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Angebots- und Systemsteuerung – auf dem Weg zu einem »lernenden Übergangssystem«
Zur Optimierung des Übergangssystems sind gegenwärtig weitere gemeinsame strategische Maßnahmen erforderlich. Die Systemoptimierung kann dabei als umfassend verstandenes Case-Management Berufsbildung aufgefasst werden, das etwa folgende Elemente enthalten müsste:
•Die zuständigen Behörden verfolgen eine gemeinsame Strategie, und ihre Angebote sind konsequent darauf ausgerichtet und untereinander koordiniert.
•Die Angebote sind aufeinander abgestimmt, das heißt, es bestehen möglichst keine Lücken und keine ungewollten Überschneidungen bezüglich Zielgruppen und Verortung im Übergangssystem.
•Das Grundangebot im Übergangssystem sollte von klar strukturierten staatlichen Programmen abgedeckt werden. Für spezielle kleinere Zielgruppen können spezialisierte, flexible Anbieter beauftragt werden. Erstere gewährleisten eine größere Anzahl Plätze mit klar definiertem Grundprogramm und Leistungsumfang, die einfache Information und abgestimmte Zuweisung der potenziellen Teilnehmenden, Letztere die notwendige Ergänzung für Zielgruppen mit speziellen und individuellen Bedürfnissen.
•Alle Beteiligten, vor allem die Jugendlichen selbst, sind über die Angebotsstruktur hinreichend informiert. Alle wichtigen Informationen über die Angebote sind zentral zugänglich.
•Die Zuweisungs- und Aufnahmeverfahren und Aufnahmekriterien der Angebote sind aufeinander abgestimmt, damit zufällige, das heißt für die Jugendlichen suboptimale Angebotsnutzungen verhindert werden können.
•Hürden, formale Vorgaben (etwa sachfremde Aufnahmekriterien wie z. B. Ausländerstatus) und falsche Anreize (z. B. unterschiedliche Entschädigungspraxis in den Angeboten), die Berufsintegration behindern, werden beseitigt, soweit dies gesetzlich möglich ist.
•Die Übergaben und Schnittstellen zwischen den Angeboten sind geklärt, und das »abgebende« Angebot stimmt sein Programm auf die Voraussetzungen für das »aufnehmende« Angebot ab.
•Die zuständigen Behörden fühlen sich bei der Finanzierungsfrage für »ihre« Zielgruppe verantwortlich und finanzieren die entsprechenden Angebote, ohne die Kosten auf andere abwälzen zu wollen.
•Es ist geklärt, wer welche Unterstützungsfunktion übernimmt. Die verschiedenen Unterstützungsmaßnahmen sind untereinander und mit dem Förderprogramm im Klassenverband gut koordiniert.
•Jugendliche, die direkt in die Berufsbildung einsteigen könnten, werden bei Bedarf unterstützt, zum Beispiel mit einem Vermittlungsangebot am Ende der obligatorischen Schulzeit.
•Durch gezielte Lehrstellenförderung kann die »systemische Pufferfunktion« der Brückenangebote weitgehend vermieden werden – was für die Jugendlichen sinnvoll und für die Behörden kostensparend ist.
•Jugendliche mit Bedarf an »Berufsintegrationscoaching« erhalten dieses bereits während der letzten Schuljahre. Auch erste Erfahrungen in Betrieben – zum Beispiel mit Praktika oder Wochenplätzen – können hilfreich sein. Der Bedarf an speziellen Maßnahmen wird mit einer umfassenden Standortbestimmung im achten Schuljahr geklärt.
Die Übergangssysteme einiger Kantone haben sich bereits in diese Richtung entwickelt. Allerdings kann das System nicht nur »top-down« gesteuert werden. Alle beteiligten Lehr-, Beratungsund Coaching-Personen benötigen ein gemeinsames Verständnis ihrer Aufgaben sowie Wissen über die Partner im System und deren Handlungslogik. So kann sich das Übergangssystem vom »Hilfssystem« zu einem »lernenden System« entwickeln, das die großen Herausforderungen bei der wichtigen beruflichen Integration meistern kann.
