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An der Volksschule erlebt Reiner Kunze Antreten, Trommeln, Fanfaren, Hakenkreuzfahnen. Die Appelle und Aufmärsche gehören dazu. Wie alle anderen ist er in der Hitlerjugend.
Ich ging in Oelsnitz in die Volksschule. Dort habe ich zum ersten Mal erlebt, was eine Generation später Utz Rachowski auf der Oberschule in Reichenbach erlebte – nur mit anderen Uniformen: Jeden Montag Fahnenappell. In dem Buch „Die wunderbaren Jahre“ habe ich darüber geschrieben.
Reiner Kunze sagt, eigentlich sei er kein besonders guter Schüler gewesen, weder im Rechnen noch im Sport. Hervorgetan habe er sich mit dem Sammeln von Altpapier und Buntmetall, wozu die Schüler aufgefordert waren. Wer eine bestimmte Menge zusammenbrachte, bekam ein Heftchen mit einem der Grimms Märchen. Für diese Heftchen zog er mit dem Handwagen von Haus zu Haus. So, sagt er, habe er sich seine erste kleine Bibliothek zusammengesammelt.
Einer der Neulehrer, selbst noch Lernender, wird in der sechsten Klasse sein Deutschlehrer. Er ist beeindruckt von den Aufsätzen und Versen, die sein Schüler schreibt, und er beschließt, ihn in die achte Klasse vorzuversetzen, damit er schneller auf die Oberschule kann. Was er offenbar nicht bedenkt, sind die mäßigen Rechenleistungen seines Zöglings. Und so nimmt er den Jungen nach Unterrichtsschluss ins Lehrerzimmer mit und versucht, ihm die Prozentrechnung zu erklären: Er solle annehmen, fünf sei gleich hundert. Aber der Schüler ist auf der Hut: Fünf sei doch viel weniger als hundert. Als der Lehrer erwidert, alles könne gleich hundert sein, auch eine Million, lacht der Schüler schallend.
Die Eltern denken nicht an höhere Schulbildung. Der Junge soll etwas Ordentliches lernen, einen Beruf, der gebraucht wird. Schuster werden immer gebraucht. Und so vereinbart der Vater eine Schuhmacherlehre für ihn. Der Sohn soll versorgt sein, soll nicht arbeitslos werden wie er in der großen Krise, wenn wieder eine Krise kommt. Und er soll nicht hungern müssen wie in den Jahren, die Reiner Kunze so in Verse fasst:
NACH DEM KRIEG
Die bauern hackten die abgeernteten felder nach,
bis die furchenhügel
gräben waren
Fremden, die dem acker
sich zu nähern wagten, zeigten sie
die pferdepeitsche
Die hacken verborgen im unterholz,
warteten wir im wald,
bis über den niederbrennenden kräutrichfeuern
der mond aufging
und unserem hunger
eine unerreichbare
in heißer asche aufgeplatzte
kartoffel leuchtete7
Sein Lehrer setzt sich ein, und der Junge bekommt die Chance, in die Aufbauklasse an die Oberschule nach Stollberg zu gehen. Der Vater ist dagegen, doch der Lehrer ringt ihm die Erlaubnis ab. Bevor der Sohn jedoch auf die weiterführende Schule darf, muss er eine Aufnahmeprüfung bestehen:
An der Tafel stand eine Rechenaufgabe mit einem Buchstaben. X oder Y ist gleich … Da habe ich abermals gelacht und in der heiligen Prüfungsraumstille ausgerufen: „Ach, das gibt’s doch gar nicht! Mit Buchstaben kann man doch nicht rechnen.“ Damit war die Sache klar: Ich war durchgefallen.
Wie die Dinge aus Ton
Der Junge fügt sich in die Gegebenheiten: Gut, wenn Abitur nicht möglich ist, dann mache ich eben die Schusterlehre. In dieser Situation bekommen die Eltern im Sommer 1947 unerwartet einen Brief, ihr Sohn sei an der Oberschule in Stollberg angenommen. Er ist glücklich, strahlt. Was auch immer den Ausschlag gegeben hat, er darf sich zu den Auserwählten zählen. In die Schule geht er mit einem Gefühl der Dankbarkeit.
