Das Gesetz des Wassers

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Seine Worte endeten in einem regelrechten suffocato, und nur das Stück Brot, das Tanner ihm reichte, konnte ihn vor dem sicheren Erstickungstod erretten. Nachdem Bruckner sich erholte hatte und die Tränen getrocknet waren, die ihm die Schärfe des Essens in die Augen getrieben hatte – oder war’s das Vergnügen am Thema? –, meinte er ernsthaft, dass ihm sein Beruf große Freude mache. Da er schon immer gewusst habe, dass er selber über keinerlei künstlerische Fähigkeiten verfüge, sich aber immer leidenschaftlich zur Kunst hingezogen fühlte, sei das für ihn genau die richtige Beschäftigung. Er vermittle zwischen teilweise ignoranten, aber reichen Kulturbanausen und Künstlern, die er, Bruckner, für unterstützungswürdig befinde.
Dann meinte Bruckner unvermittelt, er habe fürs Erste genug erzählt. Jetzt sei Tanner an der Reihe. Bruckner legte prophylaktisch ein Stück Brot neben seinen Teller und drehte sich geschickt eine nächste Portion Spaghetti auf die Gabel. Er tat dies sehr kunstvoll und brauchte dazu auch keinen Löffel. Tanner schwieg, trotz der Aufforderung zu erzählen. Bis Bruckner ihn verwundert ansah.
Ja, Richard, eh … bei mir ist das leider nicht so einfach. Einen Beruf habe ich im Augenblick keinen mehr. Oder sagen wir, ich habe keine Stelle. Will auch keine mehr. Oder wenigstens im Moment nicht. Du siehst, ich stottere. Mh … also, ich war ja lange im Ausland, in Marokko, und das endete leider äußerst … sagen wir mal unglücklich. Nein, unglücklich stimmt nicht, es endete desaströs. Ich kam auf Umwegen in die Schweiz, verfolgte den Fall, um dessentwillen ich aus Marokko geschmissen worden war, in der Schweiz. Ich fand sogar den Mörder. Aber um welchen Preis … verfluchte Schei …
Tanner brach abrupt seinen wirren Bericht ab und legte beide Hände auf sein Gesicht. Bruckner legte seine Gabel behutsam auf den Teller. Erzähl mir das alles später, wenn du magst. Jetzt sag mir doch einmal, was dich in unsere schöne Stadt treibt, die du vor dreißig Jahren fluchtartig verlassen hast und seither gemieden hast, als drohte sich das Erdbeben vom Jahre 1356 zu wiederholen. Sollen wir übrigens auf den nächsten Gang verzichten? Es ist einfach zu heiß, oder? Ich gehe schnell in die Küche und kläre das.
Er warf die Serviette auf den Tisch, sprang auf und verschwand in Richtung Küche.
Diskretion und Takt waren schon immer die großen Stärken von Bruckner gewesen. Auch darin haben sie sich ergänzt, wenn man das ergänzen nennen kann. Das waren ja nun noch nie Tanners Stärken. Im Gegenteil: Bitte, wo geht’s zum nächsten Fettnäpfchen?
Tanner war Bruckner dankbar, dass er ihn alleine am Tisch ließ. Er war von seinem eigenen Gefühlsausbruch völlig überrumpelt. Vielleicht war es die Hitze. Oder weil er den ganzen Tag unterwegs gewesen war. Oder die unvermittelte Begegnung mit seiner Jugendzeit.
Sein Körper zitterte, als ob er fröre. Er spürte aber keine Kälte. Eigentlich spürte er überhaupt nichts. Er hatte nur das Gefühl, unvermittelt in ein großes Loch gefallen zu sein, in dem es keine Geräusche mehr gab. Obwohl er doch mitten in einem Restaurant saß und Menschen um ihn herum waren. Er sah ihre Münder. Sie bewegten sich. Aber er konnte nichts hören. Als ob sich über ihn ein akustisch toter Raum gestülpt hätte. In seinem Innersten zog sich etwas zusammen, wurde immer kleiner, bis es ganz klein war. Etwas, das gleichzeitig sehr schwer, sehr heiß und äußerst schmerzhaft war.
