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Erschrocken löse ich mich aus der Umarmung. „Wer sind sie?“
„Ich werde die Polizei benachrichtigen, damit du eine Anzeige machen kannst.“
„Pam.“ Ich umklammere den Arm meiner Freundin. „Ich werde keine Anzeige machen.“
„Was?“ fährt sie mir dazwischen.
„Du hast mich richtig verstanden. Ich will das alleine klären.“
„Bist du noch bei Trost?“
„Warum er so ausser sich geraten ist, weiss ich nicht. Aber ich werde das mit ihm selbst klären. Ich habe es noch niemanden, ausser dir erzählt. Also behalte es bitte für dich. Kein Wort zu meiner Familie. Versprichst du mir das?“
„Du bist verrückt, weisst du das? Aber du wärst nicht Zoe, wenn du nicht so reagieren würdest. Ich werde niemandem etwas davon erzählen. Sorry, aber ich muss los. Ayden wartet bestimmt schon mit dem Essen auf mich. Du weisst, wie du mich erreichen kannst. Ruf mich an, wenn du mich brauchst. Egal um welche Uhrzeit.“ Pam drückt mich nochmals fest an sich, bevor sie das Zimmer verlässt.
Der Abend schleicht langsam dahin. Ich versuche mich in mein Buch zu vertiefen, das mir Pam netterweise mitgebracht hat, aber ich kann mich nicht auf den Roman konzentrieren. Immer wieder tauchen die schrecklichen Bilder von meinem Streit mit Noah auf. Also nehme ich meinen Laptop zur Hand und blättere in den Onlinezeitungen herum. Da fällt mir ein, dass es vielleicht klug wäre, wenn ich mich mal bei meinem Chef melden würde. Gerade als sich das E-Mail-Programm öffnet, geht die Tür auf.
Mir bleibt der Mund offen stehen, als ich meinen Besuch erkenne. Mit ihm hätte ich am allerwenigsten gerechnet.
„Warum bist du hier? War ich nicht deutlich genug?“
„Ich wollte sehen, wie es dir geht.“
„Willst du das zu Ende bringen, was du angefangen hast?“
Erschrocken sieht er mich an. „Wie soll ich das verstehen?“
„Genau so, wie ich es gesagt habe. Willst du mich nochmals attackieren? Vielleicht so lange, bis ich gar nicht mehr aufstehen kann?“ brülle ich ihn an.
Plötzlich klopft ein Gespräch mit dem Arzt an mein Gehirn. „Du hast mir die verdammten Schuhe angezogen, dass es so aussah, als wäre ich wegen den hohen Absätzen die Treppe hinuntergestürzt.“
Ich sehe, wie Noah fieberhaft nach einer Ausrede sucht. „Ich wollte dir doch niemals wehtun. Das musst du mir glauben.“
„Auch wenn es so sein soll und ich dir gern glauben möchte, hast du es trotzdem getan. Sieh mich an. Ich war tagelang nicht bei Bewusstsein und ich habe immer noch schreckliche Schmerzen. Heute konnte ich wenigstens wieder einmal ein paar Schritte gehen. Und das nur mit einer Krücke. Ich habe gedacht, du liebst mich. Aber man tut doch niemandem so etwas an, wenn einem diese Person am Herzen liegt?“ Verzweifelt versuche ich meine Tränen zu unterdrücken. Noah soll mich nicht so schwach, wie ich in Wirklichkeit bin, sehen.
„Zoe.“ Er versucht nach meiner Hand zu greifen, die ich schnell wegziehe.
„Fass mich nie mehr an! Das ist mein Ernst. Du hast mich geschlagen, getreten und dann noch gestossen. Das kann ich dir niemals verzeihen. Ich habe dich wirklich geliebt. Du warst ein wichtiger Mensch in meinem Leben und hast mich aufgebaut, wenn es mir schlecht ging. Nur fühlte ich mich in den letzten Monaten total eingeengt. Du hast mich nichts mehr alleine unternehmen lassen. Du wolltest, dass ich dich über jeden meiner Schritte informiere. Wenn ich mit Pam verabredet war, hast du mir die Hölle heiss gemacht. Ich habe dir immer und immer wieder gesagt, dass ich meine Freiheiten brauche, aber du wolltest nicht hören. Ich habe mich von dir getrennt, weil du ein totaler Kontrollfreak bist und ich möchte mein Leben wieder zurück. Das kann ich anscheinend nur, wenn wir nicht mehr zusammen sind.“ Erst jetzt bemerke ich, dass meine Stimme immer lauter wurde, während ich auf Noah einredete. Hoffentlich hat niemand unser Gespräch mit angehört.
