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Zitternd und mit hochrotem Kopf verbeugte sich der Bedienstete und verließ den Raum. Lübbert Rimberti blieb noch einen Moment in der geöffneten Tür stehen und trat dann ein.
»Hier liegt es: Hillersum!« Graf Enno klopfte energisch mit dem Nagel des Zeigefingers auf die ausgebreitete Karte. Er nickte Drost Eggerik Beninga zu, der Rimberti die Sachlage genauer erklärte.
»Es handelt sich um eine Herrlichkeit. Hillersum hat etwa vierhundert Einwohner. In Hillersum steht eine dem heiligen Nikolaus geweihte Kreuzkirche. Außerdem hat der Ort eine kleine, aber gut befestigte Burg. Dann gehören zur Herrlichkeit noch die beiden Kirchdörfer Rickertsum und Folkmershusen, das kleine Dorf Uiterweer und noch ein paar Bauernschaften. Außerdem gibt es dort das Klostervorwerk Oldekamp.«
Beninga zeigte die Orte auf der Karte an und Rimberti versuchte, sich daran zu erinnern, ob er jemals dort gewesen war.
»Folkmershusen hat einen Hafen«, fuhr der Drost fort. »Das Land ist fruchtbar, der Hafen verzeichnet einen lebhaften Handel. Es gibt tüchtige Handwerker. Insgesamt leben etwas mehr als tausend Menschen in der Herrlichkeit. Was seht Ihr mich an, verehrter Doktor Rimberti? Vermutlich seid Ihr dort schon gewesen und kennt Hillersum durch eigene Anschauung.«
»Ich frage mich: Warum verkauft jemand ein so blühendes Territorium mit diesen wirtschaftlichen Möglichkeiten?«
»Der Besitzer der Herrlichkeit ist Häuptling Eilert Nanninga. Er hat viele Schulden. Durch seine Frau fallen ihm Güter in der Nähe von Oldenburg zu. Dorthin möchte er sich zurückziehen. Er will mit den Geldern für den Verkauf seine Schulden begleichen, und mit dem Rest will er behaglich leben.«
Rimberti zwinkerte Beninga zu. »Das bedeutet, dass in ein paar Jahren ein paar Güter zum Verkauf stehen, um Schulden zu begleichen.«
»Das soll dann nicht mehr unsere Sorge sein«, mischte sich Graf Enno ein.
»Und was ist Eure Sorge?«, fragte Rimberti.
»Die Herrlichkeit Hillersum liegt in der Grafschaft Ostfriesland«, stellte Enno fest. »Es gibt drei Kaufgebote. Eines stammt von mir, und eines stammt von Häuptling Manninga aus Pewsum. Ich denke, wir beide werden uns einigen können.«
»Und der dritte Bieter?«, fragte Rimberti. Er wusste, dass jetzt das Problem kam.
»Das dritte stammt von einem auswärtigen Hof.«
»Und er bietet mehr.«
»So ist es«, antwortete Enno kleinlaut.
»Karl von Geldern hat sein Interesse an der Herrlichkeit Hillersum bekundet«, erklärte Eggerik Beninga. »Wir haben Hinweise, dass es Verhandlungen zwischen ihm und Junker Balthasar von Esens gibt. Wir befürchten, dass die beiden sich verbünden wollen. Mein Vater hat vor vier Jahren Krieg gegen Balthasar geführt. Es gibt Hinweise darauf, dass Balthasar einen neuen Angriff plant. Er hat neue Truppen anwerben lassen, und es häufen sich Nachrichten von Überfällen auf Kaufleute und Handelsschiffe. Erst vor einer Woche hat er ein Schiff aus Emden aufgebracht, beladen mit Bier, Speck und einer großen Lieferung Salz. Bei einem nächsten Waffengang hätte Balthasar einen mächtigen Verbündeten: Herzog Karl von Geldern. Und die beiden hätten einen Stützpunkt mit Hafen und gut befestigter Burg mitten in unserem Land.«
»Ihr habt den Kaiser um Vermittlung angerufen, und er hat mich entsandt, damit ich ein juristisches Gutachten erstelle«, stellte Rimberti fest.