Literatur
BBT (2005). Lehrstellenbarometer. Bern: Bundesamt für Berufsbildung und Technologie. www.sbfi.admin.ch/berufsbildung/01587/01607/index.html?lang=de [18.4.2014].
Brock, Ditmar (1991). Übergangsforschung. In: Ditmar Brock, Brigitte Hantsche, Gertrud Kühnlein, Heiner Meulemann & Karen Schober (Hrsg.), Übergänge in den Beruf. Zwischenbilanz zum Forschungsstand (S. 9–26). München: Deutsches Jugendinstitut (DJI).
Generalsekretariat EDK, Koordinationsbereich Sekundarstufe II und Berufsbildung (2011). Projekt Nahtstelle: Schlussbericht. Bern: Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren. http://edudoc.ch/record/88692/files/nahtstelle_schlussbericht_d.pdf?version=1 [18.4.2014].
Maurer, Markus (2013). Herausforderungen für das schweizerische Berufsbildungssystem – ein Ausblick. In: Maurer, Markus & Philipp Gonon (Hrsg.), Herausforderungen für die Berufsbildung in der Schweiz. Bestandesaufnahme und Perspektiven (S. 243–249). Bern: hep.
Meyer, Thomas (2003). Zwischenlösung – Notlösung? In: Bildungsmonitoring Schweiz/BFS (Hrsg.), Wege in die nachobligatorische Ausbildung. Die ersten zwei Jahre aus der obligatorischen Schule. Zwischenergebnisse des Jugendlängsschnitts TREE (S. 101–108). Neuenburg: Bundesamt für Statistik.
SBFI (2013). Lehrstellenbarometer. Bern: Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation. www.sbfi.admin.ch/berufsbildung/01587/01607/index.html?lang=de [18.4.2014].
SBFI (2014). Berufsbildung in der Schweiz 2014 – Fakten und Zahlen. Bern: Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation. www.sbfi.admin.ch/berufsbildung → Themen → Berufsbildung → Dokumente [18.4.2014].
Schaffner, Dorothee (2008). Berufsintegration – eine Aufgabe schulischer und außerschulischer Kooperationspartner. In: Florian Baier & Stefan Schnurr (Hrsg.), Schulische und schulnahe Dienste. Angebote, Praxis und fachliche Perspektiven (S. 185–203). Bern: Haupt.
SKBF (2014). Bildungsbericht Schweiz 2014. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung.
Strupler, Mirjam & Wolter, Stefan C. (2012). Die duale Lehre: eine Erfolgsgeschichte – auch für die Betriebe. Ergebnisse der dritten Kosten-Nutzen-Erhebung der Lehrlingsausbildung aus der Sicht der Betriebe. Zürich: Rüegger.
WBF (2013). Gezielte Förderung und Unterstützung von Jugendlichen mit unterschiedlichen Begabungspotenzialen an der Nahtstelle I und in der Berufsbildung. Bericht des Bundesrats in Erfüllung der Postulate Ingold 10.3738 vom 29.09.2010, Jositsch 11.3483 vom 01.06.2011, Müri 11.4007 vom 30.09.2011 und Schilliger 13.3311 vom 17.04.2013. Bern: Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung. http://edudoc.ch/record/110019/files/WBF_Bericht-de.pdf [18.4.2014].
Wettstein, Emil & Gonon, Philipp (2009). Berufsbildung in der Schweiz. Bern: hep.
Wettstein, Emil; Schmid, Evi & Gonon, Philipp (2014). Berufsbildung in der Schweiz, Formen, Strukturen, Akteure (2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage). Bern: hep.
Brückenangebote brauchen Gestaltungsspielräume
Dagmar Voith
Wie Simon Zysset in seinem Beitrag aufzeigt, hat sich die Landschaft am Übergang von der Volksschule in die Arbeitswelt in den letzten Jahren stark gewandelt, sodass die berufliche Integration für viele Jugendliche schwieriger geworden ist. Dieser Trend scheint sich fortzusetzen, obgleich schon verschiedene Maßnahmen dagegen eingeleitet wurden. Besonders in urbanen Kantonen ist die Vielfalt der Angebote groß und wird auch von vielen Jugendlichen genutzt. In letzter Zeit wurden in den meisten Kantonen Anstrengungen unternommen, die Angebote besser zu koordinieren und zu steuern.
