Das Gesetz des Wassers

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Der Polizeiarzt hat mittlerweile den Leichnam von Michiko zum Abtransport freigegeben. Polizisten und Techniker mit Handschuhen suchen die Umgebung des Brunnens ab. Ab und zu packen sie kleine Gegenstände in Plastiktüten. Hauptkommissar Schmid sitzt immer noch in sich zusammengesunken auf derselben Bank. Dann und wann beugt sich der neben ihm stehende Natter zu ihm hinunter und flüstert ihm etwas zu. Schmid nickt dann bloß oder wiegt skeptisch seinen Schädel. Einmal führt Schmid mit seinem Handy ein kurzes Telefongespräch. Vielleicht mit seiner Frau? Um ihr zu sagen, dass er später als sonst nach Hause kommt? Vielleicht beauftragt er sie, an seiner Stelle in den Garten zu gehen, da er wegen des neuen Falles auch den ganzen Tag über im Dienst bleiben muss.
In der Zwischenzeit hat sich die Menge der Leute hinter der Absperrung verlaufen, denn es gibt nichts Spannendes mehr zu sehen. Einzig Tanner sitzt noch auf seiner Treppenstufe. Die Nachtluft ist endlich angenehm kühl. Still ist es geworden. Die Straßenbahnen fahren nicht mehr und Autos sind nur noch sporadisch zu hören.
Tanner stellt sich die kleine Gedankenaufgabe, wie er es anstellen würde, mitten in der Stadt eine nackte Leiche im Brunnenbecken zu platzieren. Über Motiv oder Tathergang kann er ohne Anhaltspunkte gar nicht nachdenken. Er weiß ja nicht einmal, wie Michiko ermordet wurde. Wegen der Distanz zum Brunnen konnte er weder eine Verletzung noch eine Schusswunde erkennen.
Es müssen auf jeden Fall mehrere Täter gewesen sein. Mindestens drei. Für eine professionelle Nachtaktion mitten in der Stadt wären vier oder fünf Männer besser. Die Männer kommen mit einem Auto – wahrscheinlich mit einem Lieferwagen – und fahren so nahe wie möglich zum Brunnenbecken. Es gibt zwei Stellen, wo ein Auto unweit des Brunnens relativ unverdächtig anhalten könnte. Wenn die Polizei weg ist, wird Tanner aufstehen und beide Stellen überprüfen. Also, bei der einen oder anderen Stelle hält ein Lieferwagen. Drei bis fünf Männer sitzen im Auto. Sie kurbeln die Fenster runter und beobachten ruhig den Brunnen und die Umgebung. Wahrscheinlich flanieren noch ein paar Leute beim Brunnen. Das eine oder andere Paar sitzt auf dem Beckenrand, küsst sich und hält sich liebevoll umschlungen. Die Männer im Auto haben Zeit und Geduld. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da ist plötzlich die Luft rein. Blitzschnell steigen sie aus dem Auto. Zwei behalten weiterhin die Umgebung scharf im Auge. Die beiden anderen packen die leblose Michiko, die wahrscheinlich in ein dunkles Tuch gehüllt ist – oder in einem großen Behältnis oder Wäschekorb liegt – und tragen sie ruhig zum Brunnen. Schwer war Michiko ja nicht. Tanner erinnert sich an den Moment, wo sie auf seinen Knien saß. Nach einer weiteren Sicherheitsüberprüfung steigen die zwei Träger in den Brunnen und legen die Leiche ins Wasser. Die ganze Aktion könnte nach Tanners Berechnung in neunzig Sekunden erledigt gewesen sein. Die zwei Träger, die in das flache Brunnenbecken steigen mussten, haben jetzt nasse Schuhe. Oder sie haben Stiefel getragen. Das Tuch, in das Michiko gehüllt war – oder der Transportbehälter, in dem sie lag – wird zurück ins Auto getragen. Alle steigen wieder ein – der Fahrer ist wahrscheinlich sowieso im Auto sitzen geblieben – und weg sind sie.