»Es sind mehrere Fragen zu bedenken«, entgegnete der Drost. »Es geht um die Frage, in welchem rechtlichen Verhältnis der Besitzer einer ostfriesischen Herrlichkeit zum ostfriesischen Grafen steht. Kann ein auswärtiger Regent wie Herzog Karl von Geldern überhaupt Besitzer einer ostfriesischen Herrlichkeit sein?«
»Verzeiht«, unterbrach Rimberti, »aber dahinter steht ja die Frage, ob die Herrlichkeiten überhaupt Bestandteil der Grafschaft Ostfriesland sind. Graf Ulrich nannte sich ›Graf in Ostfriesland‹ und nicht ›von Ostfriesland‹.«
Graf Enno spürte, dass seine Autorität in Zweifel gezogen wurde, auch wenn er nicht genau verstand, um welche Frage es ging. »Man merkt Euch an, dass Ihr in einer Herrlichkeit aufgewachsen seid, Doktor Rimberti. Aber die Ära der Häuptlinge ist zu Ende. Vorbei sind die Zeiten, wo die Häuptlinge sich gegenseitig befehden und Unglück über das Land und seine Einwohner bringen.«
Rimberti entgegnete dem Grafen freimütig: »Ihr braucht ein juristisches Gutachten, das den Verkauf der Herrlichkeit an Balthasar oder an Karl von Geldern für unrechtmäßig erklärt.«
Graf Enno legte Rimberti die Hand auf die Schulter. »Wir sprechen die gleiche Sprache. Und mein Ansinnen ist durchaus nicht unrechtmäßig. Ich habe schon Briefe mit Königin Margarete gewechselt. Sie nimmt als Statthalterin für ihren kaiserlichen Neffen die Regierungsgeschäfte von den Niederlanden aus wahr. Königin Margarete hat im Namen des Kaisers zwei Juristen beauftragt, die Sache im Sinne Herzog Karls von Geldern zu untersuchen.«
»Van Woerden und Haykema?«
»Ihr habt die beiden schon kennengelernt?«
Rimberti nickte.
»Zwei ältere Herren, die man mit einem guten Fässchen Wein und ein wenig Gold wohl in unser Fahrwasser lenken kann«, warf Graf Enno ein.
»Zwei hochgebildete und scharfsinnige Juristen mit viel Lebenserfahrung. Man darf die beiden auf keinen Fall unterschätzen«, entgegnete Rimberti.
»Dann ist da noch die Sache mit Uiterweer«, bemerkte Drost Beninga.
Graf Enno warf Beninga einen finsteren Blick zu. Beninga hielt dem Blick stand.
»Ach, das ist eigentlich keine Sache.« Graf Enno machte eine wegwerfende Handbewegung. »An sich sind die Verhältnisse klar. Mit dem Kloster gehen auch seine Güter in den Besitz des Fiskus über.«
»In Uiterweer liegen drei große Höfe, die Eilert Nanningas Vater dem Kloster Ihlow übereignet hat.« Beninga sprach Rimberti direkt an und überging Graf Ennos Bemerkungen wie die eines ungezogenen Schülers. »Mit dieser Übereignung war eine Bedingung verknüpft. Aus den Einnahmen der Höfe soll ein Priester bezahlt werden, der täglich eine Messe für die Häuptlingsfamilie liest. Und es soll jährlich ein festgelegter Betrag für das Klostervorwerk Oldekamp gestiftet werden. Dort wird ein bisschen Landwirtschaft und Bienenzucht betrieben, und Kranke werden gepflegt.«
»Ihr wollt diese Güter einziehen?«, fragte Rimberti.
Drost Beninga wurde sichtlich verlegen, aber Graf Enno kannte diese Form von Schamgefühl nicht. »Mein lieber Rimberti, große Aufgaben liegen vor uns. Meinem Vater ist es leider nicht gelungen, seine Aufgaben zu erledigen. Schulen müssen gebaut und Wege angelegt werden. Wir müssen den Handel ausbauen. Und dann sind unsere Ansprüche auf Jever und das Harlingerland noch nicht durchgesetzt …«
»Krieg?«
»Doktor Rimberti, ich glaube kaum, dass Euer Brotherr, der Graf von Kringenberg, seine Gegner durch gutes Zureden überzeugt«, belehrte der Graf den Rechtsgelehrten und wies ihn gleichzeitig auf seinen untergeordneten Stand hin.