„Zoe. Lass...“
„Nein!“ unterbreche ich ihn und hebe meine Hand in die Höhe, als er wieder danach greifen möchte. „Ich will das du jetzt gehst und dich niemals mehr blicken lässt, sonst gehe ich zur Polizei und erzähle ihnen, was du mir angetan hast.“
„Du drohst mir?“ Seine Augen blitzen gefährlich auf, was mich zusammenzucken lässt. Die Angst, die mich vor dem ersten Schlag heimsuchte, kehrt augenblicklich zurück. Dieses Mal jedoch bleibt seine Faust dort, wo sie hingehört. In seiner Hosentasche. Er dreht sich ohne ein weiteres Wort um und geht mit grossen Schritten Richtung Tür. Plötzlich bekomme ich das Bedürfnis ihm wehzutun.
„Noah.“ sage ich mit einer festen Stimme, die selbst in meinen Ohren fremd klingt und warte ab, bis er mich ansieht. „Ich war schwanger und das bereits in der achten Woche. Es war dein Kind. Du hast es umgebracht! Du allein bist schuld daran, dass das Baby nicht mehr lebt! Nun hast du nicht nur mich verloren, sondern auch noch dein eigenes Kind.“ Eigentlich wollte ich ihm nichts davon erzählen, aber der Wunsch ihm wehzutun, war grösser.
Ich kann den Schmerz, der ihn heimsucht, in seinen Augen erkennen. Doch das was er mir angetan hat, ist schlimmer, als das was ich eben getan habe.
„Ich an deiner Stelle würde mir gut überlegen, was du tust. Schau mal auf deinem iPhone nach.“ ohne ein weiteres Wort verlässt er den Raum und ich kann mich endlich meiner Trauer hingeben. Die Tränen laufen mir über die Wangen, bis sie irgendwann versiegen.
Nachdem ich mich wieder gefangen habe, erinnere ich mich an Noahs letzte Worte. Was hatte er damit gemeint, dass ich mir gut überlegen soll, ihn anzuzeigen? Mit einer bösen Vorahnung nehme ich mein Telefon zur Hand und entsperre das Display. Zwei neue Nachrichten von Noah. Ich drücke auf die Erste, um sie zu öffnen. „Nein!“ schreie ich laut heraus. Eine Übelkeit steigt in mir auf, wie ich sie noch nie empfunden hatte. Ich lasse meine Hand sinken und schliesse geschlagen meine Augen.
4.
Draussen fegt der Wind. Es sieht grau und nass aus. Das Wetter passt genau zu meiner Stimmung. Ich fühle mich zerschlagen und leer. Letzte Nacht bin ich ständig von schrecklichen Albträumen geweckt worden. Immer wieder schreckte ich schweissnass auf und wusste anfangs nicht, ob ich wirklich geträumt habe oder ob es real war. Wann hört das endlich auf? Ich möchte vergessen können, was geschehen ist und mich wieder auf meine Zukunft konzentrieren. Eines weiss ich nun, dass ich mein Leben ohne ein eigenes Kind planen muss. Bei diesem Gedanken zieht sich schon wieder mein Herz zusammen. Schau nach vorne. Schau nach vorne, versuche ich mir einzutrichtern und höre die Stimme meiner Schwester. Es wird sich schon eine Lösung finden, wenn du bereit dazu bist. Ich hoffe sie hat recht. Momentan aber zweifle ich eher daran.
In meine trüben Gedanken vertieft, höre ich gar nicht, wie jemand an die Tür klopft. Erst als die Morgenkrankenschwester mit einem Tablett, das mit Brötchen, Konfitüre, Butter, heisser Milch und Kakaopulver beladen ist, eintritt, wird mir bewusst, wie sehr mich meine Gefühle und Gedanken gefangen halten. Ich muss etwas ändern und zwar schnell. Es reisst mich sonst in einen riesigen Graben.
