Das Gesetz des Wassers

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Martha Vogel, das pausbäckige Landmädchen mit den knarzenden Schuhen aus einem abgelegenen Kaff im Umland der Stadt. Das Mädchen, das bei jeder Gelegenheit rot anlief wie ein reifer Apfel. Tanner mochte sie irgendwie gern. In der Klasse war sie nicht besonders beliebt. Sie war nicht der Mode entsprechend gekleidet, zudem verwendete sie kein Deo und sie war in allen Fächern schlicht und ergreifend die Beste. Sie hatte ihre Hausaufgaben ausnahmslos immer perfekt gemacht. Wahrscheinlich als Einzige. Die Kombination dieser Eigenschaften machte sie zur Außenseiterin. Vielleicht mochte Tanner sie deswegen. Wahrscheinlicher ist, dass er von der uneingeschränkten Bewunderung dieses Mädchens geschmeichelt war. Die zeigte sie natürlich nicht offen, dazu war sie viel zu schüchtern.
Nur einmal, auf einem Schulausflug in den Bergen, verriet sie sich quasi in aller Öffentlichkeit. Der Lehrer hatte von der einsamen Höhe seiner Weisheit herab angeordnet, dass bei der Überquerung einer steilen, abschüssigen Stelle jedes Mädchen die Hand eines Jungen nehmen sollte. Tanner wollte flugs seine Hand – ihren Rucksack trug er ja schon, zusätzlich zu seinem eigenen – seinem damaligen Schwarm reichen, einem der beiden tschechischen Fräuleinwunder, die nach der Flucht aus dem Ostblock wie exotische Schmetterlinge in ihrer Klasse gelandet waren. Exotisch, weil sie zwei Jahre älter waren als der Durchschnitt der Klasse, weil sie aus der gefährlichen Fremde kamen und – weil sie schon richtige Frauen waren. Tanners Schwarm hatte einen Busen, der das schweizerische Mittelmaß bei weitem überstieg. Und dann trug sie jeden Tag eine dieser blütenweißen Blusen, bei denen gut die Hälfte der Knöpfe nie in Kontakt mit den für sie vorgesehenen Knopflöchern kamen, ja nicht einmal etwas von deren Existenz ahnten, so weit offen trug das arme Flüchtlingskind aus dem bösen Ostblock seine Blusen. In dieser Zeit ging Tanner richtig gern zur Schule. Er organisierte freiwillig eine große Ausstellung über den Einmarsch der russischen Panzer bei den lieben Pragern, nur um seiner Exildame zu gefallen. So erlebte wenigstens Tanner seine Frühlingsgefühle, nachdem der große politische Frühling in Prag platt gewalzt worden war.
Zurück zur abschüssigen, steilen Wegstelle. Tanner wollte also gerade die männlich starke Hand seinem Schwarm reichen, da sprang Martha Vogel mit ihren klobigen Bergschuhen herbei und packte sich besitzergreifend seine Hand. Ihre Hand war klein, fest und – nass vor Schweiß. Ihre blauen Augen leuchteten ihn an und Tanner brachte es nicht übers Herz, die Hand, die ihn so stürmisch ergriff, abzuschütteln. Alles kicherte natürlich. Tanner nahm die Herausforderung an und geleitete die ihm Anvertraute über die gefährliche Stelle. Dafür wurde er dann mit leckeren Käsebroten aus Martha Vogels Rucksack verköstigt. Auch durfte er anschließend in der Schule jederzeit von ihrer fleißigen Arbeit profitieren.
Wenn sie also noch in der Redaktion arbeitet, wird sie ihm sicherlich mit Informationen aushelfen.
Kurze Zeit später steht er schweißüberströmt an der Rezeption des großen Zeitungshauses. Und er hat Glück. Ein dürrer Mensch an der Rezeption gibt ihm näselnd, aber freundlich, im breitesten Stadtidiom, Bescheid. Ja, die Frau Doktrrr Vooogl sei im Hause, er müsse aber noch etwas Geduuuld haben, sie sei gerade in einer Sitzung. Also nimmt Tanner Platz und durchforstet die heutige Zeitung, auf der Suche nach einer Notiz über den toten Mann aus dem Schlaraffenländli. Das müsste doch für die Zeitung ein gefundenes Fressen sein. Ein Toter im Puff. Dazu noch ein Ausländer. Was für ein Schlagzeilenglück im journalistischen Sommerloch.