Wenn das jetzt nicht aufhört, schreie ich, hämmerte es in seinem Schädel. Im Moment, wo Tanner glaubte, er würde es nicht mehr ertragen, gab es in seinem Innersten plötzlich ein Geräusch. Eine Art plop. Ein ganz und gar banales Geräusch, für das sich Tanner insgeheim schämte, obwohl er nicht wusste, weshalb. Aber immerhin löste sich Tanners innerer Krampf so schnell, wie er gekommen war. Er holte tief Atem.
So viel zum Thema, ob die vergangene Zeit real gewesen ist. Und zur Frage, was denn der Unterschied zwischen Leben und Traum sei …!
Ach gut, du lachst ja wieder, Tanner. Eh … ich meine, Simon.
Er hatte gar nicht bemerkt, dass Bruckner zurückgekommen war. Tatsächlich lachte er. Auch das bemerkte er erst, als Bruckner ihn darauf ansprach. Warum er lachte, war ihm nicht bewusst.
Tut mir Leid, Richard. Ich hoffe, ich habe dir unser gemeinsames Essen nicht verdorben.
Bruckner winkte ab und lächelte ihn aufmunternd zu.
Ich bin in dieser Stadt, weil ich auf der Suche nach der Geschichte meines Großvaters bin. Ich weiß nicht, ob ich dir früher mal von ihm erzählt habe? Ich habe ihn natürlich nicht gekannt. Es hieß in unserer Familie, dass er verschollen sei. Einfach verschwunden. Er hat sich irgendwie in Luft aufgelöst. Es wurde früher kaum darüber gesprochen.
Das Wort verschollen besaß für mich lange Zeit eine gewisse Magie, wie du dir sicher vorstellen kannst. Bis meine Mutter – übrigens bei der Beerdigung meines Vaters – eine merkwürdige Bemerkung über ihren Vater machte, also über meinen verschollenen Großvater Land. Da begann ich zu ahnen, dass sich hinter dem Wort wahrscheinlich nichts Magisches und auch nichts Poetisches versteckt.
Tanner berichtete von den mageren Resultaten seiner bisherigen Recherche. Bruckner anerbot sich sofort, Tanner zu helfen. Er kenne in dieser Stadt schließlich Gott und die Welt. Beim Stichwort Gott erschien das Kellnertrio und zelebrierte die Ankunft, besser gesagt, die Niederkunft der göttlichen Nachspeise. Dann stellten sich die drei zum Gruppenfoto in taktvollem Abstand zum Tisch und warteten auf die Reaktion ihrer Gäste, ganz wie Mütter sehnsuchtsvoll auf das Bäuerchen ihres Babys warten. Bruckner vollzog mit seinem Löffel, stellvertretend für beide, den ersten Spatenstich ins tiramisù. Schon die Konsistenz, spürbar beim Einstechen mit dem silbernen Löffel in die Masse, verführte Bruckner zu einem leisen Seufzer, den die drei mit einem wissenden Lächeln quittierten. Bruckner führte den vollen Löffel zu seinem Mund, roch plötzlich kritisch an der Ladung und – verzog das Gesicht. Die Kellner schlugen voller Entsetzen die Hände vors Gesicht. Daraufhin lachte Bruckner, steckte sich den Löffel in den Mund und stöhnte voll demonstrativem Entzücken. Die zwei Klügeren vom Trio begriffen sofort, dass sie hereingelegt worden waren, und lachten erleichtert auf, obwohl sie es trotzdem für ein Sakrileg hielten. Man spielt nicht mit dem Essen, und schon gar nicht mit den sensiblen Seelen von Kellnern. Dem dritten mussten sie die Sache auf dem Weg in die Küche erklären.
Jetzt essen sie beide schweigend von der köstlichen Nachspeise. Dann endlich erlaubt sich Tanner seinem Schulfreund von der Begegnung mit ihrer gemeinsamen Schulkollegin Martha Vogel zu berichten. Und Bruckner lächelt sein Lächeln. Nachdem Tanner seine Eindrücke ausführlich geschildert hat, lächelt Bruckner noch immer. Früher hätte ich gesagt, der Befund ist eindeutig. Du hast dich auf der Stelle verliebt. Ich weiß natürlich nicht, ob du heute immer noch so … so leicht entflammbar bist. Bist du?