Wie auch immer, auf jeden Fall deutet alles darauf hin, dass es sich um professionelle und skrupellose Täter handelt. Professionelle Täter handeln zwar – nach Lehrbuch – im Verborgenen und versuchen, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen. Trotzdem kann man sich die Aktion, die hier stattgefunden haben muss, nicht von Amateuren ausgeführt vorstellen. Dass die Leiche Michikos in einen öffentlichen Brunnen mitten in der Stadt gelegt wurde, ist eine Botschaft. Aber an wen ist sie gerichtet? Auf jeden Fall müssen sich die Täter oder ihre Auftraggeber geradezu unverschämt sicher fühlen.
Die Scheinwerfer erlöschen. Die Polizei hat ihre Untersuchung beendet. Eine Untersuchung, die für Tanners Geschmack etwas oberflächlich war und vor allem ziemlich schnell abgebrochen wurde. Zum Beispiel wurde das Brunnenbecken nicht methodisch und gründlich abgesucht. Tanner hätte auf jeden Fall das Wasser abgelassen und filtriert, um zu schauen, ob im Wasser irgendetwas zum Vorschein gekommen wäre, was Rückschlüsse auf die Täter oder das Opfer erlaubt hätte.
Ja, ja, du! Du hättest … du bist aber nicht mehr im Dienst, und gerade mit solchen Aktionen, wie zum Beispiel hier mitten in der Nacht das Wasser des ganzen Beckens abzulassen, hast du dich nicht gerade beliebt gemacht …
Tanner lacht über seine eigenen Gedanken. Und zuckt einen Augenblick später zusammen, als plötzlich eine hohe Fistelstimme spricht. Lach nur! Lach! Dir wird das Lachen schon noch vergehen, wenn der Gerechte kommt und dich packt.
Die Stimme kommt aus einem Gebüsch dicht unterhalb der Brunnenanlage. Es sind mehrere mannshohe, dornige Büsche, die zusammen ein undurchdringliches Gebüsch bilden. Nach kurzer Pause spricht die Stimme weiter.
Die Stadt lebt in Sünde. Die Menschen dieser Stadt sind alle zum Sterben bestimmt. Zuerst kommt der Tod leise. Als Mahnung und Vorwarnung. Dann, wenn sich die Tage erfüllt haben, kommt ein brausendes Feuer vom Himmel mit großem Lärm über die Stadt.
Tanner steht auf und geht näher an den sprechenden Busch heran.
Wir wissen, dass wer von Gott geboren ist, der sündigt nicht, sondern wer von Gott geboren ist, der bewahrt sich, und der Arge wird ihn nicht antasten. Erstes Buch Johannes, Kapitel fünf, Vers achtzehn …
Die Stimme schweigt. In der Stille hört Tanner ein leises Rascheln. Es klingt, als würde jemand in Plastiktüten wühlen. Dann wird eine Flasche entkorkt. Gleich darauf hört man deutlich Trinkgeräusche. Jetzt spricht sie wieder, die Stimme aus dem Busch.
Was ist das Größre vor dem Herrn? Ein ausgespiener Apfelkern, ein Hund, ein Kind, ein Halm im Wind oder die Reue einer Dirne?
Schweigen. Dann wieder Trinkgeräusche.
Prost! Auf Ihre Gesundheit! Darf ich Sie kurz stören?
Kaum hat Tanner gesprochen, wird es sofort wieder still im Gebüsch. Tanner versucht, durch die Zweige ins Innere des Gestrüpps zu sehen, aber es ist einfach zu dunkel. Dann wieder die Fistelstimme.
Hau ab, Mensch, sündiger. Du störst. Wenn du beichten willst, komm morgen wieder. Verschwinde, sonst jag ich meine Hunde auf dich … Und wie zur Bestätigung hört man das Knurren mehrerer Hunde. Es klingt, als ob es große Hunde wären. Tanner beschließt sich zurückzuziehen.
Also gut, ich komme morgen wieder. Abgemacht?
Die Antwort ist ein Knurren. Man kann nicht sagen, ob es der Laut eines Menschen oder der eines Tieres ist. Tanner nimmt es als Bestätigung und zieht sich zurück.