»Graf August von Kringenberg führt selten Krieg. Seine Feldzüge sind kurz und effizient. In der Regel pflegt er seine Gegner zu kaufen«, erklärte Rimberti, wohlwissend, dass er mit diesen beiläufig ausgesprochenen Worten den Neid Graf Ennos provozierte.
Die Grafschaft Kringenberg verfügte ähnlich wie Ostfriesland über sehr fruchtbare Böden. Darüber hinaus wurde Silber gefördert, und die Tatsache, dass sich im Städtchen Kringenberg zwei bedeutende Handelsstraßen kreuzten, brachte den Handel zu stetiger Blüte. Graf Augusts ungemein kluge Regentschaft tat ihr Übriges, diese kleine Grafschaft sehr reich zu machen. Rimberti dachte sogar einen Moment daran, seinem Dienstherrn den Kauf der Herrlichkeit vorzuschlagen.
»Gibt es Unterlagen, Dokumente, Vorverträge?«, fragte er.
Enno sah Beninga verstohlen an. Beninga erklärte: »Drost Haiko Ibenga hat die Vorverhandlungen geführt. Dabei wurden alte Urkunden gesichtet, und es konnten einige Punkte geklärt werden. Leider stehen uns diese Dokumente zurzeit nicht zur Verfügung. Drost Ibenga hat sie bei sich.«
»Gut, dann werde ich Haiko Ibenga aufsuchen und alles mit ihm besprechen.«
»Das ist leider nicht möglich«, sagte Beninga. »Der Drost hat zum Jahresanfang eine Reise zum Hof nach Brüssel unternommen, und er ist noch nicht zurückgekehrt. Wir haben lange nichts von ihm gehört. Seine Familie hat aber Briefe von ihm erhalten, sodass wir hoffen, dass ihm unterwegs nichts geschehen ist.«
»In diesem Fall hättet Ihr mit Sicherheit eine Nachricht bekommen«, stellte Rimberti fest. Er hoffte, in einem späteren Gespräch unter vier Augen mit Beninga die Dinge erörtern zu können, die ihm rätselhaft vorkamen und die in Gegenwart des Grafen wohl nicht offen angesprochen werden sollten.
»Was willst du?«, herrschte Graf Enno einen Bediensteten an, der verlegen in der Tür stand und von seinem Vorgänger anscheinend zu höchster Zurückhaltung ermahnt worden war.
»Der Amtmann ist hier. Es ist ein Mord geschehen.«
Graf Enno winkte den im Hintergrund stehenden Amtmann herein, der nach einer kurzen Verbeugung gleich zur Sache kam: »Euer Gnaden, ein schreckliches Verbrechen ist geschehen. Kaufmann Sanders wurde ermordet in seinem Kontor aufgefunden.«
»Jakob Sanders?« Graf Enno war sichtlich erschüttert, als der Amtmann mit einem Nicken die Bestätigung gab.
»Sanders ist einer der wohlhabendsten Kaufmänner in Norden«, raunte Beninga Rimberti zu.
Lübbert Rimberti nickte. Ihn ging die Sache eigentlich nichts an.
Kapitel 4
Lübbert Rimberti bewohnte zusammen mit seinem Schreiber drei Kammern in einem Nebengebäude des Hochgräflichen Hauses am Norder Markt. Das erste der beiden großen Zimmer diente Rimberti als Schreibstube. Ein Arbeitstisch mit Gesetzeswerken, Papier und Schreibgerät für ihn sowie ein kleinerer Tisch für seinen Schreiber waren aufgestellt. Das andere große Zimmer stand Rimberti als Schlafzimmer zur Verfügung, während der Schreiber in der kleineren Kammer untergebracht war. Eine Magd, die die Zimmer sehr sauber hielt, aber schlecht kochte, führte den Haushalt für die beiden.
Im schwächer werdenden Tageslicht las Rimberti die wenigen Unterlagen, die über den geplanten Verkauf von Hillersum existierten. Die Gesetzesbücher aus der Bibliothek des Grafen lagen stumm und schwer vor ihm. Rimberti wusste, dass es nicht um Recht, sondern um die Durchsetzung von Ansprüchen ging.