Der nächste Winter, erinnert Reiner Kunze sich, wird außerordentlich streng. In dem Schulgebäude, einem riesigen gelben Klinkerbau, ist es kalt, es gibt keine Kohlen zum Heizen. Sie sitzen in Mäntel gehüllt und schreiben in Handschuhen. Ein Kanonenofen wird aufgestellt und die Bergmannskinder müssen reihum je zwei Briketts mitbringen:
Um es wärmer zu bekommen, haben wir im Klassenzimmer an Holz abgebaut, was sich abbauen ließ, auch die Leisten um den streng geheimen, immer verschlossenen Aktenschrank. Eines Tages brach der Schrank zusammen und alles, die Bücher, unsere Zensurenhefte, das Klassenbuch, fiel heraus. Wir hatten nichts anderes zu tun, als das geheime Klassenbuch zu lesen. So habe ich erfahren, weshalb ich an der Oberschule aufgenommen worden war. Wegen eines überdurchschnittlichen Prüfungsaufsatzes, Thema: „Die Mühle im Tal“. So begann die „Literatur“ meinen Weg zu bestimmen – und sie sollte es das ganze Leben über tun.
Während der Oberschulzeit versucht Reiner Kunze sich auf verschiedenen künstlerischen Gebieten, zeigt Talent fürs Malen und lernt Geige aus Liebe zur Musik, meint aber irgendwann, dass es ihm an musikalischer Begabung fehle. Zudem hat er einen Musiklehrer, der ihn auf seine Weise motiviert. Für einen falschen Ton setzt es einen Hieb mit dem Geigenbogen in den Nacken. Schließlich gibt der Schüler auf.
Die Woche über wohnt Reiner Kunze im Schulinternat. Heute sagt er, die Zeit an dieser Oberschule habe er mit als seine bedrückendste Zeit erlebt. Er sei ohne jedes skeptische Rüstzeug und ohne intellektuelle Vorbildung dorthin gekommen. Wer Reiner Kunze kennt, weiß, dieser Mann retuschiert seine Biografie, auch die politische Naivität in seiner Jugend, nachträglich nicht. 1970 schreibt er, Bezug nehmend auf eine Briefzeile seines mährischen Dichterfreundes Jan Skácel, dieses Gedicht:
WIE DIE DINGE AUS TON
Aber ich klebe meine hälften zusammen
wie ein zerschlagener topf
aus ton.
(Jan Skácel, brief vom februar 1970)
1
Wir wollten sein wie die dinge aus ton
Dasein für jene,
die morgens um fünf ihren kaffee trinken
in der küche
Zu den einfachen tischen gehören
Wir wollten sein wie die dinge aus ton, gemacht
aus erde vom acker
Auch, daß niemand mit uns töten kann
Wir wollten sein wie die dinge aus ton
Inmitten
soviel
rollenden
stahls
2
Wir werden sein wie die scherben
der dinge aus ton: nie mehr
ein ganzes, vielleicht
ein aufleuchten
im wind8
Dieses Gedicht erzählt davon, wie der Glaube und das Vertrauen einer ganzen Generation missbraucht und zerbrochen wurden. Nur eine ganz, ganz kleine Hoffnung bleibt.
Man muss sich hineinversetzen in die Zeit. Es sind die Hunger- und Aufbaujahre nach dem Krieg. Die Jugendlichen erfahren von den Gräueltaten der Nazis, sehen Bilder aus Konzentrationslagern. Die neue Gesellschaft steht dafür, dass das nie wieder passieren darf. Die Hoffnungsworte heißen Zukunft, Fortschritt, Sozialismus. Alles soll besser werden. Das will auch er.
Der Bericht über eine Schulkonferenz im Jahr 1958 zeugt von der Atmosphäre an der Stollberger Oberschule. Obwohl sieben Jahre dazwischen liegen, braucht es wenig Fantasie, sich diese Konferenz 1951 vorzustellen, als Kunze dort Schüler war.
