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Politische Auseinandersetzungen führen die Parteidogmatiker mit Reiner Kunze von Anfang an. Begonnen hatte es mit einem Buch, dass ihm eine Tante zum Abitur geschenkt hatte. Im Internat stellt er es auf sein Bücherbrett: Franz Kafka, Ein Landarzt, und ahnt mit keiner Silbe, welche Folgen das hat:
Mittags große Institutsversammlung. Angeklagt Reiner Kunze wegen Verbreitung bürgerlich dekadenter Literatur. Die Verbreitung sah man darin, dass wir zu viert auf dem Zimmer waren und jeder Zugang hatte. Ich wurde eine Woche lang von einer Leitung zur anderen geschleppt, Parteileitung, Institutsleitung, Universitätsleitung … Überall musste ich Stellung nehmen, warum ich das gemacht hatte. – Bis sie begriffen, dass ich einfach nur ein Idiot war: Der hat wirklich keine Ahnung, wer Kafka ist. Ich bekam die Auflage, sofort zur Parteileitung zu gehen, wenn ich ein Buch in Händen halte, dessen Autor ich nicht kenne.
Mehrere Vorfälle führen dazu, dass die Zweifel wachsen. Immer wieder werden den Studenten Häuser zugeteilt, in denen sie Stockwerk für Stockwerk Bewohner agitieren müssen:
Das war eine ähnliche Sache wie in der Oberschule, und ich habe ebenso darunter gelitten. Unter anderem war auch eine Studentin eingeteilt, die im achten Monat schwanger war. In einer Seminargruppenversammlung bat sie, man möge sie von diesen Agitationseinsätzen freistellen, sie könne die Treppen nicht mehr steigen, und es werde ihr furchtbar schlecht. Sie habe dabei schon einmal erbrochen. Eine Dozentin machte diese Studentin fertig: „Wenn die Genossen im KZ alle so …“ Es war furchtbar. Da habe ich eine Glosse in Gedichtform geschrieben, die begann:
Genossen, Freunde, folgendes:
die Sache die ist die,
daß sie gezeugt
und nicht mehr überzeugen will.
Das Gedicht habe ich dem Eulenspiegel geschickt, und soweit ich mich entsinnen kann, ist es erschienen. Jedenfalls ist es bekannt geworden. Wie schon bei Kafka war es wieder so weit, dass ich ein Jahr in die Produktion sollte, um mit der Arbeiterklasse Verbindung herzustellen. Dass es nicht soweit kam, verdanke ich einem ukrainischen Professor, er hieß Ruban. Er las an der Fakultät „Sowjetische Literatur“. Für ihn habe ich von Vorlesung zu Vorlesung die Gedichte übersetzt, die er uns vorstellen wollte. Als ich ihm dankte, sagte er abwinkend: „Ich musste Sie verteidigen, denn ich habe Sie gebraucht.“
Das war ein ganz wunderbarer Mensch. Nach dieser Geschichte verschwand er. Ich nehme an, jemand hat ihn denunziert. Nach ihm kam ein Ultraorthodoxer, der war hochgefährlich.
Ein Haarriss folgte dem anderen, bis das Gefäß zersprang. Wenn sie indoktriniert sind, versuchen sie immer wieder eine Entschuldigung zu finden, nicht für sich, sondern für die Sache: Das ist schlecht gemacht, oder das sind Menschen, die unfähig sind.
Ich musste mich erst durch die ganze Ideologie hindurchdenken und hindurchleiden, bis ich so weit war zu sagen: Das ist keine menschliche Ideologie. Das ist ein furchtbares System, das über den Menschen hinweggeht.
Noch ein Beispiel: Ein sorbischer Student ging zur Parteileitung und sagte, er wolle heiraten, er glaube nicht an Gott, gehe auch nicht in die Kirche, aber seine Frau sei katholisch. Ihre Eltern und Verwandte wünschten, dass sie katholisch heiraten. Die Partei solle bitte Verständnis dafür haben. Er wurde exmatrikuliert.