Die Glocken der Stadtkirche St. Andreas läuteten zum Abendgebet. Rimberti erhob sich von seinem harten Stuhl. Er wollte am Abendgottesdienst teilnehmen. Vielleicht würden ihm die Gesänge und Gebete helfen, etwas Abstand zu gewinnen und die Situation mit klarem Verstand zu durchdenken.
Als er das Haus verließ, folgte ihm jemand. Rimberti drehte sich um und erkannte den Bediensteten des Grafen, den dieser am Nachmittag zum Stalldienst abkommandiert hatte.
»Soll ich ein gutes Wort für dich einlegen?«, fragte Rimberti ihn. »Morgen treffe ich mit Graf Enno zusammen. Vielleicht kann ich etwas ausrichten.«
»Das könnt Ihr jetzt schon«, antwortete der Diener verlegen. Man merkte dem groß gewachsenen, an den Schläfen ergrauten Mann an, dass es ihn beschämte, auf die Fürsprache anderer angewiesen zu sein. »Ich bitte Euch, mir ohne Aufsehen zu folgen.«
Rimberti nickte und folgte dem Diener vorsichtig. »Wie lange bist du schon im Dienst des Grafen?«, fragte er.
»Seit einem halben Jahr. Ich war vorher Mönch im Kloster Ihlow. Ich wollte frei sein. Nun bin ich von einem Gottesdiener zu einem Menschenknecht geworden.«
Ennos Bediensteter lotste Rimberti in Richtung Hafen. Dann bog er in eine Lohne, die zum Neueweg führte. Bevor sie die Lohne verließen, schaute der Diener sich um. Weder hier noch auf dem Neueweg war jemand außer ihnen unterwegs. Sie betraten eines der erst vor Kurzem errichteten Häuser in dieser Straße, durch die das Norder Stadtgebiet nach Süden in Richtung Hafen erweitert worden war.
Rimberti war nicht erstaunt, dass Graf Enno in der Upkamer des Hauses auf ihn wartete. Überraschender für ihn war, den Mann wiederzusehen, der neben ihm am Fenster stand: Ulfert Fockena. Er und Rimberti hatten im letzten Jahr Freundschaft geschlossen, als sie im Auftrag Graf Ennos den Tod eines Mönches aufklären und einen Klosterschatz wiederbeschaffen mussten. Fockena war Häuptling einer kleinen Herrlichkeit in der Nähe von Aurich und hatte Ennos Vater, Graf Edzard, viele Jahre als Offizier und Berater gedient. Aus Verbundenheit zu Edzard stand Fockena auch dessen Sohn Enno hin und wieder zur Seite.
Rimberti deutete Fockenas für den Grafen nicht sichtbare Handbewegung als Zeichen, die Wiedersehensfreude nicht allzu deutlich zum Ausdruck zu bringen.
»Ihr wundert Euch vielleicht, verehrter Herr Doktor Rimberti, dass ich Euch noch einmal rufen lasse«, begann Enno mit gespielter Herablassung.
»Euer Diener hat mir nicht gesagt, wer mich erwartet. Er war überaus diskret«, antwortete Rimberti. »Aber ich nehme an, es geht um den Tod dieses Kaufmanns.«
Ulfert Fockena grinste und zwinkerte Rimberti zu, während Graf Enno sichtlich erschrocken war, dass man ihn so leicht durchschaute.
»Nun ja, Ihr habt mir während Eures letzten Aufenthaltes bei der Aufklärung eines rätselhaften Todesfalles geholfen«, setzte Graf Enno wieder an.
»Und er hat Euch den Klosterschatz aus Bendiktshusen zurückgeholt«, unterbrach ihn Fockena mit dröhnender Stimme. Enno drehte sich verärgert zu ihm um.
Rimberti antwortete: »Der Tod des Kaufmanns hat Euch beunruhigt.«
»Jakob Sanders war nicht irgendein Kaufmann. Er genoss in besonderer Weise mein Vertrauen und meine Wertschätzung. Er hat als Delegierter eine Reihe recht vorteilhafter Handelsabkommen für uns abgeschlossen. Er war ein wichtiger Kontaktmann zu den Hansestädten und in den Niederlanden. Seine Schiffe fahren sogar in die Ostsee.«
Rimberti hatte das Gefühl, dass in dieser Aufzählung etwas fehlte, das Ulfert Fockena später gewiss ergänzen würde.