Ein seltsamer Wohnort. Mitten in der Stadt und trotzdem unsichtbar. Tanner ist gespannt, was für ein Wesen sich hier sein Nest gebaut hat. Er hat schon Penner und Clochards in Kartonschachteln gesehen, in Abfallcontainern, in ausgebrannten Autos, unter Brücken, in Berge von Zeitungen eingehüllt, in umgestürzten Telefonkabinen. Aber in einem Busch, einem schier undurchdringbaren Gestrüpp … das ist neu. Und wie geht er rein und raus? Das Rätsel wird sich im Tageslicht lösen. Abhauen wird er ja bis morgen nicht. Möglicherweise hat das Wesen im Busch etwas von den nächtlichen Vorgängen beobachtet.
Tanner inspiziert die beiden Stellen, die er in seinem Gedankenspiel vorhin als mögliche Halteorte für das Auto der Verbrecher eruiert hat. Aber er findet nichts. Keinen einzigen Anhaltspunkt.
Enttäuscht und aufgewühlt geht er in Richtung Innenstadt. In Richtung des breiten Stroms. Der Fluss teilt die Stadt in einen größeren, älteren Teil, in dem sich Tanner zur Zeit befindet, der traditionell immer der reichere, gebildete, bürgerliche Teil der Stadt war; und in einen kleineren Teil, auf den früher die Bewohner des größeren Stadtteils naserümpfend hinunterblickten. Nur in dem kleinen Stadtteil war früher das Laster angesiedelt. Heute hat sich alles und jedes auf beide Stadtteile verteilt.
Die Straßen sind wie ausgestorben. Durch die andauernde Hitze der letzten Tage hat die Stadt einen ganz fremden Geruch angenommen. Einen mediterranen goût. Beinahe riecht sie schon wie eine Stadt im Süden. Eine weiße Stadt im Nahen Osten vielleicht. Es ist diese schwer zu definierende Duftmischung aus heiß gewordenem Asphalt, Abgasen, überreifen Früchten, die schon bald vergären, und Abfällen, die zu lange der Tageshitze ausgeliefert waren. Es fehlt nur der Salzgeschmack eines nahe gelegenen Meeres.
Er muss an Michikos Schicksal denken. Er hat sie ja nicht eigentlich kennen gelernt. Er hat bloß ihren makellosen Köper gesehen und ihn einmal kurz berührt. Und dann hat er ihren Schrecken beim Angstschrei ihrer Kollegin gespürt. Da verwandelte sich die unnahbar kühle Schönheit in das kleine Mädchen, das sie hinter der professionellen Maske geblieben war. Ob sie Verwandte in Europa hatte? Dachten sie, ihre Tochter studierte in Europa? Allzu lange konnte Michiko noch nicht als Prostituierte arbeiten, denn sie hatte noch nicht diesen müden, desillusionierten Blick, den alle früher oder später bekommen, die in diesem Milieu arbeiten. Was sie wohl für Träume gehabt hat? Was für Zukunftspläne?
Tanner passiert eine enge Gasse, in der ein übervoller Abfallcontainer eines chinesischen Fast-Food-Restaurants den Weg beinahe versperrt. Wahrscheinlich hat sich seine Bremse gelöst. Um weitergehen zu können, muss Tanner sich zwischen Container und Hauswand hindurchzwängen, den Container sogar etwas beiseite schieben. Sofort raschelt es laut und eine regelrechte Horde fetter Ratten flieht aus dem Küchenabfall ins nächste Kellerloch. Angewidert beschleunigt Tanner seine Schritte. Wenn es noch lange so heiß bleibt, werden die Bewohner dieser Stadt noch einige Überraschungen erleben.
Kurz darauf steht er vor dem Polizeipräsidium. Er fragt nach dem Dienst habenden Kommissar und lässt ihm ausrichten, dass er einige Auskünfte zur Leiche im Brunnen geben könne. Nach telefonischer Rückfrage wird Tanner von einem jungen Bereitschaftspolizisten durch lange Gänge in eine Art Vorraum oder Warteraum geführt. An der Wand hängen Plakate mit steckbrieflich gesuchten Gewaltverbrechern. Die Mehrheit der gesuchten Männer ist aus den drei Osten.
Sagt man hier einfach Osten, dann sind die aus dem Balkan, aus dem ehemaligen Jugoslawien oder die aus der ehemaligen Sowjetunion gemeint.