In die Aula eingeladen sind „218 Eltern unserer Arbeiter- und Bauernkinder und die Genossen der Sozialistischen Einheitspartei.“ Die Inhalte der Referate und die Diskussionsredner werden im Vorfeld festgelegt. Nichts wird dem Zufall überlassen. Ein Drittel der Eltern folgt der Einladung der Schulleitung, dazu Funktionäre des regionalen Parteiapparates und des „Pädagogischen Rates“.
Die erste Kritik wird am mangelnden Interesse in den Elternhäusern laut. Es zeige, hier müsse weit mehr Überzeugungsarbeit geleistet werden. In dieser Konferenz geht es nicht um eine Analyse von Bildung und Wissen. Aufgabe ist es, „den Stand der sozialistischen Erziehung an unserer Schule zu überprüfen und Maßnahmen zu ihrer Verbesserung einzuleiten“.
Als Bilanz bisheriger Erziehungserfolge wird verkündet: „… 47 Meldungen zum Dienst in der Nationalen Volksarmee, Arbeitseinsätze im Nationalen Aufbauwerk, bei der Ernte …, beim Bau eines Schießstandes …“ Anschließend werden die Anwesenden konfrontiert mit „Misserfolgen und offensichtlichen Mängeln in der gemeinsamen Erziehungsarbeit“: Acht Schüler, die im letzten halben Jahr „unseren Arbeiter- und Bauernstaat verraten haben und republikflüchtig wurden“, werden mit Namen und Wohnort genannt.
Der stellvertretende Direktor fordert: Eltern republikflüchtiger Schüler haben die Ausbildungskosten zurückzuerstatten; Schüler, von denen Angehörige Republikflucht begangen haben, sind von der Schule auszuschließen; nur noch „solche Grundschulabgänger werden in die Oberschule aufgenommen, die … durch ihre Teilnahme an der Jugendweihe sich zu unserem Staat der Arbeiter und Bauern bekennen.“
Mehrere Diskussionsredner ergehen sich in scharfen Attacken gegen zwei Pfarrer, die das Recht auf Religionsfreiheit und Konfirmation verteidigt haben. Das seien „Machenschaften, die religiöse Gefühle für reaktionäre Zwecke mißbrauchen“. Alle Anwesenden stimmen einem vorbereiteten Schreiben an die Kirchenleitung zu, das ihre „Empörung“ angesichts der „starren und reaktionären Haltung“ der beiden Pfarrer ausdrückt. Der Brief kulminiert in dem Satz: „Ihre Stellung gegen die Jugendweihe ist nichts anderes als ein bewusstes Hemmen unseres sozialistischen Aufbaus.“9
Dieses Klima herrscht an dieser Schule, über deren Eingangsportal die Worte „Gott sei Gloria“ aus dem Sandstein herausgemeißelt sind. Kirchenkampf, Ausgrenzung junger Christen, Sippenhaft bei Republikflucht und Militarisierung sind Teile der „sozialistischen Erziehung“. Die tägliche Indoktrination zeigt Wirkung.
In Kurzbiografien über Reiner Kunze liest man das Wort „SED“. Auch dahinter steht eine Geschichte.
Die Lehrer schätzen die Freundlichkeit des Schülers, seinen Lerneifer und die Zuverlässigkeit bei der Erfüllung „gesellschaftlicher Aufträge“. Eines Tages klopfte der Direktor während des Unterrichts an die Tür. Er rief mich heraus und sagte: „Wir haben beschlossen, dich als Kandidat für die SED vorzuschlagen.“ Das war in der zehnten Klasse. Eine Ehre! Der Rektor war ein alter Sozialdemokrat, ein vernünftiger Mensch.