„Guten Morgen Frau Berner. Wie fühlen Sie sich?“
„Besser. Danke.“ belüge ich die Krankenschwester.
„Wo soll ich Ihr Frühstück hinstellen?“
„Auf den Tisch neben dem Fenster.“ mich überkommt auf einmal ein Hunger, den ich schon seit Tagen verloren geglaubt hatte und setzte mich vor die köstlich duftenden Brötchen. „Ich werde später ins Café gehen.“ sage ich zur Schwester, während sie meine Bettdecke und das Kissen ausschüttet.
„Die Krücke haben Sie ja. Brauchen Sie noch Schmerztabletten?“
Gegen die Schmerzen in meinem Herzen bräuchte ich was, schiesst es mir durch den Kopf. „Ich habe noch welche. Danke.“
„Gut. Sonst drücken Sie den Knopf oder kommen in unser Schwesternzimmer, wenn Sie etwas benötigen.“
Irgendwie schaffe ich es doch noch in meinem Buch zu lesen oder habe ich nur die Seiten umgeblättert? Denn ich kann mich nicht wirklich an den Inhalt erinnern.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist kaum nach zehn Uhr. An der Wand rechts von mir, steht die Krücke, die schon darauf wartet, mich irgendwohin zu begleiten. In diesem Zimmer fühle ich mich eingesperrt und verlassen. Was ja gar nicht so falsch ist. Aber bin ich nach dem gestrigen Vorfall dazu bereit, mich wieder im Café blicken zu lassen? Ich kann mir nur wünschen, dass mich niemand erkennt. Unter keinen Umständen möchte ich diesem Alexander begegnen. Das wäre mir zu peinlich. Im Badezimmer kämme ich meine Haare durch, lege etwas Make-Up auf mein Gesicht und decke das farbige Auge damit ab. Etwas Wimperntusche und frische Kleider. Nun fühle ich mich bereit, unter die Menschen zu gehen.
Unten im Café sehe ich mich nach einem freien Tisch um. Eigentlich bräuchte ich nicht so lange danach zu suchen, wie ich es tue. Es gibt etliche freie Plätze, aber ich stehe da und sehe mich um. Nur nach was oder besser gesagt wem halte ich Ausschau, frage ich mich. Verwirrt hole ich eine Zeitung am Kiosk und ein Rivella. In der einen Hand halte ich die Krücke und stütze mich darauf ab, in der Anderen eine Plastiktüte, in die mir die nette Verkäuferin die gekauften Sachen getan hat. Hinkend begebe ich mich an den erstbesten Tisch und setze mich so hin, dass ich aus dem Fenster blicken kann, obwohl es ausser dem Regen nichts zu sehen gibt. Die meisten anderen Tisch befinden sich hinter meinem Rücken. Obwohl ich niemand erkannt habe, befürchte ich, dass trotzdem über mich getuschelt wird. So brauche ich wenigstens das Gerede nicht mitanzusehen. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon hier sitze und Zeitung lese, als mich irgendwas meine Aufmerksamkeit erweckt.
Aus den Augenwinkeln sehe ich ihn, wie er einen Rollstuhl vor sich hinschiebt. Darin sitzt die Frau, mit der er gestern schon zusammensass und hinter ihnen erkenne ich die beiden Herren, die am vergangenem Tag ebenfalls anwesend waren.
Er würdigt mich keines Blickes, worüber ich ein wenig enttäuscht zu sein scheine. Warum nur muss ich bloss ständig zu ihm hinübersehen? Aber ich muss mir eingestehen, dass ich lieber diesen schönen Mann mit seinen kurzen, dunkelblonden Haaren betrachte, als mich meiner jüngsten Vergangenheit ergebe.