Richard, hast du dein Auto dabei? Lass uns wie früher eine nächtliche Spritzfahrt machen. Du fährst. Ich sitze neben dir und erzähle dir einige Dinge.
Bruckner nickt und springt auf.
Gute Idee! Ich gehe in die Küche und bezahle beim Alten.
Kurz darauf sitzen sie in Bruckners angenehm kühlem und komfortablem Jaguar und fahren in Richtung Süden, aus der Stadt hinaus, durch das merkwürdig fremde Tal, das schon früher ihre Lieblingsstrecke gewesen ist. Es ist noch nicht ganz dunkel und die Hitze ist immer noch unerträglich.
Vielleicht wird es weiter oben kühler, da, wo sich das Tal verengt, manchmal fast schluchtartig. Erinnerst du dich?
Tanner nickt.
Bis sie die Zementfabrik passiert haben, mit dieser ewig langen, leicht schräg gestellten Röhre, in der Kalk und Ton gebrannt werden und die sich langsam dreht, schweigen sie beide. Man hört nur das leise Schnurren des Jaguars. Ein Motorengeräusch kann man das kaum nennen. Zufriedene Wohllaute einer ausgefeilten Technik. Für ein paar ausgewählte Reiche, zu denen sein Freund ohne Zweifel gehört.
Tanners Augen streifen bewundernd über diese Mischung von Leder, Wurzelholz und digitalen Raffiniertheiten. Bruckner fährt mit großer Gelassenheit und Sicherheit. Liebevoll steuert er den schweren Wagen durch die jetzt schnell hereinbrechende Nacht. Er passt perfekt in das Interieur des Autos. Als wäre das alles für ihn maßgeschneidert worden. Tanner mustert seinen Freund von der Seite und staunt wieder über dessen jugendliche Züge. Und wie früher fragt sich Tanner, wie wohl die dunklen Seiten seines Freundes aussehen. Denn, dass es sie bei jedem Menschen gibt, darüber besteht kein Zweifel. Um den Reichtum hat Tanner ihn früher dann und wann beneidet, aber er hat ihm das viele Geld nie missgönnt, zumal Bruckner die gleiche Leidenschaft für Kunst, Politik und Gerechtigkeit an den Tag legte wie Tanner.
Übrigens, Simon, ich kenne in groben Zügen die Geschichte deiner Taten in Marokko. Ich weiß auch, wie unfair du von der Regierung behandelt worden bist. Wie gesagt, ich kenne Gott und die Welt. Das bringt mein Job so mit sich. Und mit deinem Fahndungserfolg hier in unserem Land vor einiger Zeit waren die Zeitungen ja voll. Ich habe natürlich alles genau verfolgt, wie du dir denken kannst.
Tanner nickt, behält aber seine Verwunderung für sich. Was heißt das: alles genau verfolgt? Spricht er von den oberflächlichen Berichten in der Zeitung, oder besitzt sein Freund andere Informationskanäle? Bruckner schweigt.
Tanner hat keine Lust nachzufragen, streckt seufzend seine Beine ganz aus und überlässt sich der Magie der nächtlichen Fahrt. Bruckner betrachtet mit einem schnellen Seitenblick seinen Freund, macht die Musik an – Mozart, wie eh und je – und drückt aufs Gaspedal. Nach und nach stellt sich bei Tanner die Trance ein. Wie früher.
