Das Gesetz des Wassers

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Er ist tot … plötzlich ist er zusammengezuckt … hat geröchelt, um sich geschlagen … und ist zusammengebrochen. Er ist tot … ich habe nichts gemacht, das heißt … er hat mich gerade ge… und kurz vor seinem Höhepunkt … ist es passiert …
Nicht sprechen, ruhig atmen, hören Sie, Odette, ganz ruhig atmen. Sie können nachher erzählen. Dass er sie mit ihrem Vornamen anspricht, wundert sie gar nicht. Sie nickt eifrig, japst nach Luft und spricht sofort weiter.
Er war schon … ein paar Mal hier … er war ein angenehmer Gast … hat immer ein großzügiges Trinkgeld gegeben … er ist in meinen Armen gestorben …
Michiko kommt endlich mit dem Wasser. Ihr ganzer Körper zittert wie Espenlaub. Tanner gibt Odette das Wasser. Michiko ist immer noch nackt, bedeckt jetzt aber schamvoll Schoß und Brüste mit den Armen. Tanner bedeutet ihr, sie solle sich um Odette kümmern. Sie rührt sich nicht. Tanner nimmt ihre Hände, schüttelt sie energisch, bis sie ihn anschaut. Ihre Augen sind voll ungläubigem Abscheu.
Michiko, hören Sie mir zu! Kümmern Sie sich bitte um Odette!
Sie nickt.
Es wird gegen ihre Panik helfen, wenn sie eine Aufgabe hat.
Er geht zur Tür und öffnet sie. Ein muskulöser Mann liegt auf dem Bett. Das Zimmer ist genau gleich eingerichtet wie Michikos Raum, nur dass in der Vase ein Strauß gelber Tulpen steht. Der Mann ist Japaner. Körperbau und Haare verraten es sofort. Tanner fasst vorsichtig mit zwei Fingern an die Halsschlagader. Kein Zweifel, der Mann ist tot. Der Körper ist noch warm. Klar, es ist ja eben erst passiert. Aus seinem Mund rinnt gelber Schleim.
Als sich Tanner wieder aufrichtet, stürmt eine große Frau mit kurzen, blonden Haaren in das Zimmer. In breitestem Schwäbisch erkundigt sie sich, erstaunlich beherrscht, nach dem Geschehen.
Aha, Claudia, denkt Tanner bei sich.
Der Mann ist tot. Soeben gestorben. Ich habe nichts angerührt, bloß seine Halsschlagader angefasst. Überzeugen Sie sich selbst.
Für einen Augenblick fixiert die Blonde ihn scharf. Ihr Gesicht und alles, was man von ihrem Körper sieht – und es ist nicht gerade wenig –, ist übersät mit Sommersprossen.
Mir genügt es, wenn Sie es sagen. Sie sehen aus, als ob Sie etwas davon verstünden. Ich bin die Claudia. Sind Sie Arzt?
Tanner schüttelt den Kopf und nimmt die Hand, die sie ihm entgegenstreckt. Eine äußerst angenehme, kräftige Hand. Claudia ist eine erfrischend natürliche Person mit offenem Blick.
Wenn Sie kein Arzt sind, dann sind Sie Polizist, oder?
Nein, nein. Das heißt, so was Ähnliches. Übrigens, ich heiße Tanner.
Schade, dass wir uns unter solchen Umständen kennen lernen.
Ich gebe Ihnen meine Nummer. Falls die Polizei Fragen hat. Obwohl ich natürlich bis zum Schrei nichts mitbekommen habe. Und jetzt rufen Sie die Polizei, je schneller, desto besser.
Sofort nestelt sie aus ihrem dünnen Kleidchen ein drahtloses Haustelefon und drückt eine Zahl. Offensichtlich hat sie die Nummer der Polizei einprogrammiert. Das ist bei dem Job wahrscheinlich auch sinnvoll. Nach einer Weile hat sie die Verbindung. Claudia, die Beherrschte, gibt in kurzen Worten eine Zusammenfassung von dem, was im Schlaraffenländleee passiert ist.
Okay, die Polizei kommt sofort. Ich schlage vor, Sie verschwinden jetzt besser. Ich nehme nicht an, dass Sie warten wollen, bis die Typen hier sind. Und vielen Dank. Vielleicht ein andermal.