Wie jeder an der Fakultät wird auch Reiner Kunze von Genossen beobachtet, die Berichte schreiben, und die Parteileitung verdichtet deren Informationen:
Ein großer Teil von Studenten, die K. als Assistent zu betreuen hatte, sahen in ihm ein Vorbild. Ein guter Freund von K. ist der Student … parteilos. … wurde als noch nicht politisch reif genug angesehen, um als Journalist eingesetzt zu werden.
Die Studentin … wurde von K. ebenfalls gefördert. Sie ist parteilos und konnte ebenfalls auf Grund polit. Unreife noch nicht als Journalistin eingesetzt werden. K. hatte Leistungsstipendium für … befürwortet. Der Vater von … wurde vor Jahren republikflüchtig.
Aus gleichen Gründen der noch unpolit. Reife konnte auch der Student … noch nicht eingesetzt werden. Auch dieser Student gehört zu den sogenannten Kunzianern. (…) Auffallend ist …, daß K. sehr viele persönliche Aussprachen mit seinen Studenten führt, zum Teil auch in seiner Wohnung. 17
Kunzes Seminargruppe, die ursprünglich aus zwanzig Studenten besteht und nach zwei Jahren auf dreizehn dezimiert ist, wird eine „denkbar schlechte Zusammensetzung“ bescheinigt.
Eine Handhabe gegen den Störfaktor Kunze erhofft sich die Parteileitung 1958. Sie wird informiert, die Staatssicherheit habe ihn aufgrund seiner Verbindung zu dem „amerikanischen Agenten Ronald Lötzsch“ vernommen.
Eine außerordentliche Parteiversammlung wird einberufen. Er solle zugeben, dass er Verbindungen zu einer konterrevolutionären Gruppe unterhalte. Nach dem Muster politischer Prozesse soll er ein Geständnis ablegen. Der Druck ist enorm. Nicht weniger als die Wachsamkeit der Parteigenossen steht auf dem Spiel. Sie bluffen, fordern, er solle seine konterrevolutionären Verbindungen eingestehen. Woher soll er auch wissen, dass der Genosse von der Staatssicherheit nur empfohlen hatte, künftig ein Auge auf ihn zu haben.
Reiner Kunze weiß zu dem Zeitpunkt nichts von einer Gruppe um Wolfgang Harich und Walter Janka, nichts von ihrer Plattform für einen „besseren deutschen Weg zum Sozialismus“. Von dem Kreis um Erich Loest und Wolfgang Zwerenz und ihrer Kritik an der Kulturpolitik der SED hat er nur entfernt gehört. Er weigert sich, zu gestehen, was er nicht gestehen kann: „Etwas einzugestehen, dass ich nicht getan habe, dazu habe ich mich nie in meinem Leben hinreißen lassen.“
Seine Bekanntschaft mit dem der amerikanischen Agententätigkeit bezichtigten und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilten Ronald Lötzsch reicht zurück in die Stollberger Schulzeit. Dort unterrichtete Lötzsch nach dem eigenen Abitur in Kunzes Klasse Russisch. Nach einem Studium in Leningrad studiert er in Leipzig Slawistik. Gelegentlich besuchen sich die beiden. Lötzsch interessiert sich für die Situation in Polen. Die Wirtschaftskrise dort führt im Juni 1956 von Poznań aus zum Arbeiteraufstand, die stalinistische Führung wird entmachtet, Władysław Gomułka wird der neue Hoffnungsträger, wie Imre Nagy in Ungarn. Ronald Lötzsch liest polnische Zeitungen und sucht Kontakt zu polnischen Journalisten. In Polen findet der Aufbruch statt, den viele in der DDR vermissen. Nikita Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU wird in polnischen Zeitungen abgedruckt und Lötzsch übersetzt sie für Kunze. Etwas später bekommt Kunze auch von Paul Wiens eine im Westen gedruckte Fassung. Diese Rede ist eine Sensation. Erstmals ist von ideologischen Irrtümern Stalins, von seiner Verantwortung für Massenmorde an Kommunisten bei den Säuberungen in den dreißiger Jahren zu hören. Auch wenn der neue Generalsekretär die ganze Dimension kommunistischer Verbrechen, die Gulags, die Zwangskollektivierung mit Abermillionen Hungertoten, verschweigt, stellen sich Intellektuelle in allen Staaten des sowjetischen Lagers jetzt die Frage: Wenn es in der Sowjetunion Irrtümer und Verstöße gegen Demokratie gegeben hat, gibt es die nicht auch bei uns? Walter Ulbricht ist sich nach seiner Rückkehr aus Moskau durchaus der Brisanz bewusst. Er wiegelt ab, die SED habe keine Entstalinisierung nötig, weil es in ihr keine Stalinisten gebe. Doch die Fragen sind nicht mehr aufzuhalten.