Die pragmatische Angebotsentwicklung und -vielfalt an der Nahtstelle I hat dazu geführt, dass sich Partikularinteressen gegenwärtig gut Gehör verschaffen können. Wenn verschiedene Angebote bei unterschiedlichen Trägern angesiedelt sind und keine Koordination besteht, kann dabei der Gesamtblick verloren gehen. Erforderlich ist daher eine klare Strategie der Kantone, die sich über Partikularinteressen hinwegsetzt, um Angebote bedarfsgerecht aufeinander abzustimmen.
Dabei gilt es, die spezifischen Bedingungen von Brückenangeboten zu berücksichtigen. Auch wenn die Zielgruppen dieser Angebote auf den ersten Blick sehr klar scheinen, ergeben sich in der Praxis häufig Verschiebungen von Zielgruppen, weil sich der Unterstützungsbedarf der Jugendlichen während einer Maßnahme ändern kann (zum Beispiel wenn sich klare Berufswünsche letztlich doch als unrealistisch erweisen). Von trennscharfen Angebotstypen ist daher nicht auszugehen. Dazu kommt, dass es nicht nur an den schulischen Leistungen oder zu engen Berufswünschen liegt, wenn Jugendliche keine Anschlusslösung finden. Ebenso kann es an der fehlenden Passung mit zur Verfügung stehenden Lehrstellen liegen oder an nicht gefestigten sogenannten überfachlichen Kompetenzen wie Selbstverantwortung, Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz usw. Da Brückenangebote im Kern meist darauf ausgerichtet sind, solche Kompetenzen zu erweitern, verstehen sie sich in der Regel auch nicht als allgemeine, sondern als spezifische Angebote, die Jugendliche möglichst individuell begleiten, stärken und fördern sowie Defizite individuell ausgleichen wollen. Weil Brückenangebote sich nicht an allgemeinen Lehrplänen orientieren müssen (wie zum Beispiel die Volksschule), haben sie viel Freiraum, ihr Angebot bedarfsgerecht zu gestalten. Dies hat dazu geführt, dass in Brückenangeboten neue und individualisierende Unterrichtsformen erfolgreich angewandt werden, die den hohen Ansprüchen einer individuellen Begleitung gerecht werden können. Dies muss auch weiterhin gewährleistet werden.
Der Kernauftrag der Brückenangebote besteht darin, Jugendliche, die bereits viele schwierige Schul- und/oder Berufsfindungsprozesse durchgemacht haben, an eine für sie geeignete Anschlusslösung heranzuführen. Ein hohes Engagement der Fachpersonen ist für den Erfolg von Zwischenlösungen unabdingbar, denn die Arbeit an der Schnittstelle wird von Politik, Wirtschaft und meist auch von den Beteiligten selbst als sehr anspruchsvoll beurteilt. Sie werden häufig konfrontiert mit schwierigen Situationen der Lernenden, zugleich scheinen die Anforderungen der Berufswelt weiter zu steigen. Lehrpersonen, die sich auf diese anspruchsvolle Aufgabe einlassen, empfinden diese in der Regel als motivierend. Der Ansporn kann sich jedoch schnell in ein Gefühl von »quälendem« Stress verwandeln, zum Beispiel wenn der bildungspolitische Druck so groß wird, dass die Qualität der Arbeit ausschließlich an der Vermittlungsquote gemessen wird. Da sich, abgesehen von dieser Quote, wenig anderes messen lässt, außerdem die bildungspolitischen Ziele – die Simon Zysset in seinem Artikel beschreibt – den Fokus stark auf die Nahtstelle I lenken, ist der Druck auf die Brückenangebote gegenwärtig enorm. Das kann für Lehrpersonen, die sich mit großem Engagement für die Anliegen von wenig privilegierten Jugendlichen einsetzen, eine sehr hohe Belastung sein. Hier gilt es, Sorge zu tragen, dass Lehrpersonen (und im weiteren Sinn auch die Schulen selbst) sich vom Anspruch abgrenzen, die Verantwortung für den Erfolg der einzelnen Jugendlichen allein zu tragen. Die oft spürbare Ambivalenz im Zusammenhang mit Brückenangeboten wirkt sich auch auf das Selbstverständnis von Lehr- und Beratungspersonen aus. Häufig reagieren sie defensiv, wenn »Außenstehende« ihre Arbeit in den Fokus nehmen.