Sie verlassen das Zimmer. Claudia verschließt die Tür und steckt den Schlüssel ein. Draußen im Flur stehen Odette und Michiko. Sie haben sich mittlerweile etwas übergeworfen und sehen wie zwei verschüchterte Schülerinnen aus, die auf ihre Bestrafung warten. Tanner verabschiedet sich von beiden. Michiko presst sich einen Moment an ihn, flüstert etwas in sein Ohr, was er aber nicht versteht. War das japanisch? Er küsst sie auf beide Wangen. Sie riecht nach Pfirsich. Klischees sind manchmal doch ganz schön, denkt Tanner, und drückt Odette die Hand, die sich bei ihm überschwänglich für die Ohrfeige bedankt.
Wenigstens lächelt sie wieder. Es ist sicher nicht gerade angenehm, einen wildfremden Mann in den Armen zu haben, der plötzlich stirbt. Dieses Erlebnis wird sie ohne professionelle Hilfe nicht so schnell wieder los. So etwas bleibt haften. Hoffentlich kümmert sich die Polizei darum.
Draußen auf der Straße holt er zunächst einmal tief Luft. Es ist immer noch heiß. Will es denn heute nicht abkühlen? Er überlegt, ob er nicht trotzdem auf die Polizei warten soll.
Ach, die werden sich sicher melden, wenn sie etwas von mir wissen wollen. Er geht in Richtung Innenstadt.
Also, das ist jetzt sein Ausflug in die Welt der Lust gewesen. Lächelnd schüttelt Tanner den Kopf. Verwundert bleibt er plötzlich stehen. Eigentlich hätte man schon lange die Polizeisirene hören sollen. Sie lieben es doch, in solchen Situationen mit Donner und Gloria einzufahren. Na ja, ist ja eigentlich nicht sein Problem. Wahrscheinlich ist der Mann ein Viagraopfer. Wieso sollte sonst ein kräftiger Mann, kaum älter als fünfundvierzig, während er Sex mit einer Frau hat, plötzlich sterben? Allerdings, der gelbe Schleim. Was hat der wohl zu bedeuten? Waren das Magensäfte?
Tanner beschließt, den Rückweg trotz der Hitze zu Fuß zu machen. Die Luft fühlt sich schwer an. Es erinnert ihn an Marokko. Da waren solche Temperaturen an der Tagesordnung. Jetzt hätte ihn seine damalige Köchin mit ihrer herrlich kalten Suppe erwartet. In diesem Moment realisiert Tanner, dass er furchtbaren Hunger hat. Er winkt sich jetzt doch das Taxi heran, das gerade wie gerufen um die Ecke biegt. Im Taxi ist es erdrückend heiß, zudem pafft der Fahrer ungeniert eine Ekel erregende Villinger. Zum Glück ist die Fahrt nur kurz. Mürrisch bedankt sich der Fahrer für das Trinkgeld und versteht nicht, warum Tanner sich seinerseits für die sehr angenehme Atmosphäre in seinem Taxi bedankt. Einer aus den Bergtälern, der sich in die Stadt verirrt hat und noch immer nicht begriffen hat, dass er im Dienstleistungssektor arbeitet.
In der Innenstadt sucht er sich ein angenehm gekühltes Restaurant und bestellt eine Portion spaghetti alle vongole.
Nachdem er gegessen hat, wandert er gemächlich zu seinem Hotel. Der Portier händigt ihm merkwürdig verschmitzt seine Zimmerschlüssel aus. Die Hotelbar ist zu. Also keine Gewissensentscheidung mehr wegen Alkohol und anderer Sachen …
Merkwürdigerweise ist sein Zimmer nicht abgeschlossen. Hat er es vergessen? Ist eigentlich nicht seine Art. Er verharrt einen Moment vor der Tür. Dann reißt er sie mit einem Schlag auf. Eine kleine Tischlampe brennt. Auf dem Tisch steht, in einem Kühler, eine Flasche Champagner, daneben zwei schlanke Gläser. Im aufgeschlagenen Bett räkelt sich die Blonde von der Bar und schaut ihn verdutzt an. Keiner rührt sich, beide starren sich an. Nach einer Weile lächelt sie und dann kommt der Ton zum Bild. Ihre Wahnsinnsstimme.
Das hat aber lang gedauert, ich bin schon eingeschlafen. Willst du nicht die Tür zumachen?