Ronald Lötzsch besucht bei Erich Loest einige Male einen Kreis, der die Verhältnisse hinterfragt und kulturpolitische Reformen einfordert. Loest stellt aufgebracht die Frage: „Hat nicht Ulbricht höchstpersönlich das Studium der Stalin-Biografie befohlen? Der Mann muss weg!“
Lötzsch lädt Kunze in diesen Kreis ein. Doch Kunze lehnt ab. Loests Auftreten ist ihm zu vierschrötig. Das rettet ihn vor dem Zuchthaus, als Walter Ulbricht an Wolfgang Harich, Walter Janka, Gustav Just, Erich Loest, Ronald Lötzsch, Karl Schröter, Richard Wolf, Heinz Zöger ein Exempel statuieren lässt.
Reiner Kunze sagt zu seinen Gesprächen mit Ronald Lötzsch:
Wir haben gar nicht so viel diskutiert. Er hat mich vor allem informiert. Vor der Staatssicherheit hat er dann Dinge preisgegeben, die ich nie preisgegeben hätte. – Zum Beispiel, dass er bei uns am Radio ausländische Sender gehört hatte. Deshalb wollte man im Verhör von mir wissen, was das für Sender gewesen seien. Ich habe gesagt: „Keine Ahnung, der hat mal gedreht. Das war eine fremde Sprache. Ich habe nichts verstanden.“
In dieser vierstündigen Vernehmung am 29. März 1958 verhält Reiner Kunze sich überaus geschickt. Mit seinen Antworten versucht er, Lötzsch möglichst zu entlasten und sich nicht zu belasten. Im Vernehmungsprotokoll liest sich seine Aussage so:
Frage: Welche Einstellung hatte Ronald LÖTZSCH zur Deutschen Demokratischen Republik?
Antwort: Ich kenne Ronald LÖTZSCH als Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei und weiß, daß er stets eine gute politische Arbeit im Sinne dieser Partei geleistet hat. Mir ist nichts … aufgefallen, was sich gegen die von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik verfolgte Politik gerichtet hätte. Etwas anderes kann ich hierzu nicht sagen. Frage: Wie schätzte Ronald LÖTZSCH die Ereignisse in der Volksrepublik Polen im Oktober 1956 ein?
Antwort: Ronald LÖTZSCH hatte für die Ereignisse in Polen im Oktober 1956 sehr großes Interesse. Er las ständig die Presse der Volksrepublik Polen und informierte mich wiederholte Male über den Inhalt verschiedener Artikel. Was er mir im einzelnen mitteilte, ist mir jedoch heute nicht mehr in Erinnerung.
Frage: Wie verhielt sich Ronald LÖTZSCH zu der in Presse und Funk der DDR gegebenen Einschätzung der polnischen Entwicklung im Herbst 1956?
Antwort: Was Ronald LÖTZSCH zur Einschätzung der Entwicklung in der Volksrepublik Polen im Herbst 1956 durch Presse und Funk der Deutschen Demokratischen Republik sagte, weiß ich nicht mehr.