Weil das Hilfssystem an dieser Nahtstelle in den letzten Jahren stetig ausgebaut wurde, stellt zudem die Koordination eine komplexe Aufgabe dar und verlangt von den Beteiligten ein hohes Maß an Souveränität und Flexibilität. Die große Herausforderung für Lehrpersonen der Brückenangebote liegt darin, sich ständig flexibel und bedarfsgerecht auszurichten und in jedem Schuljahr die Beziehung zu den Jugendlichen von Grund auf neu aufzubauen, sodass eine individuelle und zielführende Begleitung möglich ist.
Damit Brückenangebote sich kontinuierlich weiterentwickeln, agil bleiben und sich effektiv und bedarfsgerecht auf die Jugendlichen einlassen können, sind geeignete Rahmenbedingungen und das Vertrauen sowie der Rückhalt der zuständigen staatlichen Stellen erforderlich.
Übergangsangebote am Einstieg in die berufliche Grundbildung in der Schweiz
Brücke oder »Knirschstelle« im Bildungssystem?
Thomas Meyer
In der Schweiz können heute – je nach Schätzmethode und Referenzjahr – zwischen einem Sechstel und einem Viertel aller Schulabgängerinnen und Schulabgänger nicht damit rechnen, nach Austritt aus der obligatorischen Schule direkt in eine zertifizierende nachobligatorische Ausbildung der Sekundarstufe II 9 einzusteigen (vgl. etwa Babel, Gaillard & Strübi, 2012; BBT [Lehrstellenbarometer], 1999 ff.; Meyer, 2003). Sie finden sich in einer Vielzahl von sogenannten Brückenangeboten oder Zwischenlösungen wieder: Berufsvorbereitungsjahre, Motivationssemester, Vorlehren, aber auch Sprachaufenthalte, Au-pair-Stellen mit (sprach-)schulischen Elementen, Praktika u. v. m.
Mit Blick auf die Bedeutung und Vielfalt dieser indirekten Übergänge an der sogenannten ersten Schwelle 10 umreißt der vorliegende Beitrag die Strukturen und Funktionslogiken des Bildungssystems, in die Brückenangebote oder Zwischenlösungen eingebettet sind. Anhand von Ergebnissen der Jugendlängsschnittuntersuchung TREE (Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben) wird aufgezeigt, wie sich dieser strukturelle Kontext auf die individuellen Bildungsverläufe der betroffenen Jugendlichen – und mithin auf deren Ausbildungs- und Lebenschancen – auswirkt.
»Zwischenlösungen« als Spiegel einer komplexen Übergangsmechanik
Die Schweiz gehört im internationalen Vergleich zu denjenigen Ländern, deren Bildungssysteme hochgradig selektiv, segregiert und segmentiert sind. Bereits nach dem fünften oder sechsten Primarschuljahr treten die meisten Schülerinnen und Schüler in der Schweiz in gegliederte Oberstufen (Sekundarstufe I) über. In den meisten Kantonen ist die Sekundarstufe I zwei- bis dreigliedrig organisiert, mit einem Oberstufenzug, dessen Schüler »Grundanforderungen« genügen, und einem bis zwei Zügen, deren Schüler »erweiterte Anforderungen« erfüllen.
