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»Und doch trauert sie. Das habe ich deutlich gespürt. Vielleicht trauert sie um ihren Mann, aber ich habe das Gefühl, dass da noch eine andere Trauer ist. Und darüber will sie nicht reden.« Ulfert Fockena grinste. »Glaub mir! Ich verstehe etwas von Frauen.«
Lübbert Rimberti deutete mit einer Kopfbewegung in den hinteren Teil der Gaststube. An einem der Tische im Halbdunkel saß Berend Sanders. Er sprach angeregt mit einem schwarzbärtigen Mann, der in dunkelgrünes Tuch gekleidet war. Der Mann schien Berend Sanders mit einem Anliegen zu bedrängen. Sanders hob mehrere Male abwehrend die Hände und erwiderte etwas. Dabei schüttelte er den Kopf.
Schließlich stand der Mann auf und verließ den Schankraum. Rimberti sah, dass eine Narbe über seine Wange bis unter das Auge lief. Der schwarze Bart verbarg die Entstellung des Gesichts nur teilweise.
»Wir sollten uns um den trauernden Bruder kümmern«, raunte Ulfert Fockena. »Ich übernehme das Trinken und du das Trauern.«
»Dürfen wir Euch unser Beileid aussprechen?«, sagte Lübbert Rimberti, als er und Ulfert Fockena vor Berend Sanders standen.
»Ich danke Euch«, sagte Sanders, sein Desinteresse kaum verbergend.
»Dürfen wir Euch zu einem Trunk auf das Wohl Eures Bruders einladen?«, fragte Fockena.
»Ich danke Euch«, antwortete Sanders sichtlich erfreut, und die Augen leuchteten wie seine rote Nase.
»Es ist sicherlich nicht einfach für Euch«, sagte Rimberti, während er der Bedienung ein Zeichen gab.
»Nein, gewiss nicht«, erwiderte Sanders und stieß laut hörbar auf. Eine Dunstwolke sauren Atems hüllte Rimberti ein, der sich gerade vorgebeugt hatte, um mit dem Mann ins Gespräch zu kommen.
Die Schankmagd kam und wischte mit einem dreckigen Tuch über den Tisch. Dann brachte sie drei große Bierkrüge.
»Auf unsere Lieben, die wir vermissen.« Ulfert Fockena hob den Krug und nickte Sanders zu.
»Jau«, murmelte Sanders, der schon den Krug an den Mund gesetzt und mit dem Trinken begonnen hatte.
»Ein schmerzlicher Verlust«, bemerkte Fockena, der einen großen Schluck genommen hatte. »Nun kommt eine große Verantwortung auf Euch zu.«
Das Geräusch, das Sanders von sich gab, konnte als Zustimmung, aber auch als erneutes Aufstoßen gedeutet werden.
Lübbert Rimberti betrachtete Berend Sanders. Sein Gesicht war nicht nur aufgedunsen von übermäßigem Essen und Trinken. In seine Züge war die Bitterkeit tief eingegraben, der Gram eines Mannes, der immer im Schatten des Bruders leben musste, und der daran gewöhnt war, im Hintergrund zu stehen und sich mit dem zu begnügen, was übrig blieb.
Lübbert Rimberti wusste plötzlich, wie er mit Sanders ins Gespräch kommen konnte. Während Fockena der Wirtin erklärte, was sie nun zu bringen hatte, begann er: »Der Mord an Eurem Bruder kommt für Euch nicht ganz unerwartet. Habe ich recht? Ihr habt geahnt, dass es einmal so enden würde.«
Berend Sanders glotzte ihn an.
»Hätte Euer Bruder öfter auf Euch gehört, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen«, sagte Rimberti.
»Was wisst Ihr?«, fragte Sanders lauernd.
In diesem Moment stellte die Wirtin einen großen Teller mit Brot und kaltem Braten auf den Tisch, und die Magd brachte drei Zinnbecher und eine Kanne mit dunkelrotem Wein. Fockena schenkte Sanders und sich ein und erhob den Becher. Sanders trank seinen in einem Zug fast leer und schenkte sich selbst nach.
