucht nicht meine Geschichte zu hören.
„Sascha sollte nächstens hier sein. Er hat uns beim Eingang aussteigen lassen und sich dann auf die Suche nach einem Parkplatz gemacht. Heute scheinen wohl alle einen Krankenbesuch machen zu wollen.
Danach haben wir sicher etwas Zeit um zu reden.“ Sie zwinkert mir mit einem angedeuteten Lächeln zu.
„Zoe? Warum bist du hier in diesem Bett und nicht bei dir zu Hause?“ ertönt die kindliche Stimme meines Patenkindes.
„Anscheinend habe ich mich nicht auf die Treppe konzentriert, als ich mit hohen Absätzen hinuntergehen wollte.“
„Bist du gefallen?“
„Ja. Ich bin ganz dumm die Treppe hinuntergestürzt. Ich bin das beste Beispiel, dass man die Treppen nicht unterschätzen darf.“
„Warum sagst du anscheinend?“ wollte meine Schwester wissen.
„Ich kann mich nicht an den Sturz erinnern. Der Arzt meinte, dass ich an irgendeiner Amnesie leide. Den genauen Ausdruck habe ich vergessen.“
„Das ist nicht wahr. Wie kann das passieren?“
„Wahrscheinlich habe ich einen Schock erlitten und verdränge so den Sturz. Ich kann noch so krankhaft versuchen, den Abend in meine Erinnerungen zu rufen, aber das Bild verschwindet und es wird alles schwarz vor meinen Augen, sobald es an der Tür klingelte. An das Nächste, was ich mich wieder erinnern kann ist, dass ich hier in diesem Bett liege und Mam mit einem Arzt in diesem Zimmer ist.“
„Und das bleibt so?“
„Dr. Stevens meinte, dass man irgendwelche Übungen machen kann. Dadurch erhält man eine kleine Chance, um Erinnerungen zurückzugewinnen.“
„Was sind das für Übungen?“
„Das weiss ich noch nicht. Wahrscheinlich kommt heute eine Ärztin vorbei, die spezialisiert darauf ist.“
Meine Schwester und ich sehen gleichzeitig auf, als sich die Tür öffnet. Mein Schwager guckt schüchtern durch den kleinen Spalt und als er uns erkennt, tritt er mit leisen Schritten herein.
„Wie geht es meiner Lieblingsschwägerin?“ Sascha beugt sich zu mir und gibt mir sanft einen Kuss auf die Wange. Mit seiner lieben Art, zaubert er doch tatsächlich für eine Sekunde ein Lächeln auf mein Gesicht.
„Du Charmeur. Als hättest du die grosse Auswahl an Schwägerinnen.“
„Na ja. Aber ich möchte dich doch um nichts auf der Welt gegen eine andere Schwägerin austauschen wollen. Du hast uns allen einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Ich bin froh, dass du endlich wieder bei Bewusstsein bist.“
„Tut mir leid.“ flüstere ich.
„Oh nein. So war es ganz und gar nicht gemeint. Ich wollte dir keine Schuldgefühle machen. Ich möchte dir nur sagen, wie wichtig du für uns bist.“ Sascha drückt mich kurz und lässt mich gleich wieder los, als er merkt, dass ich mich vor Schmerzen anspanne. „Komm meine Süsse. Wir lassen deine Mami und Zoe einen kurzen Moment alleine.“ wendet er sich an seine Tochter.
Caroline erhebt sich müde aus dem Bett und sieht mich mit tränenreichen Augen an, als sie sich zu mir umdreht.
„Es wird alles wieder gut, meine Liebe.“ Ich drücke die Hand meines Patenkindes, während ihr Blick auf mich geheftet ist. „Kommst du mich bald wieder besuchen?“
„Ja.“ Sie beugt sich vor und gibt mir einen Kuss auf die Wange, bevor sie mit ihrem Vater verschwindet.
Die Tür war kaum geschlossen, als meine Schwester einmal tief Luft holt und die unausweichliche Frage stellt. „Was ist passiert, was ich noch nicht weiss?“ Ganz die Art meiner Schwester. Wie immer kommt sie direkt auf den Punkt.
„Ich bin gestürzt und habe mich ziemlich übel verletzt. Reicht das nicht?“
„Mir wäre es lieber, wenn du gar nicht hier liegen würdest, aber ich sehe dir an, dass dich noch etwas beschäftigt. Nur weiss ich nicht, was es ist. Hat es mit Noah zu tun?“
„Warum mit Noah?“
„Hast du endlich mit ihm gesprochen?“
„Ja, ich habe mich endlich von ihm getrennt. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.“
„Wenn ich die Rosen hier ansehe, bin ich mir da aber nicht so sicher.“ Valerie dreht ihren Kopf zu den vielen Blumensträussen und macht eine Handbewegung darüber. „War er hier?“
„Ja. Gestern. Aber ich habe ihm für allemal gesagt, dass er mich in Ruhe lassen soll. Es ist alles geklärt zwischen uns.“
„Also was ist es dann. Rück endlich mit der Sprache heraus. Warum machst du so einen niedergeschlagenen Eindruck?“
Ich weiss, dass ich meine Schwester nicht länger hinhalten kann. Vielleicht tut es mir sogar gut, wenn ich mit jemandem darüber sprechen kann.