Tanner findet nichts und beginnt sich gerade zu wundern, als der Dünne mit den Armen fuchtelt und ihm bedeutet, er könne jetzt mit dem Lift in den zweiten Stock fahren, drittes Büro rechts …
Bevor Tanner an die geschlossene Bürotür klopft, holt er tief Luft.
Da niemand antwortet, geht er hinein.
Hallo, Frau Doktor, darf ich eintreten?
Aus der Tiefe eines sich anschließenden Raumes ertönt eine energische Stimme. Er solle einfach hereinkommen, sie sei sofort da. Enttäuscht stellt er fest, dass ihm die Stimme gar nicht bekannt vorkommt. Viel zu energisch und zu bestimmt, als dass sie zu der erinnerten Gestalt passen würde.
Das Büro von Frau Doktor Vogel ist höchst spartanisch eingerichtet. Unschlüssig steht Tanner mitten im Raum. Soll er sich setzen? Die Entscheidung wird ihm durch das Eintreten einer äußerst attraktiven Frau mit kurz geschnittenen, schwarzen Haaren abgenommen. Elegante Hosen und ein dunkelgrüner Pullover aus Kaschmir betonen ihre schlanke Figur. Sie kommt rückwärts gehend in den Raum, stößt die Tür mit dem Schwung ihrer Schultern auf, denn sie trägt einen Stapel Manuskripte in beiden Händen. Jetzt sieht sie den Besucher mit ihren großen blauen Augen an und friert mitten in der Bewegung ein. Tanner hebt die Hand zu einem lässigen Gruß, aber auch seine Bewegung bleibt mitten in der Luft stehen. Kann diese Frau das Landei aus Tanners Erinnerung sein? Diese Augen?
Bevor Tanner seine Erkundung fortsetzen kann, wird die äußere Bürotür, durch die Tanner soeben eingetreten ist, mit lautem Knall aufgestoßen und eine forsche Männerstimme in Baritonlage überschwemmt die angehaltene Zeit und Stille im Raum. Ein mächtiger Körper folgt der raumfüllenden Stimme.
Marthalein, ich habe unter Einsatz meines Leben alle Unterlagen besorgt, die du so dringend … oh, pardon, ich sehe, du bist nicht allein. Guten Tag. Stettler, ich bin hier das Mädchen für alles. Martha, ich bin in meinem Büro, wenn du noch Fragen hast. Hiermit habe ich mir aber ein schönes Nachtessen mit anschließendem Dessert mehr als verdient, oder?
Ohne eine Antwort abzuwarten, schickt er einen ziemlich feuchten Schmatz durch das Zimmer, ungefähr in Richtung von Marthas leicht geöffneten Lippen. Jetzt hat Tanner die Gewissheit, dass es sich um niemand anders als um seine ehemals sehr unscheinbare und sehr schüchterne Schulkollegin Martha Vogel handelt. Denn das stürmische und laute Intermezzo hat ihre Wangen aufs Schönste entflammt. Sicher sehr zu ihrem Leidwesen. Aber sonst! Was für eine Veränderung! Wie weggezaubert sind die leicht gebückte Haltung und die meist schräge Kopfhaltung, an die sich Tanner erinnert. Aufrecht und schlank steht sie vor ihm mit klarem Blick. Ein äußerst erstaunter, kritischer Blick.
Die kurz geschnittenen Haare bringen ihre großen Augen und ihre glatte Stirne wunderbar zur Geltung. Das Alter kann dieser Frau offensichtlich nichts anhaben.
Hallo, Tanner. Du bist doch Tanner, oder? Hat dir der Auftritt von Stettler die Sprache verschlagen. Stettler ist mein Chef. Von wegen Mädchen für alles. Er untertreibt gerne … äh, er übertreibt gerne … also ich meine …
Martha Vogel! Du …! Nicht Stettler, du hast mir die Sprache verschlagen. Ich habe dich kaum wiedererkannt. Das ist ja unglaublich … also, ich meine … also, ich will sagen, du bist so …? Richtig schön bist du geworden.
