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Martin Scheil
DER FLÜGELSCHLAG DES ZITRONENFALTERS
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2017
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig
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Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Kapitel Eins
KONTAKT
Kapitel Zwei
KARRIERE
Kapitel Drei
LABYRINTH
Kapitel Vier
GIGANTEN
Kapitel Fünf
KOKON
Kapitel Sechs
HANDSCHRIFTEN
Kapitel Sieben
KOMPASS
Kapitel Acht
MANEGE
Kapitel Neun
ROHRSCHACH
Kapitel Zehn
BLEI
Kapitel Elf
STROBOSKOP
Kapitel Zwölf
ECHOLOT
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Endnoten
Vorwort
Ein Skandal, eine historische Begebenheit ist die Grundlage, auf welcher der vorliegende Roman fußt. Er ist aber genau das. Der Flügelschlag des Zitronenfalters ist ein Roman und erhebt nicht den Anspruch auf Abbildung der Wirklichkeit, auf Darstellung des tatsächlich Geschehenen oder auf die Aufdeckung einer Wahrheit.
Echte Dokumente und Inhalte, die in den Text eingeflossen sind, wurden als solche ausdrücklich gekennzeichnet. Ich habe dem Roman außerdem ein vollständiges Quellen- und Literaturverzeichnis nachgestellt, um meinen Rechercheverlauf nachvollziehbar zu machen.
Dennoch muss zwangsläufig vieles Spekulation bleiben, so dass mit diesem Roman nur eine Alternative in Form eines Mosaiks aus Fiktion und wahrer Begebenheit angeboten werden kann.
Die handelnden Personen sind teils real, teils realen Personen nachempfundenen, teils frei erfunden. Weitere Ähnlichkeiten zu Personen und/oder Ereignissen sind absolut unbeabsichtigt und müssen nicht den Tatsachen entsprechen.
Sie könnten es aber …
Lübeck, im März 2017
Martin Scheil
Könnt Ihr Euch an den toten Ministerpräsidenten in der Badewanne erinnern? Ich weiß, es ist lange her, aber bitte strengt Euch an und kramt es heraus. Alles, was verschüttet ist. Es war eine andere Zeit. Eine andere Welt. Ein anderes Leben. Die Erde stand Kopf damals, in diesem unendlich langen Augenblick, den wir heute „Kalter Krieg“, nennen. Wisst Ihr noch, wie es war, in diesem Kalten Krieg zu leben? Nein? Auch vergessen? Ich sage es Euch. Schlimm war’s. Der nukleare Sensemann immer mit dem Finger am Klingelknopf. Und dann – Ätsch-Bätsch doch wieder nix. Nur ein Klingelstreich. Fake News. Aber ohne das alles wäre diese Sache hier niemals passiert. In keiner aller möglichen Welten. Wisst Ihr es denn nicht mehr? In Ordnung. Schon gut, ich verstehe. Wahrscheinlich habt Ihr alle schon damit abgeschlossen. Habt Eure eigenen Wahrheiten gefunden. Ihr habt Geschichten gehört? Geschichten über den Mossad? Den BND? Die CIA? Waffengeschäfte? Die Camorra vielleicht? Ihr denkt, Ihr wisst was läuft und wie es gewesen ist? Ich kann Euch sagen: vergesst es! Vergesst alles, was ihr darüber wisst. Und all das, was Ihr zu wissen meint. Macht Euch frei davon. Denn nichts von alledem ist wahr. Nichts davon ist wirklich passiert. Aber es gibt einen, der ist dabei gewesen. Die ganze Zeit. Von Anfang an. Und ich werde Euch seine Geschichte erzählen. Denn genau so ist es wirklich gewesen.
Kapitel Eins
KONTAKT
I.
Es herrscht Krieg. Na ja, Kalter Krieg. Aber immerhin. Der Ölpreis steigt und die RAF bringt die Bundesrepublik – das eine Deutschland – zur Verzweiflung. „Die Grenzen der demokratischen Belastbarkeit“, heißt so was dann. Und: „Am Rande des Rechtsstaates operieren“. Sagen die einen. „Weg damit!“, sagen die anderen. Schreien sogar. Und das eigentlich immer. Und die ganz anderen? Heißen immer noch DDR. Das andere Deutschland sozusagen. SBZ. Drüben. Ostblock. Ostzone. Im Osten nichts Neues, auch das ließe sich behaupten. Dann der „Sturm 333“. Häh? Was’n das jetzt wieder? So nennt sich die Offensive der Sowjetunion gegen Afghanistan. 1980 war das. Und sowas schimpft sich jetzt Brennpunkt des Kalten Krieges. So viele Eigentümlichkeiten. Früher ging’s einfach Knüppel auf den Kopf. Nun aber hieß so etwas Konflikt. Oder Einsatz. Kollateralschäden auch damals schon. Mehr als genug. War aber für eine gerechte Sache. Sagen die einen ...