Als ich gerade wieder einen Blick zu ihm werfe, stelle ich fest, dass er mich ansieht. Wow, diese Augen. Ich habe das Gefühl, als würde ich mich in diesem olivgrün verlieren. Gerade in dem Moment bemerke ich, dass mich die Frau, die neben ihm sitzt, beobachtet. Gleich darauf wendet sie ihren Kopf zu Alexander und flüstert ihm irgendwas zu, worauf er sich von mir abwendet und seine Tischnachbarin ansieht und beide zu lächeln beginnen. Ich möchte es mir nicht eingestehen, aber dieser Anblick versetzt mir einen ziemlichen Stich in mein Herz. Warum plagt mich das so? Habe ich nicht genug mit meiner Misshandlung von Noah zu ertragen? Machen sie sich vielleicht über mich lustig?
Eilig packe ich meine Sachen zusammen und gehe, so schnell es mein Körper zulässt, Richtung Fahrstuhl. Ich möchte nur noch in mein Zimmer. Diese Demütigung brauche ich nicht länger hinzunehmen. Ich drücke auf den Knopf und warte ungeduldig, bis die Aufzugtüren sich endlich öffnen.
„Hallo Zoe. Ich habe gehofft Sie wiederzusehen.“
Mich überrieselt ein wohliger Schauer, als ich die unverkennbare, tiefe, sanfte Stimme hinter mir wahrnehme und drehe mich im selben Moment um. Obwohl ich mich darüber freue, dass er mich angesprochen hat, bin ich zu keiner Erwiderung fähig und bleibe stocksteif stehen. Diese olivgrünen Augen ziehen mich vollends in seinen Bann.
In einem kleinen Abstand sehe ich die beiden Männer, die vorhin mit Alexander an den Tisch traten und immer wieder verstohlene Blicke auf uns zuwerfen. Warum sind die hier und beobachten uns? Obwohl ich keine Gefahr von Alexander befürchte, wird es mir etwas unheimlich.
„Wie fühlen Sie sich heute?“ reisst er mich aus meiner Starre.
„Hallo... Alexander. Gut... danke.“ stammle ich verlegen herum.
„Wollen Sie schon wieder in Ihr Zimmer?“
„Mein Mittagessen wird sicher gleich gebracht. Ich sollte dann mal weiter.“ Obwohl ich kein Verlangen nach Essen verspüre bin ich heilfroh, auf mein Zimmer fliehen zu können. Nur vor was will ich mich in Sicherheit bringen? Etwa vor den wirren Gefühlen, die dieser attraktive Mann in mir auslöst? Ein leichtes Ziehen in meiner Magengrube lässt mich leicht erröten. Ich wünsche mir, dass Alexander das nicht sieht.
„Schade. Ich habe mir gewünscht, Sie zum Essen einladen zu können.“
„Vielleicht ein ander Mal.“ Als ich mich umdrehen möchte, fasst plötzlich eine Hand nach meinem Arm. Ich kann nichts dafür, aber ich zucke sofort zusammen und eine beklemmende Angst ergreift mich. Ich wage kaum zu atmen und sehe Alexander mit weit aufgerissenen Augen direkt an. Mein Blick muss ihn so erschüttern, dass er seine Hand von meinem Arm nimmt und sich bei mir entschuldigt.
„Habe ich Ihnen wehgetan?“ fragt er mich mit seiner charmanten Stimme.
„Nein.“ Sie nicht, aber jemand anders, fährt es durch meine Gedanken. Ich brauche meine ganze Kraft, nicht in Tränen auszubrechen.
Soll das jetzt immer so weitergehen? Habe ich von jetzt an ständig Angst, wenn mich jemand berührt?
„Was machen die beiden Herren dort in der Ecke? Warum beobachten die uns?“
Er sieht über seine Schulter und nickt den beiden zu. Diese jedoch machen keine einzige Bewegung. Alexander blickt wieder zu mir und schenkt mir seine Aufmerksamkeit.
„Ach die. Die sind nur für meine Sicherheit zuständig.“
„Für Ihre Sicherheit?“
Fast lautlos öffnen sich hinter mir die Aufzugtüren und eine Frau in einem weissen Kittel tritt neben mich. Erst als sie auf meiner Höhe stehen bleibt, wird mir bewusst, dass sie mit mir gesprochen hat. Aber ich habe keine Ahnung, was sie von mir will.