Ach, jetzt hör doch auf. Fang du nicht auch noch an. Ich hasse es, wenn Männer übertreiben. Zudem werde ich immer noch rot, wie du siehst. Und das hasse ich ganz besonders. Willst du dich nicht setzen? Soll ich uns etwas bestellen? Tee? Wasser? Oder willst du ein Bier?
Sie redet ziemlich schnell, wahrscheinlich um von ihren geröteten Wangen abzulenken. Endlich legt sie den Stapel Manuskripte ab. Sie setzt sich auf ihren Tisch, verschränkt die Arme und lässt die Beine baumeln. Tanner betrachtet bewundernd ihre italienischen Schuhe mit den hohen Absätzen. Nichts mehr von knarzenden Bergschuhen.
Ja, Tanner, viel Zeit ist vergangen. Du bist ja zu keiner Klassenzusammenkunft gekommen. Der Herr Kommissar war ja immer viel zu beschäftigt. Jetzt müssen wir die geballte Ladung unserer Veränderungen auf einmal aushalten. Und dieses erschreckende Gefühl, dass die Zeit schneller vergeht, als wir uns das je vorgestellt haben.
Dann lacht sie unvermittelt ein erstaunlich helles Lachen. Und lässt den Oberkörper auf ihre Schenkel fallen, umfasst mit ihren kleinen, kräftigen Händen beide Fußgelenke. Eine ganze Weile verharrt sie so, auch als das Lachen längst verstummt ist. Tanner schweigt und wartet. Nach einer kleinen Ewigkeit bäumt sich ihr Körper auf, sie springt auf die Füße und geht schnell hinter ihren Schreibtisch. Mit dem Rücken zu Tanner, reibt sie sich die Augen. Als sie sich Tanner zuwendet, schimmern sie immer noch feucht.
Also, Tanner, was verschafft mir die Ehre deines plötzlichen Besuches?
Er seufzt und schaut interessiert an die Decke. Offensichtlich hat sich Martha nach einem Moment der Rührung entschlossen, zu einer Art Förmlichkeit zurückzufinden. Er begreift erst in diesem Moment, dass er den Fall des toten Japaners nicht ansprechen kann, ohne dass offensichtlich wird, dass er selber Besucher dieses Etablissements war. Warum ihn das plötzlich stört, obwohl er sich selber kaum als prüde bezeichnen würde, ist ihm im Augenblick auch klar. Es sind die Augen und das offene Gesicht von Martha.
Tanner, ich habe dich, glaube ich, etwas gefragt. Ich habe leider heute nicht so viel Zeit.
Martha, gestern ist in dieser schönen Stadt ein Mann japanischer Herkunft in einem dieser Etablissements, die offiziell nicht existieren, in den Armen einer sehr existierenden Liebesdienerin gestorben. Die Hitze kann es nicht gewesen sein, die Räumlichkeiten verfügen über Aircondition. Außer, die junge Dame wäre zu hitzig gewesen. Ich meine, für den Herrn. Er sei allerdings ein gut trainierter Mann im besten Alter gewesen. Man hat dann die Polizei gerufen. Was ja in so einem Fall auch vernünftig und normal ist. Was eher nicht so normal scheint, ist die Tatsache, dass in eurer Zeitung nicht die kleinste Information über diese traurige Begebenheit geschrieben steht. Ist das einer ungewöhnlichen journalistischen Diskretion zu verdanken oder wisst ihr nichts davon?
Martha schaut eine Weile schweigend zum Fenster hinaus. Tanner wird in dem Augenblick bewusst, dass er während der Schulzeit vier volle Jahre auf derselben Höhe mit Martha saß, getrennt nur durch einen schmalen Gang. Wie hatte er während dieser ganzen Zeit das Profil von Martha Vogel übersehen können?