Mit dem Begriff des Nahen Ostens meint man undifferenziert alle die, die aus dem arabischen Raum kommen. Auch die aus der Türkei. Unter dem schönen Begriff des Fernen Ostens sind die aus Sri Lanka, die Tamilen, aber auch die von der chinesischen und japanischen Mafia gemeint.
Wie beruhigend, Verbrecher kommen aus dem Osten. Selten aus dem Westen. Aus dem Westen kommt das Wetter. Unsere eigenen Verbrecher sitzen ja eher in klimatisierten Räumen, tragen weiße Hemden, dezente Krawatten, fahren große Limousinen, bewohnen Hotelsuiten, haben nicht so böse Gesichter und werden nie auf solchen Plakaten abgebildet.
Was für eine schöne westliche Tradition: Die Gefahr kommt aus dem Osten. Das Irrationale, das Ekstatische, das Fanatische, das Asiatische, die Hunnen, der Ostjude, der Türke, die gelbe Gefahr.
Jetzt reicht es, denkt Tanner. Jetzt sitze ich schon zwanzig Minuten in diesem öden Raum. Und das mitten in der Nacht. Jetzt reicht es.
Tanner geht zur Verbindungstür, die ins Büro des Kommissars führt, und klopft energisch. Als keine Antwort kommt, öffnet er kurz entschlossen die Tür.
Drei Schreibtische sind in dem großen Raum so verteilt, dass jeder möglichst ungestört vom anderen arbeiten kann. Die Luft ist stickig und verbraucht. An der Decke sondern fahle Lampen ein kaltes Licht ab. An den Schreibtischen leuchten die obligaten Schreibtischlampen. In der Ecke steht ein billiger Ventilator, der ratternd die Hitze schön gleichmäßig im Raum verteilt. Cremefarbene Jalousien verschließen den Blick nach draußen. Zwei der Männer haben offenbar bis zu Tanners Eintritt auf den Monitor ihres Computers gestarrt, jetzt blicken sie ihn mit gehässigen Blicken an. Hauptkommissar Schmid sitzt zusammengesunken an seinem leeren Schreibtisch und fixiert die grüne Schreibunterlage. Bevor Tanner seinem Ärger freien Lauf lassen kann, räuspert sich Schmid laut. Dann spricht er schnell und ungehalten. Ohne aufzuschauen.
Sie haben zwar geklopft, aber niemand hat herein gesagt! Oder haben Sie etwas Derartiges gehört? Ich würde vorschlagen …
Ich würde vorschlagen, dass Sie mich jetzt einfach anhören. Sonst kann ich auch wieder gehen. Schließlich habe ich eine Information für Sie. Ich komme freiwillig hierher, mitten in der Nacht, und Sie lassen mich grundlos warten. Das ist nicht besonders höflich. Also, entscheiden Sie sich. Ich kann morgen auch direkt zum zuständigen Staatsanwalt gehen.
Jetzt blickt Schmid endlich von seinem Schreibtisch auf, unsicher, ob er seiner schlechten Laune nachgeben und den Besucher einfach rauswerfen soll. Seine Mitarbeiter erwarten es von ihrem Chef, das spürt er ganz deutlich. Andererseits gibt es etwas an Tanners Auftreten, das Schmid irgendwie beeindruckt. Er weiß nur noch nicht, was es ist. Aber vielleicht hat der nächtliche Störenfried ja doch eine brauchbare Information.
Gut. Entschuldigen Sie, dass ich Sie warten ließ. Natter und Waibel, lasst uns einen Moment allein.
Die Angesprochenen erheben sich zögernd von ihren Stühlen, als ob sie noch nicht so richtig an die Ernsthaftigkeit der Aufforderung glauben. Aber Schmid unterstreicht sie mit einer Geste. Er will seine beiden Mitarbeiter bei dem Gespräch nicht dabeihaben, da er instinktiv spürt, dass Tanner ihm vielleicht intellektuell überlegen sein könnte. Und so eine Situation konnte Schmid noch nie aushalten. Zudem ist es immer von taktischem Vorteil, alleiniger Herr über wichtige Informationen zu sein. Wichtig vor allem für die Karriere, das haben ihn fünfunddreißig Berufsjahre gelehrt. Dass er heute Hauptkommissar ist, und nicht einer seiner Mitarbeiter, hat viel mit wohl überlegter Informationspolitik zu tun. Schmid weiß das. Auch wenn er es nie zugeben würde.