»Ich weiß, was ich sehe«, antwortete Rimberti und nahm einen kleinen Schluck aus seinem Bierkrug. »Ich sehe vor mir einen Mann in den besten Jahren, der bisher nur wenig Gelegenheit hatte, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Nun kommen große Aufgaben auf Euch zu: die Verantwortung für das Geschäft, die Sorge um Eure Schwägerin. Ihr seid nicht zu beneiden. Das alles ruht jetzt auf Euren Schultern. Doch Eure Schultern sind stark genug. Ein Mann ohne Eure Erfahrung wäre dem sicher nicht gewachsen. Aber Ihr werdet es schaffen.«
Staunend hatte Berend Sanders zugehört. Den Becher, den er erneut zum Trinken erhoben hatte, stellte er zurück auf den Tisch. »Jakob konnte den Hals nicht voll genug kriegen. Das war schon immer so.«
Nun kam das, was Rimberti und Fockena erwartet und erwünscht hatten. Berend Sanders erzählte seine Geschichte, die Geschichte des zu kurz gekommenen älteren Bruders, der nicht so begabt, nicht so durchsetzungsfähig, nicht so gut aussehend, nicht so rücksichtslos, nicht so verschlagen war wie der jüngere Bruder, auf den immer die Augen der Eltern gerichtet gewesen waren.
Natürlich hatte Jakob die bessere Ausbildung in auswärtigen Kontoren in Hamburg, London und Antwerpen genossen, während Berend zu Hause lediglich Schreibarbeiten und Botengänge verrichtet hatte. Natürlich war Jakob bei seiner Rückkehr vom Vater in die Leitung des Handelshauses aufgenommen und bei Verhandlungen und Vertragsabschlüssen beteiligt worden, und Berend war nur mit Aufgaben betraut worden, die wenig Verantwortung und Eigeninitiative erforderten. Berend musste die wenig versprechende Tochter eines entfernten Verwandten heiraten, die unter die Haube gebracht werden sollte. Jakob heiratete die reiche und selbstbewusste Rinelde, deren Vater mehrere Schiffe besaß.
Als die Wirtin die zweite Kanne mit schwerem süßem Wein brachte, hatten Rimberti und Fockena genug gehört.
»Salz.«
»Salz?«, fragte Sanders erstaunt zurück und sah Lübbert Rimberti an, während Ulfert Fockena ihm und sich selbst nachschenkte.
»Salz«, wiederholte Rimberti. »Auf Euren toten Bruder hat jemand Salz geschüttet. Habt Ihr dafür eine Erklärung?«
Berend Sanders zuckte mit den Achseln. Nun, da es nicht mehr um ihn ging, sondern um seinen Bruder, verfiel er wieder in Lethargie. »Vielleicht hat der Einbrecher bei seiner Flucht ein Salzfass umgestoßen, was weiß ich«, murmelte er beiläufig.
»Euer Bruder hat mit Salz gehandelt?«, fragte Rimberti.
»Friesensalz«, antwortete Sanders. »Wir haben eine Salzbude in Westermarsch, aber das meiste kommt von Bant. Dort haben wir zwei Salzbuden gepachtet. Ich muss hin und wieder auf die Insel fahren, um nach dem Rechten zu sehen. Ein Wunder, dass mein kleiner Bruder mir so viel Verantwortung zugetraut hat.« Wieder war die Bitterkeit in seiner Stimme. Er stopfte sich ein Stück Bratenfleisch in den Mund und spülte es mit Rotwein hinunter. »Aber mein Herr Bruder hatte so seine kleinen Geheimnisse.«
Erwartungsvoll sahen Rimberti und Fockena ihn an. Sanders lehnte sich behaglich zurück und trank den Becher leer. Rimberti schenkte ihm nach. Er konnte warten. Er wusste, dass Berend Sanders das Interesse an seiner Person genoss. Der Mann würde ihnen ein paar Informationen liefern müssen, um diese Aufmerksamkeit zu erhalten.
»Manchmal trafen spät abends Männer ein. Und wenn ich im Kontor war, ließ er sie warten, bis ich weg war. Ich habe nie etwas von dem mitbekommen, was sie besprochen haben. Manchmal brachte ein Bote einen Brief. Der Bote gab ihn nicht etwa mir. Bestand immer darauf, den Brief nur meinem Bruder persönlich aushändigen zu dürfen. Man kann sich ja denken …« Mit verschwörerischem Blick nahm Sanders den Weinbecher und trank.