»Ich wäre Euch nicht undankbar«, fuhr Graf Enno fort, »wenn Ihr während Eures Auftrages in Ostfriesland, der sich sicherlich nicht nur in meinem Anliegen erschöpfen wird, sondern gewiss auch Angelegenheiten Eures Landesherrn zum Inhalt haben wird, etwas Licht in diese unerquickliche Angelegenheit bringen könntet.«
Graf Enno wusste, dass Graf August von Kringenberg mehrere Höfe und andere Besitzungen in Ostfriesland zu eigen hatte. Lübbert Rimberti war als Beamter des Grafen für alle Verträge und juristischen Angelegenheiten dieser auswärtigen Besitztümer zuständig und hatte deshalb in größeren Abständen in Ostfriesland zu tun.
Da Rimberti nicht sogleich reagierte, raunte ihm Enno zu: »Es wird gewiss nicht von Nachteil für Euch und für die Angelegenheiten des Grafen August sein.« Graf Enno wusste ebenfalls, dass Graf August von Kringenberg starkes Interesse daran hatte, Handelsschiffe unter seiner Flagge segeln zu lassen, aber über keinen Hafen verfügte. Rimbertis Landesherr war darauf angewiesen, dass Graf Enno ihm einen zur Verfügung stellte. Graf Enno bot also eine Art Geschäft an.
Nun gut, dachte Lübbert Rimberti, das letzte Mal hatte Graf Enno Wort gehalten. Rechtsstreitigkeiten konnten im guten Sinne beigelegt werden, und mit einigen Kaufleuten aus der Grafschaft Kringenberg waren vorteilhafte Handelsverträge abgeschlossen worden.
»Womit hat Sanders gehandelt?«, fragte er.
»Mit allem«, antwortete der Graf eilig.
Rimberti sah ihn an und antwortete nicht.
Enno räusperte sich. »Seine Schiffe haben vor allem Wein, Honig und Obst hergebracht. Tuch und Waffen mitunter auch. Gehandelt hat er mit Korn, Butter, Fleisch und Fisch. Und Salz.«
Der Graf hatte das letzte so betont beiläufig erwähnt, dass Rimberti hellhörig wurde.
»Salz?«, fragte Lübbert Rimberti seinen Freund Ulfert Fockena, als sie nach dem Gespräch mit Graf Enno im Hinterzimmer eines Gasthofes drei Becher Wein und eine große Schüssel Fleischsuppe lang Erinnerungen ausgetauscht hatten. Jetzt waren sie beim vierten Becher Wein und einem gebackenen Huhn in der Gegenwart angekommen.
»Salz«, bestätigte Fockena. »Jakob Sanders wurde in seinem Kontor ermordet. Jemand muss durch das Fenster einen Armbrustbolzen auf ihn geschossen haben. Da Sanders hinter seinem Tisch an der Wand saß, fiel er nicht zu Boden, sondern sackte tot in seinem Stuhl zusammen. Der Mörder hat eine gute Handvoll Salz über ihn gestreut.«
»Das kann auch jemand anders gewesen sein.«
»Vielleicht. Aber vor gut drei Wochen wurde in Oldekamp eine Nonne ermordet. Man hat den Fall nicht weiter untersucht und vermutet einen Einbruchsversuch in das Kloster. Auch sie wurde mit einem Bolzen der Armbrust getötet, und jemand hat die Tote mit Salz bestreut.«
»Wer sollte in ein Kloster einbrechen?«, fragte Rimberti. »Graf Enno hat die Klöster und Kirchen doch gründlich ausgeplündert. Da gibt es nun wirklich nichts mehr zu holen.«
»Und schon gar nicht im Klostervorwerk Oldekamp«, antwortete Ulfert Fockena und wischte mit einem Stück Brot die Schüssel aus. »Dort gibt es nur Bienen und ein bisschen Ackerland. Ein paar Kranke werden gepflegt, und ein paar Handschriften werden angefertigt. Kein lohnendes Ziel für einen Räuber. Wozu sollte auch jemand am helllichten Tag mit einer solchen Waffe dort einbrechen?«
»Sehe ich das richtig, dass der Graf auch dich mit der Lösung des Falles beauftragt hat?«
»Es gibt keinen Fall. Jakob Sanders war einer der reichsten Kaufmänner Ostfrieslands. Offiziell ist er bei einem …«
»Er ist bei einem Einbruch getötet worden. Ja?«, unterbrach Lübbert Rimberti den Freund.