(…)
Frage: Nach den Aussagen Ronald LÖTZSCHs hat er Sie über seine Verbindungen zu KUPIS [polnischer Journalist und Dozent an der Fakultät für Journalistik, zu dem Kunze den Kontakt vermittelt hat, d. Verf.] – unter anderem, daß er mit KUPIS zusammen den Schriftsteller Erich Loest aufsuchte – unterrichtet. Äußern Sie sich dazu!
Antwort: Vielleicht hat Ronald LÖTZSCH mit mir über das Vorgehaltene gesprochen, ich weiß jedoch nichts mehr darüber. Andere Aussagen kann ich hierzu nicht machen.
Frage: Sind bei Ihnen in der Wohnung Sendungen des Londoner Rundfunks, in denen der Renegat Wolfgang Leonhard sprach, abgehört worden?
Antwort: Wenn mich Ronald LÖTZSCH besuchte, so hat er ständig nach irgendwelchen ausländischen Sendern gesucht. Da in diesen Sendern Fremdsprachen gesprochen wurden, die ich nicht verstand, weiß ich nicht, welche Sender das im einzelnen waren. (…) 18
Reiner Kunze war als sozialistischer Idealist angetreten. Er selbst sagt dazu:
Mit Kindern kann man alles machen. Ich war so ein Kind. Ich habe nie geleugnet, dass ich wirklich indoktriniert war. Ich kam aus einem Elternhaus ohne die geringste politische Bildung, wenn man so will, ohne Bildung überhaupt. Ich hatte keine Bibliothek, durch die ich mich hindurchlesen konnte. Ich wurde gefördert als Arbeiterkind, ein Schuljahr vorversetzt, dass muss man sich vorstellen! Ich komme in die Oberschule und komme in ein – nicht Internat, sondern ein Indoktrinat.
In dem Augenblick, als mein Verstand mir sagte, was man mit uns gemacht hat, habe ich die Konsequenzen gezogen. Und ich habe den Kopf hingehalten.
Spätestens 1956 beginnt Reiner Kunze darüber nachzudenken: Will ich überhaupt, was ich vor meinen Studenten öffentlich vertrete? Er beginnt Nein zu sagen. Und er stellt Fragen. Dass er einer Lüge gedient hat, kann er nicht rückgängig machen. Aber er darf sich hoch anrechnen, er hat niemanden denunziert, im Gegenteil, er versucht, soweit ihm möglich, andere zu schützen.
Am 8. Februar 1959 spricht er auf einer FDJ-Versammlung vor 365 Studenten. Auch der Dekan ist anwesend. Diese Rede markiert die erste Zäsur in seinem Leben. Sie führt zum Ende seiner Universitätslaufbahn.
Er kann nicht anders, als öffentlich seinen Einspruch gegen die allgemeine Schönfärberei an der Fakultät zu erheben. Zu vieles hat sich angestaut. Er sagt:
Die Fakultät für Journalistik ist keine Fakultät von Schreibenden. Ich fragte sechs Studenten, die hier für viele andere stehen mögen, weshalb sie nicht ohne Auftrag schreiben und fand folgende Gründe:
1. Zeit fehlt. Das heißt, die Zeit zum Atmen fehlt!
2. Stoff fehlt. Stoff, das ist die ganze Welt, auch die, die nicht ins Schema passt!
3. Schöpferische Disziplin fehlt. Man muß aber die Disziplin besitzen, sich hinzusetzen, um zu beschreiben, was vor einem lebt!
4. Angst herrscht, sich zu offenbaren. Wer schreibt, schreibt aus sich selbst. Daraus resultieren die Hemmungen.
5. Angst vor ideologischen Fehlern und den daraus resultierenden Rückschlüssen.19
Diese Kritikpunkte rütteln an den Grundfesten des sozialistischen Journalismus. Allein Kunzes Forderung, seine Themen selbst zu setzen, die eigene Meinung zu artikulieren, steht diametral zum Auftrag jedes sozialistischen Journalisten. Der lautet: „Die allgemeine Absicht wird bestimmt von der Partei der Arbeiterklasse für den sozialistischen Journalismus, das sozialistische Bewusstsein des Volkes entwickeln zu helfen und Einflüsse der bürgerlichen Ideologie zu bekämpfen.“20 Das ist ihre Sprache. Dagegen wird der Anspruch „Wer schreibt, schreibt aus sich selbst“, zu einer Kampfansage. Zumal an diesem Ausbildungshort des Zentralkomitees.