»Ja?«, fragte Fockena.
Berend Sanders stutzte einen Moment. Vermutlich hatte er keine Ahnung, worum es in diesen Angelegenheiten gegangen war. Er druckste ein wenig. »Für Rinelde war das auch nicht immer einfach. Wenn ich da nicht hin und wieder mit Rat und Tat …« Geräuschvoll stieß Sanders auf. Er schien das Befremden auf Fockenas und Rimbertis Gesichtern zu genießen.
»Was denkt Ihr, wie das ohne mich gegangen wäre?«, setzte er wichtigtuerisch fort. »Neulich war mein Herr Bruder über ein halbes Jahr fort. Und niemand wusste, wo Jakob war. Nur seinen Knecht hatte er bei sich. Rinelde tat so, als wüsste sie genau, wo Jakob ist. Aber ich habe gemerkt, dass da etwas nicht stimmt. Sie antwortete immer ausweichend. Vor ein paar Wochen war er plötzlich wieder da. Er sah hundeelend aus und gab vor, auf der Geschäftsreise schwer krank geworden zu sein.«
»Und? Wo ist er gewesen?«, fragte Rimberti, während Fockena Sanders wieder einen gefüllten Becher zuschob.
»Kein Wort hat er gesagt. Nix«, sagte Sanders, dessen Blick immer glasiger wurde und dessen Gesichtsfarbe immer mehr der des Weines ähnelte. »Und der Knecht war nicht mehr bei ihm. Jakob sagte, sein Knecht sei in die neue Welt gegangen. Er wollte sein Glück im Goldland machen. Mein Bruder hatte Verbindungen zu den Welsern in Augsburg. Der Kaiser hat dieser Familie die Statthalterschaft über ein riesiges Gebiet in der neuen Welt überlassen.« Sanders rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Gegen Bares natürlich. Viele vermuten dort das Goldland. Kein Wunder, dass viele Abenteurer und Taugenichtse dort reich werden wollen.«
Rimberti hoffte, dass Berend Sanders noch so lange klar im Kopf blieb, bis er Antworten geliefert hatte. »Und Euer Bruder hat nie darüber geredet, wo er gewesen ist und was passiert ist?«
»Darüber hat er nich’ mit mir gesprochen«, antwortete Sanders. Er machte ein Schmollgesicht. »Er brauchte ein paar Wochen, um sich zu erholen, und so ganz der Alte war er bis zuletzt nicht.«
»Nun wird ja alles anders«, brummte Ulfert Fockena und prostete Sanders zu.
Sanders lächelte dümmlich. Der schwere Wein stieg ihm zu Kopf.
Was Rimberti wissen wollte, musste er jetzt aus ihm herausholen. Ein paar Weinbecher später würde dazu keine Gelegenheit mehr sein. »Vorhin habt Ihr mit einem Mann gesprochen. Ich meine, dass ich ihn von irgendwoher kenne. Aber ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern.«
»Ich weiß nich’, von wem Ihr redet.« Sanders schüttelte den Kopf.
Aber Rimberti wollte diese Information unbedingt von ihm haben. »Der Schwarzbärtige mit der Narbe im Gesicht. Ihr habt Euch laut mit ihm unterhalten, und er hat mich noch im Vorbeigehen gegrüßt.«
»Keine Ahnung. Er hatte irgendein Geschäft mit mei’m Bruder.« Berend Sanders fing an zu lallen. »Ich hab gar nich’ verstanden, was er wollte. Das sind die Sachen von mein’ Bruder. Da will ich nix mit zu tun haben. Damit is’ jetz’ Schluss. Aus un’ vorbei. Nu’ bin ich der Kaufmann Sanders.«
Kapitel 6
»Ich glaube kaum, dass Euch das etwas angeht. Schlaft erst einmal Euren Rausch aus!«, herrschte Rinelde Sanders Rimberti und Fockena an, die am frühen Morgen nach der durchzechten Nacht reichlich angeschlagen im Kontor standen.