„Frau Berner? Ist alles in Ordnung?“ fragend blickt sie mich an.
„Ja.“
„Sind Sie sich auch sicher?“
„Ich habe sie nur nicht gehört. Das ist alles.“ Sie sieht mich mit einem Ausdruck an, der mir beweist, dass sie nicht überzeugt davon ist, dass alles gut ist.
„Herr Dr. Stevens sucht Sie. Könnten Sie mir bitte folgen?“
„Natürlich.“ Ich wende mich an Alexander, der immer noch vor mir steht. „Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.“
„Darf ich Sie heute Abend zum Essen einladen? Auch wenn es nur in der Kantine von diesem Krankenhaus ist?“
Ich fühle mich geschmeichelt, von diesem bezaubernden Mann zum Essen eingeladen zu werden. Aber was ist mit der Frau, die im Café auf ihn wartet?“
„Ich würde Ihre Einladung gerne annehmen, wenn nicht schon eine Frau im Café auf Sie warten würde. Machen Sie es gut, Alexander.“
Er zieht seine Stirn in Falten und überlegt angestrengt, was ich wohl damit gemeint haben könnte. Ich stehe schon im Fahrstuhl und die Türen schliessen sich langsam, als er zu verstehen glaubt.
„Sie ist nicht meine Freundin oder Frau, wenn Sie das denken.“
Ich trete auf den siebten Stock hinaus. Warum habe ich ihm keine Gelegenheit gegeben, um alles erklären zu können? Vielleicht ist es ja seine Schwester oder Cousine? Wer weiss. Warum bin ich einfach davon ausgegangen, dass es seine Partnerin sein müsse? Umso näher ich meinem Zimmer komme, umso wütender bin ich auf mich selbst. Wiederum habe ich für eine Zeit lang genug von dem männlichen Geschlecht. Zuerst muss ich mit dem umgehen können, was mir Noah angetan hat. Ich habe ihm vertraut und ihn einst geliebt. Nie hätte ich geglaubt, dass er mir so etwas schreckliches, wie vor ein paar Tagen, antun könnte. Wie soll ich je wieder das Vertrauen in einen anderen Mann gewinnen?
„Einen sehr attraktiven Mann haben Sie da kennengelernt.“
„Wie?“
Die etwa fünfzigjährige Krankenschwester, die neben mir hergeht, sieht mich mit einem verschmitzten Lächeln an. „Der Mann von vorhin.“
„Ach so. Ja das ist er.“
„Warum wollen Sie dann die Einladung nicht annehmen?“
Musste diese Schwester alles mit anhören? „Ich bin noch nicht bereit dazu.“ Jetzt ist es die Frau im weissen Kittel, die mich verdutzt ansieht.
„Es geht mich zwar nichts an,...“ Da hat sie verdammt noch mal Recht. „...aber lassen Sie ihn nicht zu lange warten. Es gibt zu viele andere Frauen auf dieser Welt, die diesen Schönling sicherlich auch interessant finden.“
Dann soll doch jemand anderes ihn schnappen. Auch wenn sie es nur gut mit mir meint, gehen mir ihre Ratschläge langsam auf die Nerven. Ich habe momentan weiss Gott genug andere Unannehmlichkeiten zu verdauen, als dass ich mich gleich dem erstbesten Mann an den Hals werfen möchte. Schweigsam gehe ich weiter auf mein Zimmer.
„Frau Berner, wie geht es Ihnen heute?“
„Den Umständen entsprechend.“
Dr. Stevens tritt zu mir und nimmt ein Gerät nach dem Anderen aus seiner Kitteltasche, um mich zu untersuchen. „Soweit ich es äusserlich beurteilen kann, sind sie auf dem besten Weg zur Besserung.“ Er greift nach meiner linken Hand und nimmt die Bandage ab, um sie sorgfältig abzutasten. „Die sieht auch schon ganz gut aus. Ich denke, wir können den Verband weglassen. Wie kommen Sie mit der Krücke zurecht?“
„Mit jedem Spaziergang besser.“
„Es ist nur förderlich, dass Sie sich etwas Bewegung gönnen, aber bitte belasten Sie noch nicht allzu sehr Ihre Beine. Jetzt würde ich gerne noch die gebrochenen Rippen abtasten. Bitte legen Sie sich kurz auf den Rücken.“
Mir wird ganz anders zumute. Nachdem ich weiss, was vorgefallen ist, habe ich plötzlich ein eigenartiges Gefühl. Was hat der Arzt nun vor? Will er mich berühren? Mein ganzer Körper fängt an zu zittern und ich kann nichts dagegen unternehmen. Hoffentlich bemerkt es Dr. Stevens nicht, wie ich mich anspanne und mich kaum getraue Luft zu holen, während er mein Kopfteil nach unten lässt.