Der schwere Wagen wiegt sich leise durch die Kurven. Der Körper wird schwerelos. Die Materie löst sich auf. Die kinetische Energie der Bewegung wird scheinbar null. Nicht das Auto fährt, sondern die Landschaft rast und fließt dem Auge entgegen. Das Licht sägt aus dem Dunkel einen Film mit rasch wechselnden Bildern. Das monotone Band der Straße mit seiner weißen, regelmäßig unterbrochenen Linie bildet die stetige Basslinie, den Takt des rasenden Bilderreigens. Der schwarze Asphaltfluss reiht tausend Bildfetzen aneinander. Von grellen Scheinwerfern der schwarzen Nacht entrissen. Kaum geschaut, selten ganz begriffen, blitzen Gegenstände flüchtig auf und werden sofort wieder unwiderruflich in ihre dunkle Existenz entlassen. Zurück in das Nichts. Bäume, Sträucher, Gehsteige, Fragmente von Häusern, Gärten, Brücken, Bäche, nicht zu identifizierende Gegenstände am Straßenrand. Auch die banalsten Gegenstände bekommen durch die rasende Abfolge ihrer kurzfristigen Erscheinung eine neue Bedeutung. Die schnellen Schnitte schaffen neue Zusammenhänge. Ein Verkehrsschild warnt vor Schleudergefahr, ein Fuchs starrt mit seinen diamantenen Augen ins gleißende Licht, das fahl erleuchtete Fenster einer allein stehenden Hütte, der verlorene Kinderschuh am Straßenrand, aus dem offenen Fenster eines am Waldrand parkierten Autos blendet die weiße Haut eines nackten Frauenarms.
Der nackte Frauenarm …
Als er Elsies nackten Arm über den Bettrand hängen sah – das Erste, was er erblickte, als er das letzte Mal in ihr Zimmer trat –, wusste er Bescheid. Sie würde nie mehr erwachen. Sie würde aus dem Koma direkt ins andere, ins ferne Land wechseln. Wie konnte er das an ihrem über den Bettrand hängenden Arm erkennen? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er es sofort und mit erschreckender Klarheit erkannte. War es dieses schwer fassbare Leuchten, das in den letzten Stunden ihren ganzen Körper umgab? Dreizehn Monate, drei Tage und sieben Stunden dauerte bis zu diesem Zeitpunkt ihr Koma. Seit einem Jahr lebte er wie betäubt in seiner Wohnung am See, die er nach den Ereignissen im Eiskeller bezogen hatte. Er konnte nicht alleine im Haus von Elsie leben, die Kinder waren ja sofort zu Ruth und Karl gezogen. Nach Elsies wahrscheinlichem Tod würden sie die Kinder adoptieren. Er, Tanner, verließ das große Haus am See, dessen obersten Stock er bewohnte, nur dann, wenn er seine stumme Geliebte im Spital besuchte. Sie, Elsie, sie war jetzt plötzlich zum Dornröschen geworden. Und er konnte sie nicht aufwecken. Er war offenbar nicht der Prinz, der über diese Fähigkeit verfügte. So vergrub er sich in dem alten Haus, spielte Tag für Tag stundenlang sinnloses Zeug auf dem alten Flügel, den der Hausbesitzer im unbewohnten Parterre des Hauses hatte stehen lassen.
Elsies Kinder haben sich damals sofort instinktiv an Ruth und Karl geklammert. Und genauso instinktiv haben sie sich von Tanner zurückgezogen, als ob er für ihre armen kleinen Seelen zu stark mit Elsie verknüpft war, oder schlimmer noch: Vielleicht gaben sie ihm unbewusst die Schuld am Zustand ihrer Mutter? Würden sie ihm später auch einmal die Schuld an ihrem Tod geben?
Ich muss dringend wieder einmal Ruth anrufen, denkt Tanner. Dann zuckt er zusammen.
Apropos Anruf … so ein Mist, sagt Tanner unvermittelt laut in die Stille. Wie spät ist es, Richard?
Es ist kurz nach elf. Was hast du denn? Du kannst einen vielleicht erschrecken.
Entschuldige, Richard. Es gibt eine ganz wichtige Sache, die ich beinahe vergessen hätte. Ich muss gegen Mitternacht in der Innenstadt sein. Ich kann dir das jetzt nicht näher erklären. Und schau mich nicht so schief an. Es geht um eine Informationsübergabe. Dreh bitte sofort um, es ist wichtig.
Mehr will Tanner seinem Freund nicht preisgeben. Viel mehr weiß er selbst ja auch nicht. Und über die Umstände, wie er Michiko kennen gelernt hat, will er mit Richard nicht reden. Der ist taktvoll genug, nicht weiter zu fragen. Etwas anderes hat Tanner von ihm auch nicht erwartet.