Ein Artikel in der Westberliner Zeitung Berliner Morgenpost vom nächsten Tag verschärft den Eklat. Der Bericht beginnt mit der Feststellung: „Der Stil der Zonenzeitungen kommt nicht von ungefähr.“21 Im Mittelpunkt stehen Kunzes Kritik und die vehementen Reaktionen aus dem Lehrkörper darauf. Der Beitrag zieht das Fazit: „Kein Wunder also, dass Reiner Kunze, wissenschaftlicher Assistent und politischer Lyriker, beinahe in Ungnade fiel, weil er sagte, was gar nicht in die Gloriole dieser Fakultät passen wollte.“22 Die Staatssicherheit notiert in einem Persönlichkeitsbild: „K. geriet also spätestens mit diesem Artikel in das Blickfeld des Feindes.“23
1959 kommt Reiner Kunze an einen Tiefpunkt seines Lebens. Die Partei, in die er einmal mit Stolz eingetreten war, begreift er als dogmatisch und zutiefst ungerecht.
Auch privat befindet er sich in einer Krise. Nach dem Studium hatte er geheiratet. Ingeborg, die ebenfalls an der Fakultät studierte, und er bekommen einen Sohn, Ludwig. Nach außen scheint die Ehe harmonisch. Dennoch werden sie sich trennen. Ein Journalist schreibt später, es sei aus politischen Gründen geschehen. Dem widerspricht Reiner Kunze. In politischen Auseinandersetzungen habe seine Frau zu ihm gestanden, selbst wenn sie anderer Meinung waren, sie habe ihn verteidigt.
Als sie im April 1960 vor dem Scheidungsrichter stehen, geben beide an, Ingeborg könne für seine Arbeit als Dichter nicht die erforderliche Akzeptanz aufbringen, deshalb sei ihnen ein Zusammenleben nicht mehr möglich.
Vor Gericht mussten wir unser Einvernehmen bekunden. Wir haben miteinander abgesprochen, keinem sollte ein Schaden seines Ansehens widerfahren. Deshalb einigten wir uns, uns wegen meines Berufes nicht zu verstehen. Es war die lächerlichste Begründung, die wir geben konnten. Dem Gericht hat sie genügt.
Die tatsächlichen Gründe sind für Reiner Kunze etwas sehr Persönliches. Vieles habe zu ihrem Auseinandergehen beigetragen. Es sei so nicht mehr gegangen. Sohn Ludwig bleibt das Bindeglied.
In den Februartagen 1959 ist er psychisch am Ende. Eine Nacht lang läuft er durch Leipzig. Vieles geht ihm durch den Kopf. Auch der Gedanke an Suizid. Der Druck, der auf ihm lastet, schlägt sich aufs Herz. Er erleidet eine Herzattacke. Vom Krankenbett aus bittet er den Dekan der Fakultät um Entlassung als wissenschaftlicher Assistent. Er schreibt, „Unterstellungen, Verdrehungen und Verleumdungen … wird unbesehen Glauben geschenkt“. Versuche der Richtigstellung vor der Parteigruppe „wurden von einigen Genossen verhindert … In dieser Atmosphäre kann ich nicht mehr die hohe Verantwortung tragen, Journalisten auszubilden“. Und er schließt: „Ich bin tief davon überzeugt, daß das, was mir im Augenblick an der Fakultät für Journalistik widerfährt, bitterstes Unrecht ist.“
Doch noch wird er nicht entlassen. Dafür trifft es andere:
Drei Studenten, die während meiner mehrwöchigen Erkrankung mit einem Blumenstrauß angetroffen worden waren, den sie mir bringen wollten, wurden deswegen für ein Jahr vom Studium relegiert und zur Bewährung in die Landwirtschaft geschickt.