DREI
Pünktlich um sieben Uhr steht der bestellte Mietwagen vor dem Hotel. Tanner unterschreibt die notwendigen Dokumente. Auch dass er mit dem Auto unter gar keinen Umständen nach Polen fahren werde. Der kleine BMW hat tatsächlich eine Klimaanlage. Das war gestern eigentlich seine einzige Forderung an das Auto gewesen. Es sieht nämlich nicht aus, als würde der neue Tag kühler werden.
Nachdem er die Grenze passiert hat, kann er für eine Weile das Auto austesten. Dann verlässt er die Autobahn und fährt gemächlich über Nebenstraßen durch die Landschaft.
Die Klimaanlage im Auto arbeitet zufrieden stellend, Tanner lehnt sich zurück, lässt die Rebberge und Bauerndörfer, die auffallend sanft in die Hügel eingebettet sind, vorübergleiten.
Ein tiefes Wohlgefühl breitet sich in ihm aus. Die Quelle dieses Wohlbefindens sitzt in seinem Bauch. Die Nacht mit der blonden Barfrau ist von einer überraschenden Zärtlichkeit erfüllt gewesen. Wie ist es möglich, dass sich zwei fremde Menschen einzig durch die Berührung ihrer Körper für einen Augenblick so, äh … berühren können? Ist das ganze Gerede über die Liebe vielleicht doch nur Gewäsch? Vielleicht ist das alles nur von den Hormonen, den Körpersäften und dem Duft abhängig. Sie haben kaum ein Wort gesprochen. Als er zu ihr ins Bett stieg, hat sie ihm mit einer so rührenden Vertraulichkeit ihre schönen Brüste dargeboten, als sei es in ihrem Leben das erste Mal. Sie hob sie mit beiden Händen an, presste sie leicht. Dann blickte sie ihn mit ihren dunklen Augen an, ließ die Brüste los, lehnte sich zurück und spreizte langsam ihre Beine. Diese Bewegung hatte erstaunlicherweise nichts Obszönes. Sie öffnete ganz einfach, ohne Scham, ihren Schoß und bot ihm seinen Anblick. Gemeinsam betrachteten sie das Wunder. Da erfasste ihn eine Leidenschaft, wie er sie lange nicht mehr gespürt hatte. Und sie trug ihn in immer neuen Wellen durch die halbe Nacht. Bevor sie das erste Mal kam, hat sie ihm ihren Namen ins Ohr geflüstert. Und nach seinem Namen gefragt. Als er am Morgen mit einem Gefühl der Ruhe und Dankbarkeit aufwachte, war sie weg.
In diesem Moment wird ihm klar, dass er soeben die Abzweigung verpasst hat. Er wendet und nähert sich langsam dem kleinen Ort.
Das Dorf besteht aus einem heillosen Durcheinander von alten Bauernhöfen und neuen, gesichtslosen Gebäuden. Einzig der kleine Dorfkern in Richtung Kirche lässt etwas von einer vergangenen Harmonie ahnen. Das Rathaus, an dem Rathaus steht, ein pseudohistorisches Gebäude aus der Zeit des Führers, befindet sich gerade im Umbau. Gleich neben der Baustelle sind einige weiße Bürocontainer mit großen Fenstern scheinbar nachlässig aufeinander geschichtet. Hier werden während der Umbauphase die amtlichen Geschäfte getätigt. Die Standesbeamtin arbeite leider heute nicht, erklärt ihm ihre Stellvertreterin, nachdem er sein Anliegen formuliert hat. Da er aber extra aus der Schweiz gekommen sei – sie macht dabei ein so bekümmertes Gesicht, als sei er mindestens aus Übersee angereist – werde sie versuchen, ihm die notwendigen Auskünfte zu erteilen. Kurz darauf erscheint sie mit einem riesigen, altertümlichen Wälzer. Sie beugen sich beide über das stark nach Verfall riechende Buch. Nach kurzer Zeit des Blätterns legt sie, die hilfsbereite Stellvertreterin, mit einem kleinen triumphierenden Lächeln ihre schmale Hand auf eine bestimmte Seite.
Da ist der Geburtseintrag ihres Großvaters Gustav Adolf Land!
Sie lächelt den Mann aus dem fernen Land an. Leider kann er die alte deutsche Schrift nicht lesen. Stolz liest sie ihm die knappen Eintragungen mit fester Stimme vor.