Zuweisungen erfolgen meist auf der Grundlage von aufwendigen, von Kanton zu Kanton unterschiedlich angelegten Übertrittsverfahren. Die Lehrpläne und Stundentafeln der einzelnen Stufen unterscheiden sich substanziell voneinander, sodass sich im Laufe von drei bis vier Jahren Schulbesuch auf dieser Stufe erhebliche Lerndifferenziale kumulieren.
Selektions- und Segregationsmechanismen auf der Sekundarstufe I
Die Selektions- und Segregationsmechanismen auf der Sekundarstufe I zielen auf Unterrichtsformen in möglichst leistungshomogenen Abteilungen ab. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen stellen jedoch infrage, dass dieses Ziel erreicht wird. Kronig (2007) etwa moniert, dass die Leistungs(entwicklungs)prognosen, die den Zuteilungsentscheiden bei den Übertrittsverfahren zugrunde liegen, nur am oberen und am unteren Rand des Leistungsspektrums befriedigend sind – also bei den sehr starken und den sehr schwachen Schülerinnen und Schülern. Bei der großen Mehrheit der Schülerschaft im mittleren Leistungsbereich, so Kronig weiter, bewege sich der Zuteilungsentscheid in einer »meritokratischen Grauzone«, die zahlreiche Fehlentscheide bei der Zuweisung in Kauf nehme. Meyer (2009) betont, dass die Führung von leistungsgetrennten Zügen auf der Oberstufe einer faktischen Bildungsrationierung gleichkomme, im Rahmen deren den Schülerinnen und Schülern in Oberstufenzügen »mit Grundanforderungen« systematisch Lerngelegenheiten vorenthalten werden. Internationale Forschungsbefunde legen außerdem nahe, dass Bildungssysteme wie das schweizerische mit starker und früher Selektion der Tendenz nach mehr Bildungsverliererinnen und -verlierer schaffen und den Einfluss sozialer Herkunft auf den Bildungserfolg verstärken (vgl. etwa Quenzel & Hurrelman, 2010).
Gut dokumentiert ist die soziale Selektivität solcher Systeme. Eine ganze Reihe von Studien zeigen, dass bei den Übertrittsverfahren zwischen Primarstufe und Sekundarstufe I individuelle Merkmale von Schülerinnen und Schülern wie Geschlecht, Migrationshintergrund oder soziale Herkunft auch dann eine bedeutsame Rolle spielen, wenn die schulische Leistung statistisch kontrolliert wird (vgl. Moser & Rhyn, 1996; Neuenschwander, 2009).
Seit den 1990er-Jahren wurden zwar in vielen Kantonen Maßnahmen ergriffen, um die Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Zügen der Sekundarstufe I zu erhöhen. Die (spärlich) verfügbaren publizierten Daten zeigen jedoch, dass diese »Passerellen« in der Regel nur sehr schwach frequentiert werden. Für die große Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler ist der Zuteilungsentscheid am Ende der Primarstufe irreversibel.
Die Zuteilung zu einem bestimmten Schultyp der Sekundarstufe I strukturiert in hohem Maße vor, welche Ausbildungswege den Jugendlichen nach Verlassen der obligatorischen Schule offenstehen. So hat die TREE-Studie bereits 2003 gezeigt, dass die Ausbildungschancen von Schülern und Schülerinnen aus Oberstufenzügen mit »Grundanforderungen« (Sek C-, Realoder Oberschüler/innen) auch dann stark eingeschränkt bleiben, wenn sie gleich gute Leistungen erbringen wie ihre Kameradinnen und Kameraden in den Oberstufenzügen mit »erweiterten Anforderungen« (BFS & TREE, 2003).