»Tjark Andreesen, begleite die beiden Herren zum Ausgang«, sagte sie beiläufig und verharrte dann einen Moment, weil der Angesprochene nicht auf ihre Anweisung reagierte.
Am Fenster saß ein Junge, der etwa vierzehn Jahre alt sein mochte. Er war von kräftiger Gestalt und hatte blitzende hellblaue Augen. Seine blonden Locken ringelten sich lustig auf dem Kopf und um die Ohren. Tjark hatte Frau Rinelde nicht gehört. Er sah aus dem Fenster. Ein Junge in seinem Alter trieb draußen ein paar Kühe am Haus vorbei.
»Tjark!«, fuhr Rinelde Sanders den Jungen an, der sofort zusammenschrak. »Bist du in Gedanken wieder auf deinem Hof? Am besten wärst du geblieben, wo du herkommst. Nur weil mein Mann deinem Vater einen Gefallen schuldig war, sitzt du hier im Kontor und hast die Möglichkeit, eine Ausbildung zu erhalten, von der deine Brüder nur träumen können. Und du schaust den Kühen hinterher? Eine Schande bist du, Tjark Andreesen. Da, wo andere ihren Verstand im Kopf haben, hast du nichts als eine Fuhre Schweinemist. Ich weiß nicht, warum ich dich nicht sogleich aus dem Haus jage.«
Der Junge lief rot an vor Scham und erhob sich zögernd. Rimberti sah seine ungeschickten Bewegungen, er erkannte aber auch die klugen Augen, die alles sehr genau wahrnahmen, und eine Beherrschtheit, die der Junge schon lange verinnerlicht hatte. Sie half ihm wegzustecken, dass er von der Herrin vor zwei Männern bloßgestellt wurde.
»Ja, gewiss …« Tjark Andreesen nickte und wollte weitersprechen, aber Rinelde Sanders hatte die Tür lautstark geschlossen.
»Wir wollten dich nicht in eine unangenehme Situation bringen.« Ulfert Fockena klopfte dem Jungen auf die Schulter.
»Es ist …« begann Tjark, und Ulfert Fockena setzte den Satz fort.
»Es ist genau, wie die Herrin sagte. Du bist hier nicht glücklich.«
»Ich schäme mich dafür. Mein großer Bruder würde von einem solchen Leben träumen: Papiere, Zahlen, Buchstaben, Bücher, Listen, Briefe. Seht, mit was für einer Krakelschrift ich mich durch die Zeilen quäle. Ich schreibe so, wie mein Bruder pflügt.«
»Aber nicht er sitzt hier, sondern du«, stellte Lübbert Rimberti fest.
Tjark nickte. »Er ist der Ältere, und er übernimmt den Hof. So haben es die Eltern bestimmt. Obwohl Frerk nur ein Jahr älter ist.«
»Bei Esau und Jakob waren es vermutlich nur wenige Augenblicke«, bemerkte Rimberti.
»Ich werde meine Lehre zu Ende machen und lerne so viel, wie ich kann. Und dann muss es weitergehen, wie Gott, der Herr, es will«, schloss Tjark.
»Aber der Wille des himmlischen Vaters ist nicht immer derselbe wie der Wille des irdischen Vaters«, sagte Rimberti.
»Ich bringe Euch zur Tür. Danke für Eure freundlichen Worte«, sagte Tjark niedergeschlagen.
»Moment noch«, erwiderte Ulfert Fockena mit gedämpfter Stimme. »Euer Kaufmann war lange Zeit verreist.«
Tjark blinzelte gewitzt. »Ihr seid die Männer, die im Auftrag des Grafen Erkundigungen einziehen.«
Fockena fiel es schwer, seine Stimme gedämpft zu halten. »Woher weißt du …?«
»Ich bin vielleicht dumm«, antwortete Tjark. »Aber ich bin nicht doof. Ich bekomme mehr mit, als die Sanders’ ahnen. Der Kaufmann war viele Wochen fort. Und seine Frau wusste nicht, wo er war. Obwohl sie immer vorgab, es zu wissen.«
»Und du weißt, wo er war.«
»Niemand wusste das, und der Kaufmann hat nie auch nur ein Wort darüber verlauten lassen. Niemand von uns durfte davon sprechen. Schnitt einer von uns aus Neugierde oder aus Zufall das Thema an, lenkten der Kaufmann und seine Frau das Gespräch gleich auf ein anderes. Oder sie gaben uns deutlich zu verstehen, dass wir nicht zu fragen, sondern nur auf ihre Fragen zu antworten hätten.«
»Könnte jemand etwas wissen?«
»Hilko Boyen. Er hat oft mit dem Kaufmann zusammengearbeitet. Meistens waren das die großen Geschäfte, die für einen allein nicht zu schaffen waren. Ich bin ja noch nicht lange hier, obwohl es mir schon zu lange vorkommt. Wenn einer etwas weiß, dann ist es Hilko Boyen.«
»Hast du einen Verdacht?«, fragte Fockena lauernd.