Am 1. Juni 1950 wird Reiner Kunze als Kandidat in die Reihen der SED aufgenommen. Das, sagt man ihm, sei eine hohe Auszeichnung und eine ebenso große Verpflichtung. Da ist er sechzehn. Aus seinem Lebenslauf für die Bewerbung zum Studium sprechen Stolz, Überzeugung und jugendlicher Überschwang des künftigen jungen Genossen:
Das Datum jedoch, das ich dem ersten gleichsetze [dem der Geburt, d. Verf.], ist das meiner Aufnahme als Kandidat für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Was wäre ich für das Friedenslager, für die Arbeiterklasse, ja für mich selbst, wenn mich nicht die Partei schule und erziehe? Im Strom der Zeit triebe ich vielleicht mit dahin, aber selber lenken und andere Lenken lehren könnte ich … nicht.10
Doch bald stellen sich erste Irritationen ein. Bei den Volkskammer- und Regionalwahlen im Oktober 1950 werden die Schüler als „Wahlschlepper“ eingesetzt. Ihr Auftrag ist es, schon am Vormittag die Bewohner in ihren Häusern aufzusuchen, zu fragen, ob sie wählen waren. Wenn nicht, sollen sie sie zum Wahlbüro begleiten. Das ist dem Schüler Kunze überaus peinlich. Noch peinlicher wird es, als er und ein Klassenkamerad sich davon überzeugen müssen, dass der Ärger eines dieser Wähler berechtigt ist: Es liegt kein Stift in der Wahlkabine. Sie gehen in ein anderes Wahllokal. Auch dort kein Stift. Sie sind empört, laufen in die Schule und berichten dem Rektor, Herrn Bellmann, was sie erlebt haben:
Er bekam einen hochroten Kopf, die Adern schwollen ihm an: „Unmöglich!“ Wütend rief er in unserer Gegenwart die Kreisleitung an und protestierte. Die Folge war, dass er mangels Parteilichkeit gerügt und später in eine andere Schule versetzt wurde.
Eigentlich will Reiner Kunze an der Kunstakademie Dresden studieren. Er besteht die Vorauswahl. An der Oberschule gibt es jedoch zwei Lehrerinnen, die ihm ideologisch zusetzen und ihn dazu bringen, sich für ein Studium der Publizistik zu entscheiden. Sie handeln damit strikt im Interesse der Partei. Der Abiturient hat keine Vorstellung, was dieses Studium bedeutet.
Nach dem Abitur 1951 beginnt er an der Philosophischen Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig unter anderem das Fach Publizistik zu studieren. Seinen Neigungen folgend belegt er Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte, weshalb er nach Gründung der Fakultät für Journalistik 1954 dem Fachbereich Kulturpolitik zugeordnet wird.
Mit ihrer Umgründung untersteht diese Fakultät nur noch pro forma der Universität, de facto wird sie ein Ausbildungsinstitut des Zentralkomitees der SED. Der Auftrag: Nach leninistischen Prinzipien sollen die angehenden Journalisten hier zur „schärfsten Waffe der Partei“ geformt werden. Wer im „Roten Kloster“ sein Diplom erwirbt, gehört fast schon zur Nomenklatur.
Aus heutiger Distanz, sagt Reiner Kunze, habe er das Studium in Erinnerung als Jahre hochgradiger Indoktrination. Er habe den Professoren geglaubt. Sie seien für ihn unbezweifelbare Autoritäten gewesen. Er ist ein guter Student, erhält Leistungsstipendium und Auszeichnungen.
Von den Spannungen in der Gesellschaft lebt er weitgehend abgeschottet. Die Ereignisse um den Volksaufstand des 17. Juni 1953 erreichen ihn kaum. In diesen Tagen liegt er frisch am Blinddarm operiert am Rande der Stadt im Krankenhaus Leipzig Dölitz. Er weiß nicht, dass allein in Leipzig vierzigtausend Arbeiter die Betriebe besetzen und mit anderen auf die Straße gehen. Erst durch eine Tante, die ihn besucht, erfährt er überhaupt etwas von den Protesten gegen Preissteigerungen und Normerhöhungen, von besetzten und verwüsteten Parteihäusern und Angriffen auf Funktionäre und Polizei, vom Einsatz russischer Panzer, vom Ausnahmezustand und Verhaftungen. Die Tante ist bei ihrem Besuch vollkommen aufgelöst und hat Angst zu erzählen.