Zu seinen Gunsten sagt sich Tanner allerdings, dass er damals, wenn er sie von der Seite ansah, meistens nur zerzauste Haare sah. Heute verstellt keine einzige Haarsträhne den Blick auf die ebenmäßige Linie, die Stirn und Nasenrücken bilden. Freie Sicht auf volle Lippen und auf den frech herausfordernden Schwung der Linie, die unterhalb der Nase die Verbindung zur Oberlippe bildet. Martha blickt ihn einen Moment zögernd an. Hat sie gespürt, wie genau Tanner sie beobachtet? Sie greift energisch zum Telefonhörer. Während sie auf die Verbindung wartet, reibt sie einen imaginären Fleck auf der Tischplatte weg.
Hör mal, wisst ihr was von einem toten Ausländer …? Gestern Abend! Ja, im Milieu …! Nein? Gar nichts? Ach, ich habe nur so ein Gerücht gehört … nein, nein. Danke. War nur aus alter Gewohnheit. Ja … entschuldige die Störung. Danke. Wie? Das mit Stettler …? Das ist auch nur ein Gerücht. Und dazu noch ein ganz blödes. Vergiss es, so weit kommt es noch! Also danke.
Martha legt betont sorgfältig den Hörer auf. Während des kurzen Gesprächs hat sie sich auf ihrem Drehstuhl von Tanner weggedreht. Bei der Erwähnung von Stettler fährt sie sich durch ihr Haar, zwirbelt eine Strähne um ihre Finger und verweilt schließlich bei einem kleinen Muttermal am Hals. Dann dreht sie sich entschlossen wieder zu Tanner.
Also, du hast es ja gehört. Die wissen nichts von deinem Toten.
Tanner gibt sich Mühe, sein unschuldigstes Gesicht zu machen. Denn schon bereut er, überhaupt gefragt zu haben. Es wird ja doch nichts bringen, außer einer Reihe hartnäckiger Nachfragen. Und die, die werden kommen, wie das Amen in der Kirche. Das wäre Tanner auch klar, wenn er nicht das schelmische Funkeln in den Augen von Frau Doktor Vogel bemerken würde. Also geht er zum Angriff über …
Martha, wenn du morgen Abend mit mir essen kommst, erkläre ich dir mit allen Details, was es mit dem Toten auf sich hat und woher ich die Information habe. Was sagst du dazu?
Martha lacht auf und droht ihm mit dem Finger.
Das war jetzt sehr raffiniert. Ich gehe aber nur darauf ein, wenn du versprichst, mir auch zu erklären, was insgesamt in diesem Etablissement passiert ist und was deine Rolle dabei ist. Und zwar auch mit allen Details …
Tanner seufzt und hebt spielerisch seine Hand zum Schwur.
So, und jetzt muss ich dich rausschmeißen, auf mich wartet noch eine Menge Arbeit. Wegen unserer Verabredung, lass uns morgen noch einmal telefonieren, ja?
Ihre Umarmung zum Abschied gestaltet sich etwas linkisch, da nicht so recht klar ist, ob sie sich überhaupt umarmen oder sich nur die Hand reichen sollen. Tanner greift sich, nach einem Moment des beidseitigen Zögerns, die Hand von Martha und zieht sie vielleicht etwas zu stürmisch zu sich heran. Tanner spürt in der Umarmung ihren Körper. Es fällt ihm schwer, Martha nicht auf der Stelle zu küssen, so überwältigt ist er. Sie vermeidet es, Tanner noch einmal in die Augen zu schauen, und schiebt ihn energisch zur Tür hinaus. Dann lehnt sie sich mit dem Rücken an die geschlossene Tür und beißt sich heftig in einen Finger. Das allerdings kriegt Tanner nicht mehr mit.
FÜNF
Erst als Tanner und Bruckner sich über dieses unglaubliche tiramisù vom alten Italiener hermachen, das noch immer das beste ist, was Tanner je gegessen hat, und zwar inklusive aller intensiver Feldforschungen zu diesem Thema in Italien, erzählt er seinem Freund von der Begegnung mit Martha Vogel. Bruckner, als er den Namen Martha hört, zaubert dieses besondere Lächeln auf seine Lippen, das Tanner seit jeher bewundert und das ihn gleichzeitig befremdet hat. Eine Mischung aus Wohlwollen und Amüsement, bei der man nie weiß, ob er sich über den Gegenstand oder über sein Gegenüber lustig macht. Oder über sich selbst? Lächeln als Selbstschutz?