»Ich habe wirklich keine Ahnung. Aber als der Kaufmann hier war, war er verändert. Er wirkte auf einmal so anders.« Der Junge suchte nach Worten. »Er wirkte, als ob er in den Wochen um Jahre gealtert wäre. Im Kontor war er manchmal fahrig. Mitunter kam er gar nicht ins Kontor, und manchmal ging er tagsüber für längere Zeit fort.«
»Gab es ein besonderes Ereignis vor der Reise deines Kaufmanns?«, wollte Rimberti wissen.
»Nein.« Tjark Andreesen rieb seine sommersprossige Nase. »Es war eigentlich alles so wie sonst auch.« Er sah zu Boden.
»Was überlegst du? Es muss vielleicht gar nichts Außergewöhnliches sein. Gab es eine Angewohnheit deines Herrn, die dir aufgefallen ist, auch wenn sie dir nicht der Rede wert zu sein scheint? Kamen Leute zu ihm? Hat er etwas verändert? Eine Gewohnheit vielleicht?«
»Der Kaufmann hat sich oft mit Freunden getroffen. Nicht hier im Haus, nur zweimal waren sie hier, und da wurde ich weggeschickt.«
»Weißt du, wo diese Treffen stattfanden?«
»Im alten Speicher am Hafen. Und als der im letzten Herbst abgebrannt ist, trafen sie sich in einem anderen Speicher. Dort war auch ein kleines Kontor eingerichtet. Ich nehme an, dass sie dort zusammensaßen.«
»Das nimmst du an, aber du weißt es nicht?«, unterbrach ihn Rimberti. »Kennst du denn jemanden, der zu diesen Treffen kam?«
»Nein. Ich bin einige Male mit dem Kaufmann gegangen und habe den großen Korb mit Essen und Trinken getragen. Aber der Kaufmann hat mich nicht mit hereingelassen. Vor der Tür hat er mich wieder nach Hause geschickt und hat selbst den Korb mitgenommen.«
»Ein Mann mit einer Gesichtsnarbe unter schwarzem Bart – trieb der sich ab und zu hier herum?«, fragte Rimberti.
Tjark nickte. »Ich habe so einen Mann zweimal gesehen. Aber der gehörte nicht zu den Freunden, mit denen sich mein Kaufmann traf. Einmal wartete der Mann mit der Narbe vor dem Haus, als ich hinausging, um einen Botengang zu erledigen. Ich wollte umkehren, weil ich noch etwas vergessen hatte. Da sah ich, dass dieser Mann hineinging, ohne zu klopfen. Ein anderes Mal war ich noch am späten Abend damit beschäftigt, einen Vertrag abzuschreiben. Beim Aufsetzen des Vertrages hatte ich einen Fehler gemacht und musste nun alles noch einmal schreiben. Da betrat der Mann das Kontor. Und als er mich sah, eilte er gleich durch den Raum in die Wohnung des Kaufmanns. Da kam nach wenigen Augenblicken der Bruder des Kaufmanns zu mir und sagte, ich solle für heute Schluss machen.«
»Du hast ein gutes Gedächtnis«, lobte ihn Fockena.
Plötzlich stand Rinelde Sanders in der Tür. »Habe ich etwa gesagt, du sollst die Herren mit deinen Bauernreden aufhalten? Was bist du für ein ungezogener Tölpel! Geh sofort wieder an deine Arbeit. Auch ohne Ablenkung brauchst du dafür schon zu lange.«
»Du hast uns sehr geholfen«, sagte Fockena. »Vielleicht können wir dir auch noch einmal von Nutzen sein.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Tjark.