Das wenige, dass er über den 17. Juni erfährt, gibt ihm zu denken. An der Universität hören die Studenten danach gebetsmühlenartig von „Unruhen“ als „Werk imperialistischer Provokateure und faschistischer Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer“. Schuldig seien allein der faschistische Adenauer-Staat, Eisenhower und sein Sender RIAS in West-Berlin. Die Feinde des Sozialismus hätten dafür gesorgt, dass Nazis aus Gefängnissen befreit worden seien. Sie hätten versucht, die Macht an sich zu reißen. Nach diesem „konterrevolutionären Putschversuch“ werden die Studenten auf noch unbedingtere revolutionäre Wachsamkeit eingeschworen. Reiner Kunze ist eingesponnen in diesen Kokon.
Seine Studienleistungen und die positive Beurteilung als Genosse eröffnen ihm 1955 eine Assistentenstelle mit Lehrauftrag. Zuvor hatte er 1954 ein Praktikum bei der „Magdeburger Volksstimme“ absolviert. Auch diese Beurteilung fällt sehr wohlwollend aus. Er habe „zur vollsten Zufriedenheit“ gearbeitet, sei „wiederholt durch besonders gute Reportagen über künstlerische und andere Ereignisse hervorgetreten“, und er „leitete zeitweilig selbständig die Kreisredaktion Haldesleben“.11
Reiner Kunze beginnt seine wissenschaftliche Laufbahn an der Uni, er wird aufgenommen in den Journalistenverband und in den Schriftstellerverband der DDR. Aber er vergisst auch nicht, woher er kommt.
ANTWORT
Mein Vater, sagt ihr,
mein Vater im Schacht
habe Risse im Rücken,
Narben,
grindige Spuren niedergegangenen Gesteins
ich aber, ich
sänge die Liebe.
Ich sage:
Eben, deshalb.12
Hier spricht die Ehrfurcht vor der Arbeit, zugleich das Glücksempfinden, auserwählt zu sein. Vier Jahre lang führt er Seminare und hält Vorlesungen über „Die literarischen Genres in der Zeitung“.
In seiner Anfangszeit als Assistent und Mitglied der Parteileitung gibt er die verinnerlichte Indoktrination weiter: „Ich habe daran geglaubt. Ich habe bestimmt anderen geschadet.“ Als Gruppenführer der Kampfgruppe läuft er links außen. Er ist es, der die Befehle gibt. Als Seminarleiter ist er streng. Es geht dabei weniger um politische Auseinandersetzungen, die hat er mit seinen Studenten selten. Ihm geht es um deren Eignung. Kompromisslos vertritt er die Position, Studenten mit schwachen Leistungen gehören nicht ins Journalistik-Studium, auch wenn sie Arbeiter- oder Bauernkinder oder privilegiert sind durch politische Empfehlungen oder Funktionärseltern. Wer bei Prüfungen durchfällt, müsse gehen, damit er einem besseren Studenten nicht den Platz wegnehme.
Reiner Kunze hat den Ruf eines strengen Idealisten. Es spricht für sich, dass er in seinem Tagebuch Am Sonnenhang diese Einlassungen Wolf Biermanns aus der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 24.08.1990 zitiert:
Noch heute, nach so vielen Jahren, geht Helga Novak, die große verkannte Dichterin dieses Landes, an die Decke, wenn ich die „sensiblen wege“ meines Freundes Kunze verteidige. (…) „Kunze? Der!!“ Und dann erzählt sie, wie es an der Journalistenhochschule in Leipzig war, wo Kunze zum Lehrkörper gehörte, ein junger ehrgeiziger Assistent. Kunze wurde als brutaler stalinistischer Einpeitscher von den besseren Studenten gefürchtet. 13
Darauf angesprochen, sagt Reiner Kunze:
Was Helga Novak betraf, und da war noch jemand, die Brigitte Klump, beide wussten nicht, was im Lehrkörper vorging, dass ich so aufgetreten bin, um überhaupt noch auftreten zu dürfen. Sie haben nicht gewusst, wie mein Verhältnis zu den Studenten war, deren Vertrauen ich besaß.