Also, nehmen Sie Platz. Wie ist Ihr Name und was haben Sie mir denn so Wichtiges zu sagen. Um zwei Uhr siebenundzwanzig.
Tanner lehnt sich zurück und schaut offen und direkt in die beleidigte Miene und die skeptischen Augen seines Gegenübers. Bis Schmid ausweicht. Er kaschiert diese erste Niederlage, indem er sich aus der untersten Schublade seines Schreibtisches ein Bündel weißes Papier holt.
Ich habe dem Schild an der Tür entnommen, dass Sie Kommissar Schmid sind. Ist das richtig?
Hauptkommissar, ja, das stimmt.
Schmid könnte sich die Zunge abbeißen, dass er in die erste plumpe Falle gestolpert ist, die ihm Tanner gestellt hat. Aber jetzt ist es zu spät. Wenigstens lässt er sich nichts anmerken.
Freut mich, Herr Hauptkommissar Schmid. Ich heiße Tanner und bin für ein paar Tage in meine Geburtsstadt zurückgekommen. Ich bin seit dreißig Jahren nicht mehr hier gewesen. Es hat sich zwar einiges verändert, aber es ist immer noch eine der schönsten Städte in diesem Land, wie eh und je. Außer, dass ich mich nicht erinnern kann, dass es früher in dieser Stadt jemals so heiß gewesen wäre.
Als Schmid höflich über diese kleine rhetorische Pointe lächelt, schießt Tanner die Frage gezielt ab.
Sie haben keine Ahnung, wer die tote Japanerin aus dem Brunnen ist, oder?
Schmid verliert für einen Moment die Beherrschung über sein Gesicht. Ein Gesichtsmuskel zuckt und verzerrt seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. Schnell wischt er sich mit dem Handrücken über den Mund.
Wie kommen Sie darauf, dass wir sie nicht kennen?
Jemand hat mir verraten, wie Ihre Mitarbeiter unter den Zuschauern vor Ort nach Zeugenaussagen gefragt haben. Bei der Gelegenheit hat man einem Ihrer Mitarbeiter eine Frage gestellt, und der war so frei, offen zuzugeben, dass die Polizei keine Ahnung habe, wer die Tote sei.
Tanner blufft natürlich. Aber er ist sich sicher, dass die Polizei wirklich keine Ahnung von der Identität der Toten hat.
Gut. Es stimmt. Wir wissen nicht, wer die Tote ist.
Schmid schwitzt bereits an den Händen. Das Gespräch dauert noch keine zwei Minuten und schon drei Punkte für Tanner.
Die Tote heißt Michiko. Das ist ein japanischer Vorname. Die japanische Kaiserin heißt auch so. Michikos Familiennamen kenne ich nicht. Sie lebte in Frankfurt, sprach ziemlich gut deutsch und war regelmäßiger Gast im Schlaraffenländli. Das heißt, sie war natürlich kein Gast, sondern sie arbeitete dort regelmäßig. Sie brauchen also nur nachzufragen. Sie kennen das Schlaraffenländli, oder? Ach, und noch etwas: Falls Sie je ihr Handy finden, werden Sie dort mit großer Wahrscheinlichkeit auch meine Nummer auf ihrer Anrufliste finden. Sie hat mich nämlich gestern angerufen.
Schmid starrt Tanner an. Irgendwie ist ihm jetzt die Frage, die er logischerweise stellen muss, peinlich. Tanner hätte ja gleich alles erzählen können. Aber so einfach wollte der es ihm nicht machen. Woher kennen Sie denn diese … diese Michi …, diese Dame? Ich meine, Sie müssen natürlich nicht antworten.
Oh, kein Problem. Ich kenne sie natürlich aus dem Schlaraffenländli. Und ich hatte sie gebeten sich zu überlegen, ob wir uns nicht außerhalb dieses Etablissements treffen könnten. Deswegen habe ich ihr meine Telefonnummer gegeben. Ja, und deswegen hat sie mich gestern angerufen.