Warum er das Treffen mit Michiko beinahe vergessen hat, ist ihm schleierhaft. Die ganze Zeit hat es ihn beschäftigt, nur in den letzten paar Stunden war der Gedanke an diese Verabredung wie ausradiert gewesen. Er findet keine Erklärung für diesen Vorgang. Und das beunruhigt ihn.
Nachdem Bruckner das Auto bei der nächsten Gelegenheit gewendet hat, redet sein Freund nur noch über Belangloses. Anekdoten von ehemaligen Schulkollegen und deren beruflicher Entwicklung, über die er ziemlich gut Bescheid weiß. Das schöne Schweigen ist anscheinend nicht mehr möglich und Tanner fühlt sich außerstand, seinem Freund von Elsies Zustand zu erzählen. Es wird sicher eine andere Gelegenheit geben. Bruckner lässt sich nichts anmerken und plaudert munter drauflos. Er lässt Tanner irgendwo in der Nähe der Innenstadt aussteigen. Obwohl Tanner schon zwanzig Minuten zu spät ist, will er die letzten Schritte zu Fuß gehen. Bruckner soll nicht denken, er habe beim Theaterbrunnen ein Rendezvous. Denn der Ort, wo Michiko ihn hinbestellt hat, ist wirklich einer der beliebten Treffpunkte für Liebespaare. Zumindest war es früher so. Sie verabschieden sich etwas steif und förmlich. Trotzdem haben beide das Gefühl, dass der unterbrochene Kontakt wieder geknüpft ist und dass man sich in Zukunft öfter sehen wird. Unter welchen Umständen das sein wird, kann sich noch keiner der beiden vorstellen.
SECHS
Zwanzig Minuten nach zwölf ist der Platz um den Brunnen bereits großräumig abgesperrt. Laut Protokoll meldete sich exakt um Mitternacht bei der Hauptwache der Polizei ein anonymer Anrufer, der stammelnd von einem Toten im Brunnen mit den komischen Maschinen berichtete. Danach habe er sofort das Gespräch beendet. Der Mann habe das Stadtidiom mit einem starken Akzent gesprochen. Bei der Polizei wusste man natürlich sofort, um welchen Brunnen es sich handelte.
An diesem Abend hat Hauptkommissar Schmid von der Mordkommission Dienst. Er ist ein Mann um die sechzig. Mit dürrem und schlaksigem Körper. Seine schütteren Strähnen sind sorgfältig nach rechts gekämmt und mit einer Spur zu viel Gel an die Kopfhaut geklebt. Schmid ist Pessimist. Wer ihn kennt, weiß es aus Erfahrung. Man braucht ihn allerdings nicht erst zu kennen, um es zu wissen. Seine ganze Körperhaltung drückt tiefen Pessimismus aus. Wer in seine Augen blickt, sieht nur Skepsis, Misstrauen und einen bestimmten Ausdruck von beleidigter Trauer.
Hauptkommissar Schmid ahnte schon während des ganzen heißen Tags, den er in seinem geliebten Schrebergarten im aussichtslosen Kampf gegen eine bestimmte Sorte Ungeziefer verbrachte, die seinen selber gezüchteten Mini-Romano-Salat attackierten, dass heute noch etwas Unangenehmes passieren würde.
Kurz vor Mitternacht sagte sein engster Mitarbeiter namens Natter, der ein wortkarger, schwergewichtiger Mann mit einer uralten BMW-Maschine war, die er an seinen freien Tagen liebevoll, geradezu zärtlich pflegte, heute werde wahrscheinlich nichts mehr passieren. Er spüre das im Urin. Schmid räusperte sich nur kurz und sagte nichts, legte aber seinen Kopf in diese alles und jedes bezweifelnde Schieflage.