»So ist es. Eggerik Beninga soll Erkundigungen einziehen, und wir sollen ihm dabei helfen«, bestätigte Fockena.
»Dafür, dass es eigentlich kein Fall ist, betreibt Graf Enno ja einen ziemlichen Aufwand.«
»Sanders war mit der Abwicklung der Kirchenschätze beauftragt. Er hat für Graf Enno einen Großteil der Wertgegenstände aus den Klöstern und Kirchengemeinden zu Geld gemacht.«
Einen Moment schwiegen die Freunde und widmeten sich dem gebackenen Huhn. Im letzten Jahr hatte Graf Enno begonnen, unter dem Deckmantel des evangelischen Glaubens alle Schätze und Wertgegenstände aus Kirchen und Klöstern einzuziehen. Ganze Wagenladungen mit Kelchen, Leuchtern, kostbar eingefassten Büchern, Monstranzen, Messgewändern und anderen Wertsachen hatte er durch seine Leute beschlagnahmen lassen, die sogleich einen erheblichen Teil der Kirchenschätze als Aufwandsentschädigung für sich abgezweigt hatten.
»Also: zuerst die Nonne oder den Kaufmann?«, fragte Rimberti.
Ulfert Fockena grinste. »Zuerst den Kaufmann, der ist noch frisch.«
Kapitel 5
Rinelde Sanders blickte einen Moment auf, als Lübbert Rimberti und Ulfert Fockena in den Raum geführt wurden. Die Witwe des ermordeten Kaufmanns war eine große, schwere Frau mit teigigem Gesicht. Ihre Haare waren ganz unter der enganliegenden Haube verschwunden, was ihr Gesicht noch runder wirken ließ. Mit Herablassung hörte sie sich die Beileidsbekundungen der beiden an und beugte sich wieder über ihre Papiere.
»Ich danke Euch für Euer Mitgefühl«, sagte sie tonlos und tauchte die Feder in die Tinte. »Mein Mann hatte natürlich keine Gelegenheit, uns ein bestelltes Haus zu hinterlassen. So ist es meine Aufgabe, alles zu ordnen. Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr Euer Anliegen gleich vorbringen würdet. Ich habe viel zu tun.« Kratzend schrieb Rinelde Sanders etwas auf ihr Papier und blickte dann Fockena und Rimberti ungeduldig an.
»Verzeiht, dass wir Euch an einem so jammervollen Tag mit Fragen belästigen müssen«, begann Ulfert Fockena salbungsvoll. »Aber Graf Enno schätzte Euren Gatten als Freund und als Kaufmann. Ihm ist sehr daran gelegen, den Mörder schnell zu finden und zu bestrafen.«
Rinelde Sanders legte die Schreibfeder beiseite und nickte. »Stellt Eure Fragen.«
»Ist etwas aus dem Kontor Eures Mannes entwendet worden?«, fragte Lübbert Rimberti.
Rinelde Sanders schüttelte den Kopf. »Davon weiß ich nichts. Mein Mann hatte sein Geld gut versteckt und verschlossen. In seinem Kontor hatte er immer nur ein paar Münzen in einem Schrankfach. Und die sind noch alle da.«
»Ihr hattet schon Gelegenheit, Euch davon zu überzeugen?«, fragte Rimberti so höflich wie möglich.
Rinelde Sanders’ Blick wurde eisig. »In unserem Kontor wimmelt es von Kunden und Bediensteten. Da sollte niemand in Versuchung geführt werden.«
Es polterte an der Tür, und ein hagerer Mann mit rotem Gesicht stolperte herein. Die Kleidung aus elegantem schwarzem Tuch passte nicht zu seiner ungepflegten Erscheinung. Das Haar stand nach allen Seiten ab, der Bart war seit Tagen nicht gestutzt und die Kleidung an Brust und Bauch bekleckert.
»Schwager Berend, was habt Ihr hier zu suchen?«, fragte Rinelde Sanders mit tadelndem Unterton.