Aha, er ist also tatsächlich geboren.
Etwas irritiert schaut sie ihn an.
Und auch gestorben. Sehen Sie, hier unten an der linken Ecke steht ein Eintrag. Ihr Großvater ist am 1. Juli 1941 in H. gestorben.
Dabei steht auch die Nummer vom Sterbebuch. Alles korrekt eingetragen.
Bevor sie das Buch mit Schwung zuschlagen kann, bittet er sie um eine Kopie. Stirnrunzelnd überlegt sie eine Weile, ob sie dazu befugt ist. Schließlich siegt die Einsicht, dass er ja extra von weit her gekommen sei. Tanner bedankt sich höflich und zückt seine Brieftasche. Sie wehrt sofort ab und meint, nein, nein, wir machen das ganz inoffiziell. Sie lächelt ihn mit einem kleinen verschwörerischen Schmunzeln an. Nachdem sie ihm die Kopie betont verstohlen ausgehändigt hat, zieht sie ihn schnell in ein anderes Büro.
Wir haben hier ein Exemplar des Kirchenbuches, das kürzlich gedruckt wurde. Da können Sie auch noch nachschauen.
Richtig eifrig ist sie nun geworden. Sie legt ihm das Buch auf einen Tisch. Sie verlässt das Zimmer und meint, das könne er nun alleine lesen, es sei ja gedruckt, und zwar in modernen Buchstaben. Lachend schließt sie die Tür.
Tatsächlich findet er sofort den entsprechenden Eintrag. Sein Großvater hatte neun Geschwister. Noch etwas, das er nicht wusste. Und er erfährt, dass praktisch die ganze Familie, mit Ausnahme seines Großvaters, um die Jahrhundertwende nach Amerika ausgewandert ist. Und auch hier steht schwarz auf weiß, dass er 1941 in H. verstorben sei. Aber was heißt H.? Warum weiß das seine Familie bis heute nicht?
Was war so schlimm, dass man nichts davon wissen wollte? Eine Fahrt in seinen Geburtsort und ein Blick in ein Dokument genügen, um an diese einfachen Fakten heranzukommen. Verschollen? Warum verschollen? Er war in H. wohnhaft gewesen und daselbst gestorben! Zehn Jahre, bevor Tanner zur Welt kam. Aber was hatte er in H. gemacht? Die Frage ist auch, wie er ausgerechnet dahin gekommen ist. Ist er wieder gesund geworden und hat dort ein neues Leben angefangen?
Er geht noch mal ins Büro der hilfsbereiten Stellvertreterin und bedankt sich artig. Sie schenkt ihm wieder ein verschwörerisches Lächeln. Das Rot ihrer Lippen ist eindeutig kräftiger als vorher. Bei seinem Eintritt hat sie verschämt etwas in ihre Handtasche gesteckt. Tanner winkt ihr zu und geht eilends aus dem Büroprovisorium.
Am anderen Ende der Dorfstraße leuchtet weiß der schlanke Kirchturm. Auf dem breit geschwungenen Kirchdach hockt rittlings ein großer Korb. Eine Brutaufforderung an Störche. Das Grundgerüst zum Nestbau ist allerdings leer. Wahrscheinlich haben die wenigen Störche heutzutage eine breite Auswahl an Wohnmöglichkeiten. Nein, diesmal gehen wir nicht dahin, werden sie sich gesagt und das nächste Dorf ausgewählt haben. Es ist, als ob der leere Nistplatz die verlorene Seele des Dorfes symbolisiert. Eigentlich ist alles da: die Hügellandschaft, das Licht, einige alte Häuser, die Kirche, der Dorfbach. Neugierig blickt Tanner in den Innenhof eines alten Bauernhofes, dessen Eingangstor an den Eingang einer Burg erinnert. Zwei dickliche Hofhunde preschen plötzlich bellend und keuchend um die Ecke. Tanner geht sofort in die Knie und streckt seine Hand aus. Etwas irritiert stoppen die beiden zähnefletschenden Ungetiere und gucken ihn mit schräg gestelltem Kopf an. Aus der Remisentüre dringt eine scharfe Stimme. Jetzt erscheint die Gestalt zur Stimme, die beruhigend und in sympathisch badischem Dialekt auf die Hunde einredet. Ein groß gewachsener, knochiger Bauer mit weißem, spärlichem Haar begrüßt Tanner. Der erhebt sich, stellt sich vor und fragt den Bauern, ob er die Familie seines Großvaters kenne.