Schmid hasst diese unnatürliche Hitze. In seiner Gartenanlage darf man schon seit Tagen nicht mehr wässern. Als Mitglied der Polizei und als Vorstandsmitglied im Pflanz- und Gartenverein hat er naturgemäß eine gewisse Vorbildfunktion, also darf er nicht gegen das Bewässerungsverbot verstoßen. Bei seinen kleinsten Setzlingen hat er sich allerdings erlaubt, ein Glas Wasser auszugießen. Er tat so, als ob er selber trinken wollte, worauf er aus gespielter Unachtsamkeit stolperte und das Glas Wasser vergoss. Nur für den Fall, dass ihn jemand beobachtet hätte. Und beobachtet wurde man im Kleingartenverein eigentlich immer. Alle wussten von allen, wer wann wie viel Dünger verwendete oder wie groß die Tomaten wurden. Oder wer seinen ihm anvertrauten Garten vernachlässigte. Nach der unrechtmäßigen Wasseraktion fühlte sich Schmid wie ein Verbrecher. Er konnte also nur noch zuschauen, wie sein Gemüse und seine Salatzüchtungen, die noch nicht vom Ungeziefer befallen waren, langsam verdorrten. Andererseits bestätigte ihm diese klimatische Unbill, dass er mit seiner Neuzüchtung sowieso kein Glück haben würde. Zudem hatte er sich vom ewigen Durchzug im Büro einen Schnupfen eingefangen. Und das mitten im Sommer. Und nur weil die Kollegen ständig die Türen offen ließen.
Eine Minute vor Mitternacht gab er seinen Mitarbeitern das Zeichen für den Aufbruch in die Polizeikantine. Es war Zeit für das »Mittagessen« der Nachtschicht. Und genau in dem Moment, wo sich alle von ihren Stühlen erhoben, auf denen man von der Tageshitze noch in der Nacht festklebte, klingelte das Telefon.
Die nackte Frauenleiche liegt mitten im Brunnenbecken. Da die Maschinen und Objekte nachts abgestellt werden, ist das Wasser still und schwarz. Am Rande des Beckens hat ein Polizist zwar bereits Scheinwerfer auf Stativen bereitgestellt, aber noch ist der Strom nicht eingeschaltet. Man kann ohne Licht nicht genau sehen, ob der hellhäutige Körper im Wasser schwimmt oder auf dem flachen Bassinboden aufliegt.
Hauptkommissar Schmid sitzt zusammengesunken auf einer der Bänke, die in der Nähe des Brunnens aufgestellt sind. Er ist sichtlich verärgert. Um nicht zu sagen: stinksauer. Aber nicht wegen der Leiche. Er findet es eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit. Seine neueste Salatkreation verdorrt und hier in der Stadt läuft den lieben langen Tag das Wasser in unzählige Brunnen. Allein mit dem Wasser, das jetzt das große stille Becken füllt, könnte er seinen Garten drei Wochen lang bewässern.
Dass Natter kommt und ihm schwer atmend berichtet, dass sich auf dem Platz, wo sich viele Schaulustige hinter der Absperrung tummeln, kein Einziger findet, der als Zeuge etwas aussagen kann oder will, verbessert seine Laune auch nicht.
Tanner sitzt etwas abseits hinter der Absperrung auf einer Treppenstufe. Der weiße Stein ist noch warm von der Hitze der Sonneneinstrahlung.
Michiko, es ist etwas mit Michiko passiert, dachte er sofort, als er von weitem die vielen Fahrzeuge der Polizei, das Feuerwehrauto und den Krankenwagen erblickte. Er brauchte nicht zu warten, bis die Polizei die Leiche im Wasser umdrehte. Ein Blick von weitem auf den makellosen, hell schimmernden Körper bestätigte seinen schlimmen Verdacht.
Dass Tanner zu spät gekommen ist, tut eigentlich nichts zur Sache, denn es ist ganz offensichtlich, dass Michiko nicht hier in der Öffentlichkeit umgebracht worden ist. Dass sie tot und nackt hierher gebracht und ins Wasserbecken des berühmtesten Brunnens der Stadt gelegt wurde, stellt eine unglaublich freche Provokation dar. Normalerweise werden Leichen im Wald verscharrt. Oder zerstückelt und in separaten Paketen an verschiedenen Orten versteckt. Oder die Leiche wird in ein tiefes Wasser versenkt. Auf jeden Fall geht es immer um die – meist trügerische – Hoffnung des Verbrechers, dass die Leiche möglichst lange unentdeckt bleibt, und damit auch er selber. Ohne Leiche kein Verbrechen.
In Michikos Fall haben der oder die Mörder es auf eine sofortige Entdeckung geradezu angelegt. Es handelt sich um Kalkül. Aber mit welcher Absicht?