Fortsetzung der Segmentations- und Segregationsmechanismen auf der Sekundarstufe II
Die beschriebenen Prozesse der Sekundarstufe I finden ihre Fortsetzung und Entsprechung in ausgeprägten Segmentations- und Segregationsmechanismen auf Sekundarstufe II. Während die Verfahren des Übertritts in weiterführende schulische Ausbildungen formal in hohem Maße geregelt und fast ausschließlich auf den individuellen (schulischen) Leistungsausweis abgestützt sind, 11 sind die Mechanismen des Zugangs zur beruflichen Grundbildung deutlich vielschichtiger, weniger transparent und vor allem auch immer stark überlagert vom Verhältnis zwischen Angebot von und Nachfrage nach Ausbildungsplätzen. Im stark auf die duale Berufsbildung ausgerichteten Schweizer Bildungssystem sind rund zwei Drittel der Ausbildungsplätze auf Sekundarstufe II den Schwankungen des Lehrstellen- und damit des Arbeitsmarktes unterworfen. Seit nunmehr bald zwei Jahrzehnten ist der Schweizer Lehrstellenmarkt durch einen anhaltenden, starken Nachfrageüberhang geprägt. Dies führte zur Bildung einer »Warteschlange«, die in den Nullerjahren zeitweise rund 25 000 junge Menschen umfasste (vgl. BBT [Lehrstellenbarometer], 2012), was rund 30 Prozent eines Schulabgängerjahrgangs entspricht. Inzwischen hat sich das Ungleichgewicht etwas abgeschwächt, indem die Anzahl angebotener Lehrstellen etwas gestiegen und die Anzahl Bewerberinnen und Bewerber aus demografischen Gründen etwas zurückgegangen ist. Einzelne Branchen bekunden gar Mühe, ihre offenen Lehrstellen zu besetzen. Allerdings weist das Lehrstellenbarometer des Bundesamts für Berufsbildung und Technologie (BBT) 12 auch im Jahr 2012 noch eine »Warteschlange« von rund 17 000 Jugendlichen aus (ebd.), und die Prognosen des Bundesamtes für Statistik legen nahe, dass sich an dieser Situation bis zum Ende des Jahrzehnts nichts Grundsätzliches ändern wird (Babel, Gaillard & Strübi, 2012).
Darüber hinaus ist der Lehrstellenmarkt kleinräumig und stark segmentiert. Er wird nicht nur von makroökomischen Faktoren wie der Konjunktur beeinflusst, sondern auch von lokalen und regionalen Wirtschafts- und Betriebsstrukturen, die wiederum einen Einfluss darauf haben, welche Lehrstellen in welchen Berufsfeldern angeboten werden. Nach wie vor ist die Berufsbildung in der Schweiz auch stark geschlechtsspezifisch segregiert, das heißt, der größte Teil der Lehrberufe wird entweder hauptsächlich von Frauen oder hauptsächlich von Männern erlernt (vgl. BFS, 2011).
Was die Bedeutung der schulischen Vorleistungen angeht, so hat Meyer (2006) gezeigt, dass zwischen dem Leistungsausweis am Ende der Sekundarstufe I und dem Anforderungsniveau der beruflichen Grundbildung ein deutlicher Zusammenhang besteht. Allerdings gibt es in der Schweiz – auch innerhalb der Kantone – keine standardisierten Leistungsausweise am Ende der Sekundarstufe I, was die Anbieter beruflicher Grundbildung vor erhebliche Beurteilungs- und Vergleichbarkeitsprobleme stellt. Ein Ausdruck davon sind standardisierte Tests wie »Multicheck«, »basic-check«, »kompass« o. Ä., welche Berufsbildungsanwärterinnen und -anwärter heute in vielen Fällen ihren Bewerbungsunterlagen beilegen müssen. Vor diesem Hintergrund wird der Schultyp, den die Bewerberinnen und Bewerber auf Sekundarstufe I besucht haben, häufig als approximatives Leistungskriterium beigezogen.
Über die schulischen Leistungen hinaus spielen am Übergang in die berufliche Grundbildung auch arbeitsmarktrelevante Selbstkompetenzen wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Auftreten oder Kommunikationsfähigkeit eine Rolle. Als Einflussfaktor werden auch die sogenannte individuelle Ausbildungsbereitschaft bzw. Ausbildungsreife stark diskutiert. In der Wissenschaft wird jedoch die Unschärfe des Begriffs kritisiert, die eine zuverlässige empirische Überprüfung erschwert (vgl. Eberhard, 2006).