Kapitel 7
Hilko Boyen bewohnte ein prächtiges Haus mit Kontor in der Nähe des Norder Hafens. Sonntags hielt er sich meist bei den Eltern seiner Frau auf, die in dem Dorf Wilsum in der Nähe von Norden lebten.
Rimberti hatte dort durch einen Boten ihren Besuch für die Zeit nach dem Gottesdienst ankündigen lassen. Nun aber waren er und Fockena so gut auf der halbwegs passierbaren Straße vorangekommen, dass der Gottesdienst noch längst nicht zu Ende war, als sie an der Kirche vorbeikamen.
Sie gingen leise hinein. Der Pfarrer stand vor dem Altar und sprach mit der Gemeinde das Glaubensbekenntnis in deutscher Sprache. Er trug nicht das bunte Messgewand des Priesters, sondern einen schwarzen Talar mit einem weißen Kragen. Bevor der Pfarrer vom Altar wegtrat und die Gemeinde das nächste Lied sang, nickte er einem anderen Mann zu, der ebenfalls in Schwarz gekleidet war und nun gemessenen Schrittes auf die Kanzel zuging.
Lübbert Rimberti und Ulfert Fockena blieben im halbdunklen hinteren Teil der Kirche. Sie versuchten, den Kaufmann Hilko Boyen auszumachen, und sahen, dass in der Nähe der Kanzel zwei Priechen aufgebaut waren: Sitzplätze, die mit einer Art Holzgehäuse verkleidet waren, um sie von der übrigen stehenden Gemeinde ein wenig abzuschirmen. Rimberti sah wohlhabend gekleidete Familien dort sitzen. Da er Boyen nicht kannte, konnte er nur vermuten, dass der mit seiner Frau und den zwei Söhnen in der Prieche gegenüber der Kanzel saß.
Als der Prediger die Kanzel bestieg und sich der Gemeinde zuwandte, war Rimberti überrascht: Es war Andreas Karlstadt. Rimberti hatte ihn seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen. Er kannte Karlstadt aus seiner Wittenberger Studienzeit, und es waren nicht nur gute Erinnerungen, die ihm in den Sinn kamen.
Karlstadt war Professor in Wittenberg gewesen. Er war mit Luther ein wichtiger Streiter für den evangelischen Glauben gewesen. Eigentlich war sein Name Andreas Bodenstein, aber meist ließ er sich nach seinem Geburtsort Karlstadt nennen.
Zu den bewegendsten Erinnerungen Rimbertis an seine Wittenberger Studienzeit gehörte der Weihnachtsgottesdienst 1521 in der Stadtkirche. Luther hatte sich in seinem Versteck auf der Wartburg aufgehalten, und Karlstadt hatte damals die Erneuerung der Kirche weiter vorangetrieben. Die Stadtkirche war voller Menschen gewesen. Nahezu alle Einwohner Wittenbergs mussten gekommen sein, um den ersten Gottesdienst nach evangelischer Ordnung mitzufeiern. Zum ersten Mal hatte Rimberti die Predigt in deutscher Sprache gehört. Und zum ersten Mal hatte er bei der Messe nicht nur die Hostie erhalten, sondern auch den Kelch in die Hand genommen und daraus getrunken. Seine Hände hatten gezittert. Karlstadt selbst hatte als leitender Geistlicher und Prediger in diesem Gottesdienst kein buntes Messgewand getragen, sondern seinen schwarzen Gelehrtentalar.
Rimberti erinnerte sich an Karlstadts Abreise aus Wittenberg. Während Luther sich auf der Wartburg verborgen halten musste, war es in Wittenberg zu Ausschreitungen gekommen. Selbst ernannte Propheten traten auf und nahmen in Anspruch, Offenbarungen Gottes empfangen zu haben. Kirchen wurden geplündert, Bilder und Figuren zerstört.