Tanner wollte gleich, als sie sich getroffen haben, von Martha erzählen. Er hat sich dann aber doch beherrschen können, zumal er erst einmal die Begegnung mit Bruckner verkraften musste. Bruckner ist zwar älter geworden, aber in seinem äußeren Erscheinungsbild hat sich praktisch nichts verändert. Und das irritierte Tanner ziemlich. Ein schlanker, großer, äußerst attraktiver Mann, dessen Alter erst aus nächster Nähe abzuschätzen ist. Er trägt exakt dieselbe Frisur wie früher, außer dass sich an den Schläfen ein paar silberne Haare zeigen. Seine roten Haare waren schon immer, Tag für Tag, scheinbar gleich lang gewesen. Bei anderen Menschen sieht man, wenn sie ihre Haare geschnitten haben. Bei Bruckner sah man das nie. Die Kleidung ist wie eh und je perfekt. Und teuer. Klassisches englisches Understatement. Damit fiel Bruckner früher in der Schule natürlich auf, weil er einfach zu jung für diesen Stil war. Jetzt nicht mehr. Bruckner ist quasi in seinen schon früh gewählten Stil hineingewachsen. Er trug früher natürlich nur zu bestimmten Anlässen Anzüge. Im normalen Alltag sah man ihn immer in diesen feinen englischen Hemden, in Kaschmirpullovern und Pullundern, in Wollhosen mit Bügelfalten und Tweedjacken mit den lederverstärkten Ellbogen. Und das in einer Zeit, in der die anderen um nichts in der Welt auf ihre Jeans verzichtet hätten.
Bei der Begrüßung vor gut einer Stunde haben sie sich zu einer herzlichen Umarmung hinreißen lassen. So etwas wäre früher selbstverständlich nie vorgekommen. Im Gegenteil, sie hatten damals beide mit großem Spaß an ihren betont kühlen Umgangsformen herumgefeilt. Hatten sozusagen ihre Beziehung wie ein kleines Kunstwerk ständig inszeniert und verfeinert. Sehr zum Ärger ihrer Klassenkollegen, die einfach nie herausfanden, ob Tanner und Bruckner das ernst meinten oder sich auf Kosten der anderen einen Spaß erlaubten. Wussten sie es selber?
Bruckner hat denselben Tisch reservieren lassen, an dem sie früher gemeinsam viele Stunden verbracht hatten. Und er stellte wie immer das Menu zusammen und schaute nur am Ende der Bestellung Tanner fragend an. Dieser nickte bloß, auch wie immer, und so wurde die umfangreiche Bestellung in die Küche weitergeleitet. Bis der cinque terre bianco, dieser gar nicht so leichte, bernsteinfarbige Weißwein aus Ligurien auf den Tisch kam, der schon immer den Auftakt zu ihren kleinen Gelagen gebildet hatte, sprachen sie kein Wort. Auch dies eine Sitte, die sich die beiden von früher gemerkt hatten.
Als sie schweigend dasaßen, schoss Tanner ein verrückter Gedanke durch den Kopf. Waren die verflossenen Jahre wirklich real gewesen? Die Zeit, die sie sich nicht gesehen hatten, kam ihm plötzlich bloß wie eine kleine Unterbrechung vor. Zum Beispiel so lange, wie es braucht, um auf die Toilette zu gehen. Diese Erkenntnis traf ihn so unvermittelt, dass ihm schwindlig wurde. Er wusste zwar, dass er am Tisch saß, fühlte sich aber plötzlich wie losgelöst von allem. Vom Körperlichen. Vom Stofflichen. Wie frei schwebend. Oder besser noch: frei fallend.
Tanner fragte sich, während er schweigend am Tisch saß, worin eigentlich der Unterschied im Erleben eines Traumes und eines Ereignisses in der alltäglichen Wirklichkeit bestand. Dass man beim Träumen wieder in einer anderen Wirklichkeit aufwachte? Aber wie unterschied sich im Rückblick, in der Erinnerung, Geträumtes und Erlebtes?