Insgesamt führen die genannten Faktoren dazu, dass die Übergänge in die berufliche Grundbildung für viele Schulabgängerinnen und -abgänger mit erheblichen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten verbunden sind. Die Vielzahl der Allokationskriterien sowie die Kleinräumigkeit und Unübersichtlichkeit der Übergangsstrukturen führen zu einer starken Personalisierung der Selektions- bzw. Allokationsentscheide. Wie zahlreiche Studien nachweisen, gewinnen dadurch zugeschriebene, nicht beeinflussbare Merkmale wie die soziale Herkunft oder der Migrationhintergrund an Bedeutung für das Gelingen des Übergangs.
Funktionen von Brückenangeboten
Vor dem oben skizzierten Hintergrund der Komplexität der Schnittstelle zwischen den Sekundarstufen I und II müssen die Brückenangebote oder Zwischenlösungen eine Vielzahl von Funktionen erfüllen. Meyer (2003) hat folgende Hauptfunktionen vorgeschlagen:
•Kompensationsfunktion: Jugendliche, die eine Zwischenlösung besuchen, haben gemäß dieser Zuschreibung schulische, sprachliche oder andere Defizite, die einen direkten Einstieg in eine zertifizierende nachobligatorische Ausbildung verunmöglichen und die es zu beheben gilt.
•Orientierungsfunktion: Zwischenlösungen sollen Entscheidungs-, Orientierungs- und Einstiegshilfe für die nachobligatorische Ausbildungslaufbahn bieten.
•Systemische Pufferfunktion: Gemäß dieser Funktion nehmen Brückenangebote Jugendliche auf, die zwar bereit und in der Lage wären, direkt in eine Sek-II-Ausbildung einzusteigen, für die aber keine Ausbildungsplätze bereitstehen (»Warteschlange«).
Im bildungspolitischen Diskurs wurde und wird vor allem die erstgenannte Funktion – Beheben von individuellen Defiziten – stark in den Vordergrund gerückt. So definierte das BBT um die Jahrtausendwende die Klientel der Brückenangebote folgendermaßen:
»Dabei handelt es sich hauptsächlich um Migrantinnen und Migranten sowie Jugendliche mit schulischen Defiziten oder Schwierigkeiten. […] Schwierigkeiten, einen ihren Möglichkeiten entsprechenden Ausbildungsplatz in der Berufsbildung zu finden, hat zurzeit eine große Anzahl Jugendlicher mit größeren und kleineren Sprach- und Bildungsdefiziten sowie Lernbehinderungen aller Art.« (BBT, 2000, S. 5)
Wohl räumt inzwischen auch die Bildungspolitik ein, dass zwischen Brückenangeboten und Lehrstellenknappheit ein Zusammenhang besteht. So stellt Galliker (2011, S. 4) im Nahtstellen-Schlussbericht der EDK fest: »Die Übertrittsquote in die beruflichen Grundbildungen hängt maßgeblich vom Lehrstellenangebot ab.«
Als Grundlage für die Diskussion um die Ausgestaltung und Zukunft der Brückenangebote wird jedoch immer wieder auf Artikel 12 des geltenden Berufsbildungsgesetzes (BBG, 2002) zurückgegriffen, der festhält: »Die Kantone ergreifen Maßnahmen, die Personen mit individuellen Bildungsdefiziten am Ende der obligatorischen Schulzeit auf die berufliche Grundbildung vorbereiten.« 42
Die »erste Schwelle« im Lichte der TREE-Daten
Wie bewältigen Jugendliche in der Schweiz den kritischen Übergang an der komplexen ersten Schwelle? Welche Rolle spielen dabei die Zwischenlösungen bzw. Brückenangebote? In welchem Ausmaß erfüllen sie die verschiedenen Funktionen, die ihnen das Bildungssystem zuweist? Die Daten von TREE 13 erlauben eine lückenlose, detaillierte Analyse von individuellen nachobligatorischen Ausbildungs- und Erwerbsverläufen. Sie bieten sich deshalb in besonderem Maße als empirische Grundlage zur Klärung der oben angesprochenen Fragen an.
Die Längsschnittstudie TREE