„Entspannen Sie sich. Ich taste nur kurz die verletzten Stellen ab. Sagen Sie mir, wenn es Ihnen wehtut.“
Als ich die Krankenschwester neben meinem Bett bemerke, kann ich mich von meiner inneren Anspannung ein klein wenig befreien.
Er schiebt meinen schwarzen, lockeren Pullover nach oben und begutachtet die blauen Flecken, die auf dem ganzen Körper verteilt, zu sehen sind. Am liebsten würde ich laut herausschreien, er solle seine Finger von mir lassen, als er sie behutsam auf meine Haut legt.
„Autsch!“ Verdammt, tut das weh.
„Entschuldigung.“ Dr. Stevens schiebt mein Oberteil wieder nach unten und sieht mich mit einem überaus bemitleidendem Blick an. „So wie es scheint, braucht die Heilung einiges länger, als ich erwartet habe.“
„Und was soll das jetzt bedeuten?“
„Sie müssen noch mindestens drei Tage hier bleiben.“
Oh nein. Nicht auch das noch. Ich möchte in meine eigenen vier Wände zurück.
„Aber ich kann doch zu Hause genauso gut in meinem Bett liegen, wie hier.“
„Wohnen Sie mit jemandem zusammen?“
„Nein.“ Meine Stimme fängt leicht an zu beben. Wieder muss ich gegen die Tränen ankämpfen. Ich hatte einen Freund, der mich misshandelt hat und von dem ich schwanger war. Jetzt, jetzt bin ich ganz alleine.
„Hier ist rund um die Uhr jemand für Sie da. Machen Sie einen kleinen Spaziergang in unserem Park. Oder gehen Sie ins Café und bestimmt kommt Ihre Verwandtschaft Sie besuchen. Sie werden sehen, die Zeit hier vergeht ganz schnell.“
„Bei diesem scheusslichen Regen und mit der Krücke habe ich keine Lust hinauszugehen.“
„Die Sonne wird sich morgen wieder von ihrer schönsten Seite zeigen. Wie sieht es mit ihren Erinnerungen aus? War Frau Christensen schon bei Ihnen?“
Mein Herz setzt einen kurzen Moment aus. Was soll ich ihm bloss erzählen? Ich starre auf meine Beine, die in eine lockere Trainerhose gekleidet sind. Die Wahrheit?
„Sie war gestern hier und kommt morgen wieder, um ein paar Gedächtnisübungen zu machen.“ Wenigstens musste ich ihn so nicht belügen. Aber kann ich Dr. Christensen etwas vorspielen?
„Ich wünsche Ihnen viel Erfolg morgen. Ich werde am Donnerstag wieder nach Ihnen sehen.“
Der Arzt verabschiedet sich von mir und verschwindet im Flur.
„Ich bringe Ihnen in wenigen Minuten das Mittagessen. Brauchen Sie noch irgendwas?“ Vor Schreck entflieht mir beinahe ein Schrei. Obwohl ich sie die ganze Zeit gesehen habe, habe ich ihre Anwesenheit vollständig verdrängt.
„Danke, nein.“
„Sie sehen bedrückt aus? Die paar Tage, die Sie hier verbringen müssen, gehen schnell vorüber. Sie werden schon sehen. Und Frau Christensen ist wahrhaftig eine Spezialistin auf ihrem Gebiet. Sie kann Ihnen bestimmt Erinnerungen von Ihrem Unfall hervorlocken.“
Wenn die Krankenschwester wüsste, was mich in Wirklichkeit belastet, würde Sie nicht mehr so unbeschwert reagieren. Warum erzähle ich eigentlich niemandem die Wahrheit darüber, was Noah mir angetan hat? Schäme ich mich dafür? Oder habe ich Angst davor, dass er nochmals auf mich losgehen könnte?