„Ähm.“ versuche ich verzweifelt den Anfang zu machen und starre auf meine linke Hand, die auf meiner rechten bandagierten Hand liegt . Ich ringe nach den richtigen Worten, doch die scheinen nicht erscheinen zu wollen „Ich war in der achten Woche schwanger.“ so, jetzt ist es endlich heraus.
Meiner Schwester hat es doch tatsächlich die Stimme verschlagen. Sie sitzt mit offenem Mund da und starrt mich fassungslos an. Als sie sich wieder gefangen hat, schaut sie mir tief in die Augen.
„Das ist wahrhaftig ein Schock. Und wie geht es dir dabei?“
Ich zucke vorsichtig mit meinen Schultern. „Wenn ich das wüsste.“ In ihren Augen schimmern Tränen, was mich dazu veranlasst, meine Eigenen nicht länger zurückhalten zu können. Valerie setzt sich zu mir aufs Bett und hält mich fest an sich gedrückt. Meine zurück gestauten Tränen suchen ihren Weg nach draussen und es dauert lange, bis sie wieder verebben. Ich fühle mich gleich ein klein wenig besser, nachdem ich meinen Gefühlen endlich freien Lauf gelassen habe. Nur leider hält dieses Gefühl der Befreiung nicht lange an.
Sie löst sich von mir und streicht mir die Haare aus dem Gesicht. „Kannst... kannst“ ich spüre, wie die nächste Frage in ihrer Kehle stecken bleibt und ich denke, ich weiss, über was sie sich den Kopf zerbricht. Zögernd spricht sie weiter. „du noch Kinder bekommen?“
Da ist es. Natürlich musste sie mir diese Frage stellen. Wieder starre ich ins Leere und versuche meine Gedanken zu sammeln. Es fällt mir schwer darüber zu sprechen, aber früher oder später kann ich dieser Situation nicht mehr ausweichen.
„Mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht. Das Baby wurde durch den Sturz getötet und ich habe anscheinend dadurch ziemliche schlimme Verletzungen zugezogen.“ Ich schlucke ein paar Mal leer, bevor ich weiter reden kann. „Aber es ist schlimmer als es klingt. Ich war ja sowieso nicht bereit für ein Kind. Das ist wohl jetzt die Bestrafung dafür, dass ich nicht mal gespürt habe, dass ein kleines Wesen in mir herangewachsen ist.“
„Hörst du dir eigentlich selber zu? Wem willst du etwas vorgaukeln? Dir oder mir?“ Meine Schwester fährt wie vom Blitz getroffen auf und ist sichtbar aufgebracht. „Hast du dir selbst zugehört? Du vergötterst Kinder und liebst meine Caroline, als wäre sie dein Eigen. Warum nur...“ Abrupt hört sie auf, mich zu verurteilen und setzt sich wieder langsam auf den Stuhl neben meinem Bett. „Es tut mir leid, Zoe. Ich wollte nicht an dir herumnörgeln oder dich kritisieren.“
„Ist schon gut. Ich denke, wenn ich mir nur genug oft einrede, dass ich sowieso keine Kinder wünsche, ist es vielleicht irgendwann nicht so schlimm. Es war immer so selbstverständlich, dass ich zu irgendeinem Zeitpunkt Kinder haben werde.“ Meine Stimme versagt kläglich und wieder brennen Tränen in meinen Augen, die ich kaum zurückhalten kann.
„Weiss sonst schon jemand Bescheid darüber?“
„Nein und ich möchte es auch nicht an die grosse Glocke hängen.“
„Wirst du es Noah erzählen.“
„Ich denke nicht. Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Und diese Geschichte würde ihm nur einen Grund geben, um sich um mich sorgen zu wollen.“
„Ach meine Süsse. Irgendwie wird schon alles wieder gut werden. Es wird sich schon eine Lösung finden, wenn du bereit dazu bist. Ich bin immer für dich da. Das weisst du hoffentlich, oder?“
„Danke Valerie. Ich bin froh, dass ich mit dir darüber reden konnte.“
Meine grosse Schwester drückt mir sanft die gesunde Hand und gibt mir einen Kuss auf die Wange, nachdem sie sich erhoben hat.