Er streicht sich über den Kopf und meint, dass von dieser Familie ja seit langem niemand mehr hier am Ort lebe. Tanner fragt, ob er wenigstens wisse, wo die Familie gelebt habe, aber er schüttelt den Kopf und beeilt sich wieder zu seiner Arbeit zu gehen. Kaum ist der Bauer in der Remise verschwunden, stehen die beiden Hunde sofort wieder auf und beginnen zu knurren. Tanner tritt den Rückzug an und setzt seinen Gang durchs Dorf fort.
Irgendwie hat er sich seinen Besuch im Geburtsort seines Großvaters etwas anderes vorgestellt. Aber wie? Dass er ihm hier begegnen würde? Nein, aber vielleicht hat er gehofft, ein Dorf anzutreffen, das seit der Zeit unverändert vor sich hin schlummerte, wodurch er sich die damalige Zeit besser hätte vorstellen können.
Hinter der Kirche liegt ein überraschend großer Friedhof. Wenigstens gibt es hier Schatten.
Mal sehen, vielleicht erzählen die Toten mehr als die Lebenden.
Langsam und aufmerksam die eingravierten Namen lesend, schreitet er den vorwiegend in glatt poliertem Dunkel gehaltenen Grabsteinen entlang, als ob er eine Parade abnehmen würde. Nach der Qualität der Steine zu urteilen, muss es sich im Durchschnitt um eine reiche, zumindest gut situierte Gemeinde handeln. Immer wieder fallen gleiche Familiennamen auf. Aber auf Anhieb kann er den Familiennamen seines Großvaters nicht entdecken. Kein Wunder, wenn die meisten schon vor hundert Jahren nach Amerika ausgewandert sind. In einer separaten Abteilung des Friedhofs entdeckt Tanner, gruppiert um ein bronzenes Denkmal, ein regelrechtes Massengrab. Die Opfer eines Grubenunglücks. An die siebzig Opfer bei einem einzigen Unglück. Offensichtlich handelte es sich um ein Kalibergwerk, das Anfang der Siebzigerjahre stillgelegt wurde. Ist mit der Schließung das Leben im Dorf erloschen?
Im Moment, als Tanner sich auf eine Bank setzen will, klingelt sein Mobiltelefon. Zuerst hört er eine Weile nur ein Rauschen, dann von ganz weit weg eine fremde Stimme. Er muss einige Male ins Telefon rufen, bis er den Namen versteht.
Hier ist Michiko … Michiko! Sie haben uns doch Ihre Telefonnummer gegeben. Ich arbeite im Schlaraffenländli. Sie waren bei mir, gestern. Wissen Sie, wer ich bin? Sie waren ja nur ganz kurz bei mir – Tanner unterbricht ihren Redeschwall, den sie leise und keuchend von sich gibt, als ob sie Angst habe, dass jemand sie belauscht. Er sagt ihr, dass er sie nicht so schnell vergessen hätte.
Ja, Entschuldigung, seien Sie mir bitte nicht böse. Ich muss Sie dringend sehen. Ich muss Ihnen etwas ganz Wichtiges sagen! Etwas, das ich unter keinen Umständen am Telefon sagen kann, verstehen Sie? Es ist ganz wichtig. Können Sie heute Nacht kurz vor Mitternacht beim Brunnen am Theater sein, bitte? Wissen Sie, dieser Brunnen mit den lustigen Maschinen …? Der Rest geht im Rauschen einer plötzlichen Störung unter. Dann endet die Verbindung abrupt. Oder hat sie aufgelegt, um ihm die Möglichkeit zu nehmen, Nein zu sagen? Er beschließt, sie zurückzurufen. Ihre Nummer ist jetzt in seinem Telefon gespeichert. Ihre Angst, die er so deutlich gespürt hat, legt sich kalt um sein Herz. Seine Hand zittert leicht, als er ihre Nummer wählt. Viermal ertönt das Zeichen, dann meldet sich eine Automatenstimme. Beunruhigt beendet er seinen Versuch. Er steht immer noch still, unfähig sich zu bewegen.