Doch er bekommt auch aufmunternde Zeichen, auch von den Kabarettisten der Leipziger Pfeffermühle:
Lieber Reiner,
kein Programm ohne Kunze-Text. Das war unsere Losung und wird sie hoffentlich auch bleiben. (…) Trotz Krankheit, Ärger und Verdruß hast Du immer zu uns gehalten. Weiter so! 24
Völlig überraschende Unterstützung erfährt er von seinem Dekan, Professor Hermann Budzislawski, einem Pressegeschichtler, der während der NS-Zeit in die USA emigriert war. Über dessen Reaktion nach der FDJ-Versammlung schreiben die Widersacher in einem Parteibericht verärgert:
… daß der Dekan … auch in der Folgezeit seine Hand schützend über K. gehalten (hat) und damit die ganze Lage komplizierte. Er [Kunze, d. Verf.] ist in seinen Augen ein Wissenschaftler, der außerordentliche Leistungen vollbringe und sich demzufolge auch etwas leisten könne.25
Als Reiner Kunze einigermaßen wiederhergestellt ist, bestellt der Dekan ihn zu sich in die Wohnung:
Die Tür ging auf, und er, sehr beleibt, drängte mich mit dem Bauch hinaus. Möglicherweise wusste er, dass er abgehört wurde. Wir gingen spazieren in der Nähe der Pferderennbahn. Erst mal hat er mich fertiggemacht, so wie ein Vater einen Sohn fertigmacht. Denn ich hatte gekündigt, also aufbegehrt gegen das Kollektiv. Das war ein Unding. Dann sagte er, jetzt machen Sie um Gottes willen nicht noch den Fehler und treten aus der Partei aus. Sie schaden allen, die sich für Sie eingesetzt haben. Sie schaden auch mir. Und es gäbe eine Reihe Leute, auch in Berlin, die sich wiederholt für mich eingesetzt hätten, denen würde ich schweren Schaden zufügen. Das war der Grund, weshalb ich erst 68 ausgetreten bin. Bei diesem Gespräch habe ich zu ahnen begonnen, was ich später in den Stasiakten bestätigt fand: Sein Eintreten für mich hatte ihn ins Visier der Staatssicherheit gebracht.
Erster und kostbarster Literaturpreis
Wieder zurück an der Fakultät folgen weitere Parteiaussprachen. Anfang Juni 1959 finden die Gegner ihre lang gesuchte Gelegenheit. Der Berliner Rundfunk hatte eine Sendung mit Liebesgedichten von Reiner Kunze gebracht.
Darunter sind Gedichte wie „DAS MÄRCHEN VOM FLIEDERMÄDCHEN 1954“. Gebaut wie ein Volkslied erzählt es in sieben Strophen von Liebe, Trennung im Krieg und Tod:
Unterm Mond, unterm Mond,
hei! Da bläht sich der Mantel
von einem, der lebengeblieben,
der lebengeblieben.
Doch fällt da, doch fällt da der Mantel zusammen?
Der Hastende stieß nur, ach
An einen Stein, der liegengeblieben,
der liegengeblieben.
(…)
Als ich siebzehn war,
warst du achtzehn Jahr
und schenktest mir Flieder.
Gingen hin zehn Jahr,
was dazwischen war,
ruht unterm Flieder.
Unter den Steinen kam ich um.
Zehn Jahre machen stumm.
Du schenkst einer anderen Flieder.