Beide, Helga M. Novak und Brigitte Klump kommen 1954 als Studentinnen an die Journalistische Fakultät. 1956 soll Brigitte Klump eine Arbeit über „Die Vulgarisierung der Literatur durch Bertolt Brecht“ schreiben. Brecht lädt sie und andere interessierte Studenten zu einer Aufführung ins Berliner Ensemble ein, damit sie sich selbst ein Bild über „das Destruktive“ seiner Arbeit machen können. Ein Sonderzug für 700 Studenten wird organisiert. Walter Ulbricht persönlich lässt die Anreise verhindern. Vorgeschoben werden Gleisbauarbeiten. Danach ist die anfänglich naive Brigitte Klump, die als Volontärin von ihrer Bauernzeitung zum Studium delegiert wurde, einer derartigen Stasi-Bearbeitung ausgesetzt, dass sie aus der DDR flieht. Einundzwanzig Jahre später veröffentlicht sie die aufsehenerregende Innenschau „Das Rote Kloster“ in der Bundesrepublik. Zuvor hatte das Kulturministerium der DDR dem Verlag Hoffmann und Campe eine Millionen D-Mark geboten, wenn er das Buch zurückzöge.
Brigitte Klump, sagt Reiner Kunze, hatte einen ähnlichen Eindruck von mir wie Helga Novak. Eines Tages brachte sie mir eine schriftliche Arbeit über die Erziehung zur Heuchelei. Ich habe sie beiseitegenommen und gesagt: „Diese Arbeit müsste ich der Stasi geben. Vernichte sie. Ich habe sie nicht gesehen.“ Das schreibt sie dann auch in ihrem Buch. In dem Augenblick hatte sie begriffen, was der Kunze manchmal öffentlich von sich gibt, ist vielleicht doch nicht der wahre Kunze.
Ein Beispiel. Wir hatten einen hochbegabten Studenten, der unterstützte mich als Hilfsassistent. Er konnte sehr gut schreiben. Als er mir Arbeiten von sich zeigte, habe ich gesagt: „Junge, das ist gefährlich.“ Dem habe ich geraten, wie er solche Sachen aufheben soll. Sie hatten einen großen Garten: „Nimm doch Einkochgläser. Schreib sehr klein, leg die Manuskripte rein und vergrabe sie.“
In die erste schwere Auseinandersetzung innerhalb der Fakultät gerät Reiner Kunze 1956. Er kennt zum Aufstand in Ungarn die Argumentation aus dem Neuen Deutschland und aus Parteigruppenversammlungen: Die ganze Schuld läge bei westlichen und ungarischen reaktionären Kräften. Der Hochverräter Imre Nagy und die Petöfi-Renegaten hätten versucht, die volksdemokratische Ordnung zu stürzen und eine Restauration des Kapitalismus herbeizuführen. Damit hätten sie den Weltfrieden gefährdet. Durch die brüderliche Hilfe sowjetischer Truppen und durch die revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung unter Janos Kádár sei Ungarn gerettet worden. Bewusst verschwiegen wird in der SED-Informationspolitik, dass es sich in Ungarn ähnlich wie in der DDR 1953 um eine Volksbefreiungsbewegung handelt, hier hervorgegangen aus Studentenprotesten, dass russische Panzer gegen ungarische Karabiner und den reformkommunistischen Hoffnungsträger Imre Nagy eingesetzt werden und ein Blutbad anrichten.
Eingeladen von Peter Nell, einem alten Kommunisten und Autor des autobiografischen Romans „Der Junge aus dem Hinterhaus“, fährt Reiner Kunze zum außerordentlichen Schriftstellertreffen nach Berlin. Er ist dabei, als die Präsidentin Anna Seghers Georg Lukács verteidigt, einen der intellektuellen Köpfe des Petöfi-Klubs und damit des Ungarn-Aufstandes. Und er fragt sich: Wie passt das zusammen? Seghers und Lukács verbindet ein langer Briefwechsel. Während der Niederschlagung des Aufstandes in Budapest bittet sie Walter Janka, den Leiter des Aufbau-Verlages, Lukács nach Berlin zu holen. Janka wird verhaftet und wegen konterrevolutionärer Gruppenbildung und Verschwörung – er habe Lukács in die DDR schmuggeln und so den Sturz der Regierung herbeiführen wollen – zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Prozess, bei dem Anna Seghers anwesend ist, schweigt sie.