In diesem Moment lassen die Scheinwerfer der Polizei den Brunnen in hellem Licht erstrahlen. Ein Polizist macht von allen vier Seiten Fotos des Leichnams. Dann treten drei Polizisten mit Gummistiefeln über den niedrigen Beckenrand, nähern sich langsam dem reglosen Körper, als ob sie ihn nicht erschrecken wollten, und greifen vorsichtig ins Wasser. Sie tragen ihn auf eine neben dem Becken bereitgestellte Bahre. Bevor sie ihn auf die Bahre niederlassen, sind die drei Polizeibeamten unschlüssig, ob sie den Körper sofort umdrehen oder ob sie ihn zuerst auf den Bauch legen sollen. Die drei verständigen sich stumm durch Blicke und Bewegungen ihrer Köpfe. Sie beschließen, die Leiche sozusagen in der Luft zu drehen. Dazu müssen die drei Polizisten ihre Griffe an dem nassen, wahrscheinlich glitschigen Körper ändern und es entsteht für einen Augenblick eine eigenartige Skulptur von drei sich bückenden Gestalten um den in der Luft schwebenden makellosen Körper von Michiko, mit sechs sich teilweise kreuzenden und ineinander verschlungenen Händen und Armen. Im Moment, wo Michikos Körper auf die Bahre gelegt wird, kommt der Polizeiarzt angerannt und die drei Beamten treten von der Toten zurück. Sie sind sichtlich erleichtert, dass sie ihre schwierige Aufgabe ohne größere Schwierigkeit gemeistert haben. Verstohlen wischen sie die Hände an ihren Hosen trocken.
Tanner ist ratlos. Wenn ihn Michikos Tod etwas angeht, muss er jetzt aufstehen und der Polizei mitteilen, was er weiß. Aber was weiß er denn schon?
Komm, hör auf. Keine billigen Ausflüchte. Du weißt vielleicht nicht viel, aber vermutlich mehr als die Polizei, murmelt Tanner leise zu sich selbst.
Dass der Tod Michikos in irgendeiner Weise im Zusammenhang mit dem Tod des japanischen Kunden im Schlaraffenländli steht, liegt eigentlich auf der Hand. Weil beide Japaner waren? Natürlich nicht. Aber ihr Anruf kann doch nur etwas mit diesem Ereignis zu tun haben. Was sonst hätte sie ihm mitzuteilen gehabt. Der Tod des Japaners und seine zufällige Anwesenheit waren ihre einzige Verbindung. Obwohl er sich darauf noch keinen Reim machen konnte. Es handelte sich ja wahrscheinlich um einen Unfall. Das einzig Seltsame an diesem Unfall ist, dass davon bisher nichts in der Zeitung stand.
Bei ihrem Anruf sprach Michiko unglaublich hastig und ihre Stimme klang, als ob sie unter Druck stehe. Hatte sie Angst? Wusste sie damals schon, dass sie in Gefahr war? Was hatte sie ihm mitteilen wollen? Tanner beginnt sich Vorwürfe zu machen, dass er nicht sofort in die Stadt gefahren ist und versucht hat, Michiko zu finden. Vielleicht hätte er ihren Tod verhindern können.
Es ist ihm natürlich klar, dass er mit der Polizei sprechen muss. Schon allein wegen seiner Telefonnummer, die in Michikos Mobiltelefon gespeichert ist. Falls es von der Polizei gefunden würde, stände er ganz schön blöd da. Er hat aber absolut keine Lust, jetzt aufzustehen, durch die Absperrung zu gehen, sich anschnauzen zu lassen, dass er da nichts zu suchen habe … und so weiter. Er wird einfach später aufs Präsidium gehen, es liegt sowieso ungefähr in Richtung seines Hotels.
Vorerst wird er aber noch auf seinem warmen Stein sitzen bleiben und dem Treiben der Polizei zusehen. Vielleicht kann er später noch selbst die Beckenränder und die Umgebung des Brunnens auf Spuren untersuchen. Schließlich ist der Transport einer toten nackten Frau in ein Brunnenbecken ein aufwändigeres Manöver, als eine Glücksmünze in einen Brunnen zu werfen.