Träumen Sie, Tanner? Nein? Worauf sollen wir denn unser Glas erheben? Auf unser Wiedersehen? Das wäre ein bisschen einfallslos, oder?
Bruckner hatte ihm von dem köstlichen Wein eingeschenkt und sein Glas zum Toast erhoben. Tanner überlegte einen Augenblick, dann blickte er Bruckner lächelnd an.
Ich würde vorschlagen, dass wir uns endlich du sagen und damit sozusagen ein Zeichen für eine neue Etappe unserer Freundschaft setzen. Was halten Sie davon, Herr Bruckner?
Herr Tanner, Sie versetzen mich doch immer wieder in Erstaunen! Aber vielleicht haben Sie Recht! Also, ich bin einverstanden. Ich heiße Richard … ha … ha …
Nun überkam Bruckner ein so befreiendes Lachen, dass sich auch Tanner ihm nicht entziehen konnte, zumal auch er ganz förmlich ankündigte, er heiße Simon. Erst nach einiger Zeit hatten sie sich so weit beruhigt, dass sie einen Schluck aus ihren Weingläsern trinken konnten. Mit ihrem Lachen hatte sich einiges von der Nervosität gelöst, die beide natürlich nicht wahrhaben wollten. Immerhin hatten sie sich gut dreißig Jahre nicht mehr gesehen. Warum eigentlich?
Als drei Kellner gleichzeitig aufkreuzten, beladen mit vielen kleinen Platten, Tellern und Schüsselchen, schob Tanner die Fragen erst einmal beiseite.
Die drei Kellner, jeder traditionell in schwarzer Hose, weißem Hemd mit diskret farbiger Krawatte und weißer, gestärkter Kellnerjacke gekleidet, bildeten das perfekte Komikertrio. Wie aus einem alten Schwarzweißfilm. Ein großer Dünner unbestimmten Alters, mit messerscharfem Oberlippenbart, offensichtlich der Chef des Trios; dann ein ganz Kleiner, der das unverzichtbare Dummerle wäre und bei einem Banküberfall höchstens Schmiere stehen und auch dann noch versagen und alle drei ins Unglück stürzen würde; als Dritter im Bund der obligate Dicke, der natürlich in seiner Jugendzeit keine Turnstange hochkam, dafür schon damals die ganze Klasse zum Lachen brachte, indem er sämtliche Lehrer perfekt imitieren konnte. Ein Team, das mit betont ernsten Mienen und elegant eingespielten Bewegungsabläufen dem Gast das Gefühl vermittelt, es gäbe im Moment nichts Wichtigeres auf der Welt als seine Zufriedenheit. Also kurzum, die letzten drei Vertreter einer ausgestorbenen Spezies.
Bruckner und Tanner fühlten sich sauwohl.
Während sie die reichhaltigen antipasti aßen, bestehend aus insalata di mare mit seppie, polpi e vongole, flankiert von übervollen Tellerchen mit prosciutto, fave e fichi mit ravanelli con tonno, diesen herrlich erfrischenden Radieschen mit Thunfisch und dem köstlich duftenden Weißbrot, berichtete Bruckner über sein berufliches Leben. Tanner wäre überrascht gewesen, hätte sein Freund mit dem Privatleben angefangen.
Bruckner arbeitete tatsächlich immer noch bei derselben Großbank, bei der sicher die Hälfte der Bürger dieses Landes ihr Geld lagern, in der Hoffnung, dass es sich fröhlich vermehren werde. Was es auch lange Zeit getan hatte. Das böse Erwachen angesichts der großen Geldvernichtung begann ja erst vor wenigen Jahren. Dafür umso heftiger und nachhaltiger. Bruckner erzählte, dass er mittlerweile die Kontrolle über das gesamte Kulturbudget der Bank habe. Diese Tatsache kommentierte er mit einem äußerst schiefen Lächeln, er habe ja Gott sei Dank nichts mit der schmutzigen Seite des Geldgeschäftes zu tun. Er verwalte und verteile das gute Geld seiner Bank. Das Alibigeld.