Reiner Kunze:
Ich war befreundet mit Peter Nell, er arbeitete im Ministerium für Kultur, in der Hauptabteilung Literatur, wo die Manuskripte eingereicht und begutachtet wurden. Seine Frau Edith und er waren sehr vernünftige Leute, parteipolitisch fest gebunden, aber es gab keine Tabus in den Gesprächen. Im Gegenteil.
Als Peter Nell 1957 sterbenskrank lag, besuchte ich ihn. Er hat meine Hand ergriffen und gesagt: „Reiner, es stimmt alles nicht. Wir haben für einen Irrtum gelebt.“
Dieser Peter Nell lud mich offiziell ein zu einer während der Ereignisse in Ungarn sofort einberufenen Schriftstellerversammlung in Ostberlin. Dort waren Anna Seghers, Stephan Hermlin, alle, die in der DDR-Literatur eine Rolle spielten. Ich gehörte da überhaupt nicht hin. Anna Seghers war da einmal mutig. Sie hat sich für Georg Lukács eingesetzt: „Ich glaube nicht, dass er ein Feind der Arbeiterklasse ist, denn er hat mich zur Kommunistin gemacht.“ Sie hat sich hundertprozentig hinter ihn gestellt.
Früh morgens bin ich nach Leipzig zurückgefahren, weil ich Seminar hatte. Da stehen oben auf der Holztreppe des Hintereingangs Fritz Raddatz und Klaus Höpcke, zwei Assistenten und Kollegen von mir. Ich sehe sie noch heute und höre sie fragen, was denn in Berlin gewesen sei und ich sage naiv: „Die Anna Seghers hat gesagt …“ Mittags Riesenversammlung über die ideologischen Unklarheiten des Assistenten Kunze.
Die ideologischen Aufpasser dürfen sich auf die Schultern klopfen. Die Parteileitung verlangt eine schriftliche Stellungnahme und jeder weiß, alles andere als reuige Selbstkritik hat weitere Disziplinierungsgespräche zur Folge. Reiner Kunze schreibt:
(…) Nach den Informationen unserer Zeitungen während der vergangenen Jahre war es mir unmöglich, die Situation in Ungarn und in der ungarischen Arbeiterpartei so genau zu kennen, dass ich im Augenblick mit fester Überzeugung einen Mann [Georg Lukács, d. Verf.] schuldig sprechen konnte, der bisher in unserem Staat hoch geachtet war und in seinen Werken klug und leidenschaftlich gegen alle reaktionären Theorien und faschistische Ideologien auftrat (…) Ja, ich bin belogen worden, wir alle sind es. Man hat mir zum Beispiel in einem dicken Buch bis in alle Einzelheiten dargelegt, welche Verbrechen die heute rehabilitierten ungarischen Genossen begangen haben.14
Gemeint ist damit vor allem Janos Kádár, der 1951 als ungarischer Innenminister wegen angeblicher Kollaboration mit Tito verurteilt wird und nach anfänglicher Unterstützung der Revolution nach ihrer Niederschlagung kompromisslos die sowjetischen Machtinteressen durchsetzt.
Mit dieser Stellungnahme zieht Reiner Kunze Zorn auf sich. Von diesem Zeitpunkt an heißt es in innerparteilichen Einschätzungen zu seiner Person, „daß KUNZE politisch solche Anschauungen vertrat, die letzten Endes revisionistischen Charakter trugen“.15 Seine Feststellung: „Ja, ich bin belogen worden, wir alle sind es“, ist willkommener Anlass für die boshafte Stigmatisierung „Kunze äußerte, daß er von der Partei ‚belogen und betrogen wurde‘, wodurch sein Vertrauen in die Partei ins Wanken geriet“.16