Auch Michiko ist unfähig, sich zu bewegen. Die kräftigen Hände des Mannes, der hinter ihr steht, umschlingen ihren Hals. Hart stößt er seine Erektion an ihren Körper. Panik steigt in ihr auf. Sie spürt den Atem in ihrem Nacken. Sie kann nicht sprechen und nicht schreien.
Nicht, dass sie keine Luft bekommen hätte, aber die Angst schnürt ihr die Kehle zu. Die Hände betasten beinahe zärtlich ihr Gesicht. Dann umfasst die eine ihre Stirn, die andere wandert zu ihrem Genick. Sie weiß, was die Finger dieser Hand suchen. Eine bestimmte Stelle zwischen ihren oberen Halswirbeln. Und sie weiß, dass er die Stelle finden wird. Diese Hände haben immer alles gefunden, alles bekommen, was sie je suchten. Die Erkenntnis macht sie unvermittelt ruhig. Einst liebte sie diese Hände, die ihren Körper besser kennen als sie selbst. Sie spürt die anderen Männer im Raum, aber sie kann sich nicht umdrehen. Ihr Kopf ist wie im Schraubstock. Sie schließt die Augen. In ihren letzten Sekunden sieht sich als Kind. Sie spielte so gerne am Wasser. In ihren Ohren beginnt es zu rauschen. Dann spürt sie nur noch die Hitze in ihrem Genick.
Tanner steht immer noch starr. Seine Hand umklammert das Telefon.
Was will sie ihm mitteilen? Was kann so schlimm sein, dass sie es nicht am Telefon sagen kann?
Wohl oder übel muss er sich bis zu ihrem Treffen gedulden. Es muss ja irgendwie mit dem Tod des Japaners zusammenhängen. Was sollte sie ihm sonst zu sagen haben? Sie haben sich ja kaum kennen gelernt. Er hat sie zwar nackt gesehen, sie sogar kurz berührt, und zwar genau so lange, um mit Sicherheit sagen zu können, dass ihre herrliche Brust nicht nur aus Natur besteht, aber dann durchschnitt dieser grelle Schrei … und gleich darauf war er auch schon wieder draußen, ausgestoßen aus dem Schlaraffenland. Ohne von den Früchten genossen zu haben.
VIER
Zurück in der Stadt, weckt Tanner auf dem Zivilstandesamt ein paar Beamte auf, die von der übermächtigen Hitze überwältigt, ihre Siesta halten, ihm aber über seinen Großvater nichts, aber rein gar nichts, erzählen können, denn er existiert in ihren Unterlagen nicht. Natürlich, er ist weder in dieser Stadt geboren noch gestorben. Und geheiratet hatte er Tanners Großmutter wahrscheinlich in Deutschland oder in ihrem Geburtsort.
Meine Herren, Sie können wieder in Ihren Dornröschenschlaf zurücksinken … verzeihen Sie die Störung!
Mehr Glück hat Tanner in dem herrlich kühlen Staatsarchiv, über dessen Tor ein denkwürdiger Satz in Goldlettern prangt: Gott lässt seiner nicht spotten.
Interessanter Hinweis, denkt Tanner amüsiert, aber was ist damit gemeint? Ist es eine Feststellung oder eine furchtbare Drohung? Droht der Satz mit dem berühmten Blitzschlag, der denjenigen treffen soll, der sich über Gott lustig macht?