Tanner versuchte, matt zu protestieren, indem er von dem einen oder anderen Reichen mit echtem Kunstverstand erzählen wollte. Zum Beispiel habe es diesen Direktor des einen Chemiewerkes gegeben. Dieser knallharte Manager sei ja gleichzeitig Präsident der schweizerischen anthroposophischen Gesellschaft gewesen. Und nicht nur pro forma, sondern der sei wirklich ein Mann des Geistes gewesen. Bei dem Spagat zwischen Beruf und Neigung zwar offensichtlich schizophren veranlagt, aber immerhin.
Ach, hör auf, Simon, komm mir nicht mit einem einzigen, noch dazu mehr als obskuren Beispiel, unterbrach ihn Bruckner lachend und schenkte beide Gläser randvoll, ich habe seit fünfundzwanzig Jahren mit der ganzen Bande zu tun. Es ist allein die Geldgier und Sucht nach immer mehr Macht. Die treibt die Herrschaften an. Und ab und zu verordnet ein gewisser verinnerlichter Mechanismus eine kleine Schamspende an die Kultur. Auch wenn es manchmal große Beträge sind, so scheinen sie doch nur dem Normalverbraucher groß. Für die selber sind das Peanuts.
Bruckner unterbrach die Rede über sein offensichtliches Lieblingsthema, denn das Trio räumte in atemberaubender Choreographie die leeren Teller und Schälchen ab und zauberte neues Besteck für den nächsten Gang hervor. Als sie wieder weg waren, beugte sich Bruckner über den Tisch und in seinen Augen glimmte dieses eindringliche Leuchten, das Tanner schon früher ab und zu bemerkt hatte. Zum Beispiel, wenn er sich von einem der Lehrer ungerecht behandelt vorkam. Wenn es passierte, überkam ihn ein leichtes Zittern, als ob sein Körper fröstelte, und dieses seltsame Leuchten erschien in seinen Augen. Er fixierte dann den Lehrer, sagte aber nie ein Wort. Heute kommt es Tanner vor, als sei dieses Leuchten ein intensiver Abglanz eines ziemlich großen, inneren Feuers, das hinter der kühlen und kultivierten Maske seines Freundes brennt.
Mein größtes Vergnügen besteht darin, das Geld in Projekte zu stecken, die den innersten Interessen meiner Bank möglichst diametral entgegenstehen. Und meine Chefs merken es nicht einmal, solange ich zur Verschleierung dieser Politik immer genügend konventionelle Projekte unterstütze. Mäzenatentum ist wie eine Art modernes Ablassgeschäft. Mit so und so viel Geld, das sie in die Kultur stecken, also in etwas, das aus dem Blickwinkel ihrer Geschäfts- und Geldwelt völlig nutzlos ist, dürfen sie dann wieder eine bestimmte Menge an Dreckgeschäften machen. Die Kunst besteht darin, das alles immer schön in einer gewissen Balance zu halten. Du musst ihnen nur mit allen Mitteln suggerieren, dass es sich um hohe und wichtige, ja besser noch, um unbequeme Kultur handelt, dann erhöht das den Ablasswert, verstehst du?
Die drei Kellner brachten die unverzichtbare pasta, einen neu gefüllten Brotkorb und den köstlichen montepulciano. Bruckner hatte sich heute für Spaghetti alla puttanesca entschieden, eine Spezialität aus den Abruzzen, mit schwarzen Oliven, Sardellen, viel Knoblauch und mindestens noch einem Geheimnis. Eine brisante Mischung, die ihrem Namen mehr als gerecht wird. Nach den ersten Bissen stößt nämlich der Italienliebhaber einen Satz aus, in dem mindestens dreimal das Wort putta vorkommt und ebenso oft madre, und das Ganze mit Vorliebe gen Himmel, während die Hände verzweifelt nach dem Brotkorb tasten. Und wehe, der Brotkorb ist leer …
Die Mahlzeit zum Thema, grinste Bruckner und verschluckte sich fast vor diebischer Freude an seiner These, dass die einen das Geld immer schön am Rande der Legalität entlangscheffeln und die anderen ihnen Absolution verschaffen, indem sie ihnen zeigen, wie sie es sinnvoll ausgeben können. Huren sind wir alle … oh, ist das scharf … madre di …