Man hatte Karlstadt für die Unruhen verantwortlich gemacht und ihm verboten, öffentlich zu predigen. Karlstadt war der Arbeit an der Universität überdrüssig geworden. Damals hatte er sich auf sein Landgut bei Wörlitz zurückgezogen. Rimberti hatte in den Jahren danach immer wieder einige von Karlstadts Schriften gelesen und von dessen unruhigem Wanderleben gehört, bis Karlstadt zuletzt wieder in Gnaden in Wittenberg aufgenommen worden war und mit seiner Familie unter bedrückenden Verhältnissen leben musste.
Warum war Karlstadt hier? Wollte Graf Enno ihm eine Pfarrstelle geben? Oder sollte Karlstadt der leitende Theologe für die anstehende Kirchenreform in der Grafschaft werden?
Die Gemeinde stimmte die letzte Strophe an, und Karlstadt ließ seinen Blick über die Menschen schweifen.
Rimberti betrachtete ihn genau. Gealtert sah Karlstadt aus. Und müde. Rimberti bemerkte, dass einige Männer einander Handzeichen machten. Was hatten sie vor?
»So spricht Christus: Mein Haus ist ein Bethaus und ihr macht eine Mördergrube daraus!« Karlstadt begann seine Predigt. Eine Energie schien ihn zu durchströmen, die seine Worte kraftvoll und lebendig machte.
Mit beiden Händen wies er auf die beiden Nebenaltäre, die dem heiligen Nikolaus und dem heiligen Georg geweiht waren, und fuhr fort: »Diese Bilder sind Lügner und Mörder. Sie trügen euch und töten alle, die sie anbeten. Dass wir sie mit bunten Farben bemalen und mit Gold bekleiden, zeigt, dass wir sie lieben und nicht Gott. Gott hasst Bilder und betrachtet sie als Gräuel. In Gottes Augen werden Menschen das, was sie lieben. Die Bilder der Ölgötzen aber sind widerwärtig, folglich werden auch wir widerwärtig werden, wenn wir sie lieben und anbeten. Es wäre tausendmal besser, die Bilder ständen in der Hölle und im feurigen Ofen als in Gottes Häusern. Sie machen den Tempel Gottes zu einer Mördergrube, denn sie töten unseren Geist und unseren Glauben.«
Karlstadt wurde immer heftiger, und Rimberti musste an den Bildersturm in Wittenberg denken, den er als Zuschauer miterlebt hatte: Grölende Männer zogen durch die Kirchen und warfen mit Steinen und Unrat nach den Priestern, die an den Altären Messen lasen. Mit Äxten wurden Heiligenfiguren zerschlagen und vor der Kirche zusammen mit Büchern und Priestergewändern verbrannt.
»Gott wird dich fragen!« Karlstadt erhob seine Stimme. Eindringlich sah er einzelne Personen in der Gemeinde an. Es war so still in der Kirche, dass Rimberti das schwere Schnaufen von Fockena hinter sich hören konnte.
»Gott wird dich fragen«, wiederholte Karlstadt eindringlich. »Warum kannst du nicht genug bekommen, dass du Bilder und Ölgötzen in meinem Hause stehen lässt? Wie kannst du so dreist sein, dass du dich in meinem Hause vor Bildern verneigst und vor ihnen kniest, obwohl Menschen sie mit ihren Händen gemacht haben? Diese Ehre steht allein mir zu! Ihnen bringst du Opfer und dankst ihnen für Leib und Leben und Gut. Aber sie haben dir nichts gegeben. Alles hast du von mir. Und nun betest du fremde Götter an.«
Atemlos nahm die Gemeinde jedes einzelne Wort auf.
Karlstadt holte einmal tief Luft und sprach dann eindringlich und konzentriert weiter: »So spricht der Prophet Hosea im Namen Gottes zu seinem Volk: ›Ich habe sie ernährt und hochgebracht, aber sie verachten mich.‹ So rennen wir, Schwestern und Brüder, zu den toten Ölgötzen, wie Krähen und Raben sich auf Aas und einen Leichnam stürzen. Wir schmähen Gott in seinem eigenen Haus. Dabei ist es uns geboten, diese Bilder und Götzen aus dem Hause Gottes fortzuschleppen.«
»Die da vorn führen doch etwas im Schilde«, brummelte Fockena. Er knuffte Rimberti in die Seite und nickte zu den Männern hin, die vorn bei den Nebenaltären standen und zwischendurch Blicke austauschten.