Tanner ist richtig in Fahrt gekommen. Die Lügen sind wie flüssiger Honig aus seinem Mund geflossen. Schmid schaut ihn an, den Kopf in seiner berühmten schiefen Haltung. Wenn Tanner ihn kennen würde, wüsste er, dass Schmid ihm kein Wort glaubt. Schmid glaubt nie jemandem. Grundsätzlich nicht. Und schon gar nicht einem Tanner, der mitten in der Nacht großspurig daherkommt und mir nichts, dir nichts so locker von seinem Besuch im Puff berichtet. Dann nickt er aber Tanner anerkennend zu.
Doch. Doch, da haben Sie uns ganz schön geholfen. Klingt alles sehr plausibel. Doch, alles klar. Vielen Dank, Herr Tanner. Dürfen wir Ihre Telefonnummer auch haben? Und Ihre Wohnadresse? Und in welchem Hotel Sie in der Stadt logieren? Bleiben Sie überhaupt noch weiter hier?
Tanner überhört die Anzüglichkeit, die in dem Wörtchen auch steckt, und bringt die gewünschten Angaben zu Papier. Hauptkommissar Schmid starrt wieder gebannt auf die grüne Schreibunterlage. Jetzt weiß Tanner auch mit Bestimmtheit, dass Claudia vom Schlaraffenländli nicht die Polizei angerufen hat. Er erhebt sich, verabschiedet sich und wendet sich zur Tür. Schmid räuspert sich, bevor er noch einmal ruhig spricht.
Ein bisschen verwunderlich ist es schon, dass Sie mitten in der Nacht zu uns kommen, finden Sie nicht auch? Sie hätten uns das doch alles auch direkt am Tatort sagen können, oder? Aber gehen Sie nur. Sie werden sicher müde sein. Wir sehen uns ja sowieso wieder, da bin ich mir ganz sicher …
SIEBEN
In der Zeitung, die Tanner zum Frühstück durchblättert, steht selbstverständlich noch nichts von der ermordeten Michiko. Sie wurde ja erst nach Mitternacht gefunden. Stattdessen liest Tanner einen kleinen Bericht über eine weitere tote Kuh, die in dem kleinen See gefunden wurde, an dem er sich niedergelassen hat.
Wer, um Gottes willen, ermordet Kühe, schneidet ihnen die Ohren mit den gelben Erkennungsmarken ab und wuchtet die toten Kadaver in den See? Tanner beschließt, seinen Freund Serge Michel anzurufen. Vielleicht hat er mit dem Fall zu tun. Leider meldet sich aber nur der Anrufbeantworter und Tanner verspürt keine Lust eine Botschaft zu hinterlassen.
Heute steht ein Besuch der Firma, in der sein Großvater früher gearbeitet hat, auf Tanners Programm. Er will unbedingt wenigstens die Fabrik sehen. Vielleicht gibt es noch alte Gebäude, die damals schon standen. Wenn er Glück hat, besitzt die Firma ein Archiv, in das er Einblick nehmen könnte. Gar zu gerne würde Tanner herauskriegen, an welcher Art von Unglücksfall seinem Großvater die Schuld gegeben wurde. Diese Schuld, oder diese vermeintliche Schuld, sei – nach Aussage seiner Mutter – der Auslöser für seine Krankheit gewesen. Genaueres hatte seine Mutter über die Krankheit ihres Vaters nie gesagt.
Auf Tanners Besuchsliste stehen neben dieser Firma die örtliche Krankenkasse und die psychiatrische Klinik.
Die psychiatrische Klinik nannte man damals kurz und bündig Friedmatt, heute heißt sie PUK. Psychiatrische Universitätsklinik. Wer die Abkürzung nur hört und Shakespeare kennt, denkt zwangsläufig an den Puck aus dem Sommernachtstraum.
Tanner muss unwillkürlich schmunzeln.
Ist das eine Ironie des Schicksals? Man hatte den volkstümlichen Namen Friedmatt, der für alles stand, was mit Psychiatrie zu tun hatte, endlich durch einen seriösen Namen, eine korrekte Abkürzung ersetzt und ist dadurch unbeabsichtigt bei Puck gelandet, dem koboldhaften Verstörer, der den Mädchen mit Vorliebe böse Streiche spielt, und so manchen Wanderer, der durch altenglische Moore streifte, mit seinen Irrlichtern in ein Sumpfloch, sprich: in den Tod führte. So hat es der Zufall – oder eine andere unbekannte, ordnende Macht – verhindert, dass die psychiatrische Klinik eine kühle, verwaltungstechnisch korrekte Bezeichnung bekam, sondern stattdessen einen poetisch verrückten Namen aus der Welt der Träume und der Phantasie.