Sieh auf die Trümmer rings. Weißt du,
warum ich unter ihnen ruh? –
Wir dachten immer nur an Flieder.26
Dieses intime, tragisch-traurige Lied passt nicht in die verlangte sozialistische Lyrik des „Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend bau auf! Für eine bessre Zukunft richten wir die Heimat auf“ oder zu Fürnbergs Agitationssound im Marschrhythmus: „Du hast ja ein Ziel vor den Augen.“
Bislang hatte Reiner Kunze politische Gedichte veröffentlicht, wie man sie von einem Genossen an dieser Fakultät erwartet. Auch er dichtete im Sog des gefeierten Monuments Wladimir Majakowski, der in seinem revolutionären Duktus schmetterte:
(…)
In unserer Zeit
ist nur der
ein Dichter,
ein Mann der Feder
nur der
– der nützt.
Hinweg
mit dieser Sorte
von Torte!
(…)27
Majakowski lässt die Verse tanzen auf der Tribüne des Kommunismus und begeistert Generationen junger Sozialisten. Er wird aufgebaut zur sowjetischen Dichterikone. Doch er hält sich in der Wirklichkeit selbst nicht aus. 1930 begeht er Suizid.
Verfangen in jenem Weltbild, in dem die Feder als schärfste Waffe gilt, dichtet auch Kunze:
AM RANDE BEMERKT
Ich Arbeiterjunge
Nahm Platz.
Am Wirtshaustisch saßen,
Seelisch leidend,
Eine Dame
(Korpulent,
Mit schwarzen Börstchen auf den Lippen),
Schnitzelschneidend
Ein Herr.
Ihm quollen über Kragenklippen
Das Genick und Backenfleisch:
„Ich war früher auch nicht reich,
Das heißt … direkt
War ich es nicht.
(…)
Doch das Proletarische …
Ist nicht unsre Gegenwart.“
– Die Dame kaute. –
(…)
Und sie schaute,
Daß keiner höre,
Als sie fragte,
Ob wohl die Vergangenheit
Nochmals wiederkehre.
(…)
Ach, mir taten diese Menschen leid,
Hatten nicht die Gegenwart,
Nicht die Vergangenheit,
Und auch die Zukunft
War nicht mehr die ihre,
Weil sie lächelnd schon
Am Tische saß.28
Sein Kommentar heute:
Da haben Sie die ganze Arroganz eines grünen jungen Mannes, der dazu erzogen wurde, Menschen nicht nach ihren Qualitäten zu beurteilen, sondern danach, welcher Klasse sie angehören.
Sein Lyrikdebüt gibt Reiner Kunze 1955 in einem schmalen Gedichtband gemeinsam mit Egon Günther, dem späteren DEFA-Filmregisseur. Schon wenig später wünscht der Dichter, er hätte die Texte besser nicht veröffentlicht.
Aber das Bändchen unter dem Titel DIE ZUKUNFT SITZT AM TISCHE ist in der Welt. Im hohen Ton des Parteipathos schwelgen nicht alle, doch die meisten der versammelten Versuche. Nur einige wenige Liebesgedichte entziehen sich. Das besondere Lob der Genossen findet eins, in dem Parteilichkeit und Liebe Hand in Hand gehen. Und so steht man bei dem frühen Kunze auch vor diesem Gedicht:
„MOHR“
(Die Karl Marx am meisten liebten, nannten ihn „Mohr“)
„Mohr … mein Mohr“ –
So nannte ihn Jenny.
Das Wort war so warm wie ihr Herz
Und so zart wie ihr Leib,
Und ihr Mohr war verliebt
In das Wort, in das Herz, in sein Weib,
Und hat uns die Liebe gegeben,
Liebe –
Jahre vom Leben.
„Mohr … Vater Mohr“ –
So riefen ihn zärtlich die Kinder.
Er hat sie geküsst und hat sie geherzt;
Denn so war seine Art.
Er sang ihnen Lieder
Und hatte ein prächtiges Lachen im Bart –
Und das Glück, er hat’s uns gegeben,
Glück –
Das sind Jahre vom Leben.
„Mohr … Freund Mohr“
So sagte sein treuer Genosse zu ihm.
Ihre Freundschaft, die schönste,
Die jemals gewachsen,
Die gab ihm die Kraft,
Und so hat er unbändigen Willens geschafft –
Und hat uns die Siege gegeben,