„Sie haben bestimmt recht.“ Ich möchte, dass sie mich alleine lässt und schaue sie eindringlich an. Ich sehe ihr nach, wie sie mit schnellen Schritten aus dem Zimmer schreitet, wobei ich ihre schwarzen Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden waren, hin und her wippen sehe. Gleich darauf kehrt sie mit meinem Essen zurück und verabschiedet sich mit wenigen Worten.
Ich sitze am Tisch und stochere lustlos in meinem Teller herum. Wenngleich mein Magen zu rebellieren versucht, bringe ich keinen Bissen herunter.
Die Faust, die sich um mein Herz gelegt hat, drückt immer mehr zu. Mich ergreift das Gefühl, als würde mir das Leben herausgerissen. Ich möchte nicht ständig an das Unglück denken, das mir widerfahren ist. Wann kann ich endlich wieder ein ungetrübtes Leben führen?
Mit dreissig habe ich mein Leben wahrlich anders vorgestellt. Ich dachte einst, bis dahin wäre ich verheiratet und hätte Kinder. Kein bisschen ist von all dem in Erfüllung gegangen. Wenigstens habe ich einen Beruf, den ich liebend gerne ausübe. Nun bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich meinem Job voll und ganz hinzugeben. Etwas anderes wird es für mich nicht mehr geben. Bei diesem Gedanken kullern mir schon wieder Tränen über meine Wangen. Ich bin über mich selbst enttäuscht, wie ich in so einer kurzen Zeit ein völliges Frack werden konnte. Ich war immer gut gelaunt und hatte ein enormes Selbstwertgefühl. Wo ist all das hin? Ich spüre von all dem nichts mehr in mir. Ich habe keinen Grund fröhlich oder glücklich zu sein. Wenn jemand etwas zu laut mit mir spricht, zucke ich gleich zusammen und bebe vor Angst. Kein Stolz, keine Würde scheint geblieben zu sein.
Einen Blick aus dem Fenster zeigt mir, dass sich immerhin das Wetter aufgehellt.
Ich muss eingeschlafen sein, denn draussen scheint die Sonne und blendet mich mit ihren hellen Strahlen. Sofort beschliesse ich ein wenig in den Krankenhauspark zu gehen. Ich wackle ins Bad und putze mir kurz die Zähne. Gerade als ich mein Buch in meine Handtasche packen möchte, klopft es an die Tür, woraufhin sie vorsichtig geöffnet wird.
„Ich habe gehofft, Sie hier anzutreffen.“
Diesen Besuch hätte ich nie im Leben erwartet. Ich schnappe nach Luft und gaffe, etwas aus der Fassung gebracht, zu ihm hinüber. Alexander steht an den Türrahmen gelehnt da und sieht mich mit seinem anziehendem Lächeln, das seine makellosen Zähne freigibt, an. Ich bin zu keiner Erwiderung fähig und starre weiterhin wortlos in seine Augen.
„Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber möchten Sie mit mir in den Park gehen?“
Eigentlich wollte ich alleine sein. Mich meinen wirren Gedanken und Gefühlen hingeben. Jedoch habe ich das mittlerweile genug getan, oder? Schon seit mehreren Tagen liege ich nun in diesem Krankenhaus und hatte reichlich Zeit, um all das was geschehen ist, zu verdauen. Ein wenig Ablenkung und dann noch mit so einem charmantem Typen, wie Alexander, zusammen zu sein, sollte ich mir vielleicht nicht entgehen lassen. Ich nehme meine Tasche und die Krücke zur Hand. „Da wollte ich sowieso hin.“ Ich kann in seinem Gesicht, für einen winzigen Augenblick, erkennen, dass er erstaunt über meine Antwort ist, sich aber gleich wieder fassen kann. Ein kleines Schmunzeln kann ich nicht verkneifen, sehe jedoch zu Boden, dass er es nicht sehen kann.
„Soll ich Sie stützen?“