»Ich wollte nachsehen, wie es mit Euch steht, liebe Schwägerin«, brachte der Mann mit schwerer Zunge vor.
»Immerhin sehe ich, dass Ihr noch steht. Das ist um diese Tageszeit schon sehr bemerkenswert, lieber Schwager«, entgegnete die Witwe schroff.
»Ich …« Der Mann suchte nach Worten. »Er war nicht nur Euer Mann, er war auch mein geliebter Bruder.« Tränen standen in seinen geröteten Augen. Er schniefte und wischte sich mit dem Ärmel die Nase.
Für einen Moment schien Rinelde Sanders von Mitleid berührt. »Ich danke Euch für Euren Besuch. Wir reden später.«
Der Mann druckste. »Auch wenn das jetzt etwas unpassend ist: Vielleicht könnt Ihr mir aus einer kleinen Verlegenheit helfen. Dringende Geschäfte, versteht Ihr?«
Rinelde Sanders’ Gesicht wurde hart. Wortlos griff sie in einen Lederbeutel und holte ein paar Münzen heraus, die sie auf die Tischkante legte. Sie sah nicht hin, als ihr Schwager sich mit ungelenkem Schritt näherte und die Münzen umständlich von der Tischkante nahm.
»Dank Euch für die Hilfe«, sagte Berend Sanders mit übertriebener Ergebenheit. »Ihr könnt Euch auf mich verlassen. Ich werde in dieser schweren Zeit unerschütterlich zu Euch stehen.« Er deutete eine Verbeugung an und schwankte hinaus.
»Auch das ist ein Erbteil, welches mein Mann mir hinterlässt«, erklärte Rinelde Sanders ungerührt.
»Wird er etwas erben?«, fragte Ulfert Fockena.
»Nein. Mein Schwiegervater hat das Geschäft Jakob hinterlassen. Berend ist der Ältere. Aber er hat es nie zu etwas gebracht. Berend hat beim Tod meines Schwiegervaters eine Leibrente und lebenslanges Wohnrecht im Elternhaus bekommen. Dieses Erbe kann er nicht versaufen. Mein Schwiegervater war ein weiser Mann. Das Elternhaus selbst ist dem Kloster Ihlow überschrieben worden und wird nach Berends Ableben ganz dem Kloster zugutekommen. Es gibt noch einen dritten Bruder. Er heißt Konrad und ist auf eigenen Wunsch in dieses Kloster eingetreten. Er ist dort Bibliothekar.«
»Und mit dem Haus hat er sich gewissermaßen in das Kloster eingekauft«, stellte Ulfert Fockena fest.
»Es bedarf schon eines gewissen Wohlstandes, um das Armutsgelübde ablegen zu können«, erwiderte Rinelde Sanders.
»Jemand hat Salz auf Euren Mann gestreut. Habt Ihr eine Vermutung, was das zu bedeuten hat?«, fragte Lübbert Rimberti. »Hat Euer Mann auch mit Salz gehandelt?«
»Mein Mann hat zusammen mit Hilko Boyen mit Salz gehandelt«, antwortete die Witwe. »Das meiste Salz wird verkauft. Das Fleisch wird damit eingepökelt und überallhin verkauft. Aber etliche Fässer mit Salz verkaufen wir auch nach Westfalen oder verschiffen es in die Ostsee. Und nun, meine Herren, bitte ich Euch, mich allein zu lassen. Ich trauere um meinen Mann und bitte um Euer Verständnis.«
Rimberti und Fockena erhoben sich und verließen den Raum. Als Rimberti sich noch einmal zu Rinelde Sanders umwandte, um ihr einen Abschiedsgruß zu entbieten, war sie schon wieder in ihre Arbeit vertieft und schrieb mit ihrer Feder auf das Papier.
»Da stimmt doch etwas nicht«, sagte Ulfert Fockena, nachdem er den Bierkrug mit einem Zug bis zur Hälfte geleert hatte. »Da wird ihr Mann am helllichten Tag ermordet, und sie sitzt ungerührt da und macht ihre Bestandsaufnahme. Und auf keine Frage hat sie eine Antwort.«
»Nicht so laut«, raunte Lübbert Rimberti seinem Freund zu und sah sich in der Gaststube um. Aber niemand schien Interesse daran zu haben, ihrem Gespräch zuzuhören.