„Ich werde jetzt mal nachsehen gehen, wo Caroline und Sascha sind. Er muss nachher noch zur Arbeit. Wenn du irgendwas brauchst, ruf mich an. Ich werde sofort kommen.“ Sie dreht sich nochmals um, bevor sie aus dem Zimmer verschwindet. „Ach übrigens. Ich habe deinen Chef angerufen und ihm mitgeteilt, dass du hier bist und dass er in den nächsten Tagen wohl nicht mit dir rechnen muss.“
„Danke. Du bist ein wahrer Schatz. Grüss Caroline von mir und sag ihr, dass wieder alles in Ordnung kommt. Ich möchte nicht, dass sie sich irgendwelche Horrorgeschichten zusammenreimt.“
Nach einem etwas weniger beschwerlichen Gang ins Bad, als beim letzten Mal, tat mir anfangs die Stille in meinem Krankenzimmer gut, nachdem meine Schwester gegangen ist und ich in aller Ruhe meinen Gedanken nachgehen konnte. Aber nun fühle ich mich leer in diesem Zimmer und wünschte es wäre jemand hier.
Mein Wunsch bleibt nicht lange in der Luft liegen. Zwar kommt niemand von meinem Bekanntenkreis ins Zimmer, aber ich bin dennoch froh, dass nun eine Ärztin mit weissem Kittel und einem Stethoskop vor mir steht.
„Guten Tag Frau Berner. Ich bin Frau Dr. Christensen.“ Die schöne, rothaarige Mittdreissigerin lächelt mich mit einem warmen Blick an und reicht mir die Hand.
„Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.“
„Das ist doch selbstverständlich. Nun erzählen Sie mir zuerst einmal, was vorgefallen ist. Ich habe zwar durch Dr. Stevens von Ihrem Unfall erfahren, aber ich möchte von Ihnen wissen, an was Sie sich noch erinnern können.“
„Nun...“ ich drehe meinen Kopf zur Seite und sehe aus dem Fenster, als ich an den besagten Abend denke und der Ärztin neben mir, alles zu schildern versuche. „Ich war endlich wieder einmal mit meiner Freundin Pam verabredet. In letzter Zeit haben wir uns ziemlich selten gesehen und ich freute mich über den gemeinsam Abend. Nachdem ich etwas früher von der Arbeit gegangen bin, habe ich mich zu Hause zurecht gemacht. Gerade als ich mich anzog, klingelte es an der Tür. Und nun liege ich hier. Ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin. Pam teilte mir mit, dass sie mich am Ende der Treppe gefunden und sofort den Notruf gerufen hat.“
„Sie müssen einen ziemlichen Schock erlitten haben, dass Sie sich nicht mehr an den Unfall erinnern können. Sie leiden an einer sogenannten retrograde Amnesie. Ihr Gedächtnis versucht dadurch das Erlebte zu verdrängen.“
„Das hat mir Dr. Stevens ebenfalls mitgeteilt.“
„Durch konkrete Gedächtnisübungen können wir vielleicht die Erinnerungen zurückgewinnen. Ich werde ein gezieltes Training für Sie zusammenstellen. Wenn es Ihnen passt, können wir am Donnerstag damit beginnen.“
„Ich habe nichts vor, ausser hier im Bett zu liegen. Viel mehr bleibt mir nicht zu tun. Eigentlich habe ich gehofft, bald möglichst nach Hause gehen zu können. Ich wäre viel lieber in meiner gewohnten Umgebung.“
„Ich kann Sie vollkommen verstehen, aber Ihr Zustand lässt es leider noch nicht zu, dass Sie schon alleine für sich sorgen können.“ Die Ärztin erhebt sich, mit einem Block aus Papier und einem Stift in der Hand und schüttelt mir die Hand. „Also, bis in zwei Tagen. Erholen Sie sich bis dahin gut. Essen Sie genug. So kommen Sie am schnellsten wieder auf die Beine.“
Gerade als Dr. Christensen aus dem Zimmer tritt, taucht eine Krankenschwester, in einen weissen Kittel gekleidet, auf. Diese junge Frau habe ich bis jetzt noch nicht kennengelernt.
„Schön Sie wach zu sehen. Guten Tag Frau Berner. Darf ich mich vorstellen?“
Auch wenn ich ihren Namen gar nicht wissen möchte, kann ich doch wohl schlecht nein sagen, oder? Erschreckt über meine unverschämten Gedanken, versuche ich ein unverkrampftes Lächeln an den Tag zu bringen.