Tanner geht in den Lesesaal im ersten Stock. Nachdem er knapp sein Anliegen dargelegt hat – und zwar flüsternd, denn die Atmosphäre legt Flüstern nahe –, verweist ihn der zuständige Beamte, dessen Gesichtshaut längst die Farbe und Konsistenz von alten vergilbten Dokumenten angenommen hat und der offensichtlich gerade mit seiner Frau telefoniert, mit majestätischer Geste zu einem immensen Bücherbord voller Adressbücher der Stadt und bemerkt lässig, man müsse jede Suche ganz banal im Adressbuch beginnen, alles Weitere ergäbe sich dann schon. Tanner verbeugt sich stumm vor so viel Weisheit und begibt sich zu besagtem Bücherbord. Tatsächlich stößt er nach ein wenig Blättern auf erste Lebensspuren seines Ahnen.s 1924 taucht sein Name das erste Mal in einem Vorort der Stadt auf. Sein Großvater war offenbar Hilfsschreiber. Was ist bitte ein Hilfsschreiber? Hilft er dem Schreiber beim Schreiben? Vielleicht darf der Hilfsschreiber die Bleistifte vom Chefschreiber spitzen oder die Enden von Gänsefedern schärfen? Farbbänder von Schreibmaschinen auswechseln? Im Adressbuch 1927 ändert sich die Berufsbezeichnung. Er ist jetzt Magaziner, nicht mehr Hilfsschreiber. Nach den sehr fragmentarischen Erzählungen seiner Mutter war er tatsächlich ein einfacher Magaziner in einem Familienunternehmen gewesen, das führend auf dem Gebiet Starkstrom war. Die Firma existiert übrigens heute noch, auch wenn sie wahrscheinlich kein Familienunternehmen mehr ist. Um diese Firma wird Tanner sich noch kümmern, denn dort begann die Geschichte der Krankheit seines Großvaters. Nach Aussage seiner Mutter ist dort etwas passiert, woran dieser schuld gewesen sein soll …
Wie auch immer, bis 1936 findet Tanner insgesamt drei Adressen. Dann verschwindet der Name seines Großvaters plötzlich. Stattdessen ist nur noch seine Frau, also Tanners Großmutter, aufgeführt. Zu diesem Zeitpunkt ist wohl klar geworden, dass der Mann krank ist und krank bleiben würde. Flüsternd wendet Tanner sich an den Beamten, der schon wieder, diesmal mit Augenrollen gegen einen unsichtbaren Beamtenhimmel, sein sicher wichtiges Privatgespräch unterbrechen muss. Wie es denn jetzt weitergehe mit seiner Suche, will Tanner bescheiden wissen. Es gehe gar nicht weiter, spricht der Vielbeschäftigte mit wichtiger Miene. Er, Tanner, müsse nun ein schriftliches Gesuch an das Staatsarchiv stellen, denn die weitere Suche würde ein angestellter Forscher übernehmen. Gegen Bezahlung, versteht sich. Und zwar für fünfundneunzig Franken pro Forscherstunde. Es könne ja nicht jeder selber in den Dokumenten wühlen, das sei doch klar, so weit käme man noch, Datenschutz und so.
Aha! Ja so!
Jetzt weiß Tanner endlich Bescheid und der Beamte kann seelenruhig sein Telefongespräch weiterführen. Tanner holt tief Luft und überlegt sich, ob er ausnahmsweise seinen abgelaufenen Dienstausweis zu Hilfe nehmen soll. Die im Lesesaal anwesenden Personen, die bis jetzt allesamt ruhig über ihre jeweiligen Bücher, Akten oder Notizen gebeugt waren, blicken ihn erwartungsvoll an, denn der Beamte hat, um seiner Auskunft Nachdruck zu verleihen, plötzlich die Flüsterebene verlassen und mit Stimme gesprochen. Tanner lächelt einer rothaarigen Frau zu, die ihn ebenso erwartungsvoll fixiert wie alle anderen. Während sie an ihrem Bleistift knabbert, vor sich das größte Buch, das Tanner je gesehen hat, zuckt sie mit den Schultern. Das soll wohl heißen, da kann man nichts machen. Wie gesagt, Tanner lächelt, dreht sich um und verlässt den Raum. Also wird er halt in Gottes Namen untertänigst ein Gesuch schreiben.
Draußen in der Enge der Gasse, die sich zurück zum Münster schlängelt, empfängt ihn wieder die lastende Hitze. Er glaubt zu ersticken. Um Atem ringend hält er sich an einer Mauer fest. Kein Wunder, dass weit und breit niemand zu sehen ist. Schließlich warnen die Behörden ja täglich vor dem viel zu hohen Ozongehalt in der Luft.
Also, Tanner, langsam Luft holen und nicht an der Mauer festwachsen.
Sein nächstes Ziel ist die Redaktion der Stadtzeitung. Eine alte Bekannte aus seiner Schulzeit war dort Redaktorin für Verbrechen, Vermischtes und Todesanzeigen. Wenn er Glück hat, ist sie es noch. Auf der Fahrt vom Geburtsort seines Großvaters in die Stadt hat sich Tanner überlegt, dass es vielleicht sinnvoll wäre, seine Bekannte, die ihn immerhin in der Schule einige Male in brenzligen Situationen hat abschreiben lassen, aufzusuchen. Um sie über den Toten aus dem Schlaraffenländli auszufragen.