Neben der Friedmatt gab es für das quasi Nicht-Normale noch einen Ort: die Webstube. Werkstätten für alle, die in den Augen der Gesellschaft zwar nicht normal, aber ungefährlich waren. Das waren vor allem die Mongoloiden, wie man sie damals noch nannte. Inklusive alle anderen Arten von geistig und körperlich Behinderten, für die man noch nicht so differenzierte Bezeichnungen hatte wie heute, außer natürlich den unflätigen. Also nannte man sie allesamt die Webstübler. Man erkannte sie schon von weitem an ihren völlig deplatzierten Kleidern und Mützen. Sie wurden aus Kleidersammlungen für Arme versorgt.
In der nächsten Umgebung der Friedmatt waren auch ein Friedhof, die Kehrrichtverbrennung, eine Knochensiederei, die Großwäscherei für Spitäler und eine Sammelstelle für Kadaver angesiedelt.
Alles, was man in der Stadt nicht mehr haben wollte, und alles, was erst gründlich ausgekocht, gewaschen, durch die Mangel gedreht, therapiert, mit Medikamenten quasi »chemisch gereinigt« werden musste, bevor man es wieder in die Stadt hineinlassen konnte, war in diesem Stadtteil versammelt. Ort der Ausgrenzung. Ort der Verwandlung. Der Gärung. Der Zersetzung. Der alchemistischen Prozesse. Es roch nach Tod. Oder wie man in Tanners Geburtsstadt sagen würde: es schmeckt nach Tod … Heute wird er das noch mal mit anderen Augen sehen.
In den großen Schulferien arbeitete Tanner einmal in der städtischen Kehrichtverbrennungsanlage. Er saß mit zwei Männern mittleren Alters Tag für Tag acht Stunden und fünfundvierzig Minuten in dem kleinen Haus. Ihre Aufgabe war es, sämtliche ankommende Fahrzeuge, die Kehricht brachten, aufs Genaueste zu wiegen. Nach dem Abladen wurde das leere Fahrzeug noch einmal gewogen und die drei von der Waage ermittelten mittels einer einfachen Subtraktion das gelieferte Nettokehrichtgewicht.
Einer war natürlich der Chef. Er öffnete am Morgen, wenn’s losging, die Schranke des Werkhofs und senkte sie bei Feierabend. Er, und nur er, grüßte jeden aufs Gelände hereinfahrenden Fahrer und jeden, der das Gelände wieder verließ. Er verfügte über eine breite Palette fein abgestufter stummer Gruß- und Winkformen.
Zum Beispiel grüßte er den Direktor der Kehrichtverbrennungsanlage, der als einziger einen Mercedes fuhr, und zwar selbstverständlich einen schwarzen, mit militärischen Ehren. Zweimal täglich. Der König kommt. Der König geht. Er stand stramm und grüßte mit mathematisch exakt angewinkelter Hand an der Stirn. Bis der König, also der Direktor, außer Sichtweite war. Dabei summte er regelmäßig eine ziemlich rassige Marschmelodie, die der Direktor allerdings nicht hören konnte. Am unteren Ende seines Grußregisters gab es nur noch ein nachlässiges, kaum angedeutetes Nicken. Sichtete er einmal wöchentlich die Frau des Direktors in ihrem roten Mercedes Coupé, hob er begeistert beide Arme und schüttelte seine beiden Hände wie zu einem verrückten Tanz, bis der Wagen nicht mehr zu sehen war. Sie war einmal Miss Schweiz gewesen und beschäftigte zu hundert Prozent die sexuelle Phantasie sämtlicher Angestellter der städtischen Verbrennungsanlage. Die Arbeiter rissen sich einmal die Woche darum, ihr Auto mitten auf dem Werkhof waschen zu dürfen. Es fehlte nicht viel und sie hätten noch auf Knien – und mit einer Zahnbürste bewaffnet – die Profile der Reifen gereinigt.