„Mein Name ist Nadja Wulst.“ fährt die Krankenschwester fort „Wie fühlen Sie sich?“
„Besser als noch vor ein paar Stunden.“
„Ich werde Sie jetzt von diesen Schläuchen, die in Ihrem Arm stecken befreien. Diese Infusionen benötigen Sie wohl nicht mehr. Was meinen Sie, kommen Sie ohne diese Gehhilfe zurecht?“ versucht die Krankenpflegerin zu witzeln und lächelt mich voller Freundschaft an. Nur kann ich ihr nicht ganz folgen.
„Wie?“
„Der Infusionsständer war sicher eine gute Stütze.“
„Ach so. Ja das war er. Aber ich bin froh, wenn ich diese Infusionsnadel“ und zeige auf meine linken Arm „nicht mehr benötige. Sie ist äusserst lästig, wenn man sich drehen möchte.“
„Das kann ich Ihnen gut nachvollziehen. Dann werde ich Sie jetzt einmal davon befreien.“
Behutsam löst sie den Kleber, durch den die Nadel an meinem Arm befestigt ist. Danach zieht sie sorgfältig die dünne Nadel heraus, drückt mir eine Mullbinde auf den Einstich und schiebt den Infusionsständer weg. Sie holt ein Pflaster aus dem Schrank und bringt es auf meinem Arm an.
„Das wäre geschafft. Wie sieht es mit Ihren Blutungen aus? Haben Sie nachgelassen?“
Völlig baff, dass sie mich auf die Blutungen anspricht, starre ich sie an. „Ähm, ja.“
„Sie brauchen sich nicht dafür zu schämen.“
„Ich schäme mich nicht. Es ist nur so, dass hier jeder von meinem Missgeschick Bescheid weiss und dass ich dabei mein Baby verloren habe. Jeder wusste es schon, bevor ich es überhaupt erfahren habe.“
„Das braucht Sie keinesfalls zu beunruhigen. Am wichtigsten ist, dass Sie wieder auf die Beine kommen. Alles andere wird sich ergeben.“
„Das sagen Sie so leicht.“
„Ich kann nicht leugnen, dass Sie etwas sehr schicksalhaftes erlebt haben, aber lassen Sie sich bitte nicht unterkriegen. Sie sind noch sehr jung und man weiss nie, was einem das Leben noch alles bringen kann.“
„Leider hat mir der Arzt keine so rosige Zukunft vorausgesagt.“
„Wenn Ihr Kinderwunsch so gross ist, können Sie sich immer noch überlegen, ob Sie allenfalls für eine Adoption fähig sind. Oder ob eine Leihmutter in Frage käme. Aber lassen Sie sich Zeit und verdauen Sie zuerst das, was Ihnen widerfahren ist.“
„Woher nehmen Sie bloss diese Zuversicht?“
„Mein Beruf lehrt es mich. Kommt Ihr Freund noch vorbei?“
„Ich habe keinen Freund.“
„Bin ich etwa schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten?“ schuldbewusst schaut mich die Krankenschwester an.
„Ist schon gut. Es stimmte schon seit längerer Zeit nicht mehr zwischen uns. Nur will er es nicht wahrhaben.“ und ich schaue auf die vielen Rosensträusse, die anscheinend von ihm sind. Ich muss zugeben, dass er in diesem Fall Geschmack bewiesen hat. Nur ist das noch lange kein Grund, bei ihm zu bleiben.
„Eine weitere Patientin wartet auf mich. Sie drücken den Knopf, wenn irgendwas ist?“
Ich nicke nur mit dem Kopf. „Darf ich das Zimmer verlassen?“ Ich spüre plötzlich eine innere Unruhe und habe das Verlangen aus diesen vier Wänden zu kommen, in denen ich mich nun schon seit über vier Tagen befinde.
„Wenn Sie sich stark genug fühlen, dürfen Sie das gerne tun. Bitte teilen Sie jeweils mir oder einer anderen Krankenschwester mit, wenn Sie die Etage verlassen.“
„Ich brauche etwas Abwechslung. Wo befindet sich das Café?“
„Im Erdgeschoss. Warten Sie kurz. Ich bin gleich zurück.“
In der Zwischenzeit gehe ich kurz ins Bad und werfe einen Blick in den Spiegel. Mein geschwollenes Auge sieht nicht mehr so schlimm aus wie gestern, aber es ist immer noch ziemlich dick und der Bluterguss verfärbt sich ganz langsam gelblich. Meine Haare stehen wirr von meinem Kopf ab. Mit ein paar Bürstenstriche bringe ich es einigermassen in Ordnung. Nun noch ein Haargummi um meine langen, braunen Haare und ich sehe gleich etwas präsentabler aus.
Gerade als ich mich auf die Bettkante zurücksetzte, kommt die nette Krankenpflegerin mit einer Krücke in der Hand zu mir zurück. Ich erwarte sie bereits sitzend auf meinem Bett und starre sie entgeistert an. „Muss das sein?“