Aber was sein muss, muss sein! Osten gut, Westen schlecht. Oder umgekehrt, je nachdem, wo man halt steht. Wer kann das schon wissen. Barbrak Kamal heißt da einer, der es weiß. Der ist Staatschef in Afghanistan. Kennt heute auch keiner mehr. Kamal aber ist es, der dann mit den Russen kollaboriert. Und das ist auch so eine Sache. Russen, Sowjets, UdSSR, die Roten – alles dasselbe damals. Und die anderen? Amis! NATO bestenfalls. Hier aber: der Geheimdienst. Der schickt Waffen an alle, die bis drei zählen können und gegen die Russen sind. Das wird sich noch rächen. Weiß man heute. Aber wenn der Kommunismus sich ausbreitet, ist alles verloren. Und die anderen sagen dann: Aber, aber. Ist doch nur wider den Imperialismus! Nun ja.
Es klingt so einfach, so manch einem vertraut, und wieder anderen Millionen Jahre weit weg. Es war aber Realität. Jeden Tag. Wer es miterlebt hat, wird es wohl kaum vergessen. Sorgenfalten auf der Stirn der Eltern, Jodtabletten, Wehrdienst, Luftschutzübungen und immer die Worte „Konflikt“, „Offensive“, „Teile der Roten Armee haben..“, und so weiterundsofort. Immer pünktlich um viertel nach Acht in der Tageschau. Ungläubiges Staunen. Treffen sich zwei Weltanschauungen. Sagt die eine „Und? Wie geht’s?“ Sagt die andere: „Wie soll’s schon gehen. Gleichbleibend beschissen.“ Und auch wenn Entspannung in Sicht war, seit der Kubakrise hatte die Welt ihr Testament dann doch immer in der Manteltasche bei sich. Man weiß ja nie. Millionen Soldaten, Panzer, Kampfflugzeuge, dazu Betonköpfe in den Parlamenten und Parlamentäre auf den Konferenzen. Von den Atomwaffen fangen wir hier gar nicht erst an. Afghanistan – so wird man später sagen – würde das sowjetische Vietnam werden. Aber das stimmt nicht ganz. Im Falle Vietnams waren die Verluste an amerikanischen Soldaten dem heimischen Publikum nicht mehr vermittelbar. Zumutbar ohnehin nicht. Das war bei den Russen anders. Der Tod des russischen Soldaten war schon immer billig zu haben, da konnte auch die Truppe in Afghanistan keine Extrawurst erwarten. Speznas? Ach komm ... Nein, am Ende ging der UdSSR schlicht das Geld aus. Konto leer, Portemonnaie verloren, Licht aus. Erst in Afghanistan und dann im ganzen Warschauer Pakt. Und das war es dann. Do Swidanja. All den Arsenalen wurde ein Strich durch die Rechnung gemacht, im wahrsten Sinne. Geschichte kann so unspektakulär sein. „Wenn wir den Menschen nicht ändern, dann fängt die ganze Scheiße von vorne an!“ So sprach Karl Marx und so kam es denn auch. Wie visionär.
Dann gab es noch die blockfreien Staaten und es gab Embargos und es gab Sicherheitskonferenzen und was noch alles. Aber am Ende wurde dann doch die Zahl der Atomwaffen immer wieder und noch einmal erhöht, bis dem Einen dann – wir hatten das ja schon – die Puste ausging. Uff. Tut-Zug stoppt mit Tender leer. Doch so weit sind wir noch nicht. Oh, so weit sind wir noch lange nicht! Denn mitten in all dem Getöse, mittendrin, als alles, was einmal Bipolar in Multipolar und noch viel später in Monopolar verwandeln sollte noch so endlos weit weg scheint, mittendrin und völlig ahnungslos steht nun also Einer an dem Tresen einer Bierschenke und fragt uns zurecht, was das alles mit ihm zu tun haben mag. Achselzucken.
Es darf hier schon verraten werden: gar nichts. Oder aber: alles. Denn der Schleier, der über allem Geschehen in Europa und der Welt liegt, lüftet sich nicht. Noch nicht. Die Supermächte sind wie zwei nervöse Hunde an bis zum Zerreißen gespannten Ketten, die einander ankläffen und so gern zubeißen würden. Alles, was der Mensch in seinem Einfallsreichtum erdenken könnte, um sich selbst auszulöschen, steht sozusagen Gewehr bei Fuß. Die Entfesselung als schwarzer Punkt, ganz da hinten am Horizont. Anspannung ist greifbar. Grenzkontrolle. Was hamse denn da? Sirenengeheul. Kaleidoskopisches Lichtermeer aus Scherben und Blaulicht. Hahaha. Reingefallen! Nur eine Übung. Und dennoch Alltag, auch in der Bundesrepublik zu jener Zeit. Und in all diesem waffenstarrenden Geschehen, in dieser Zeit, in der man nicht weiß, wer Falke oder Taube ist, spielt unsere Geschichte, und nun wollen wir sie denn auch beginnen lassen.
II.
Es ließe sich also so zusammenfassen: es war eine ganze Menge los gewesen, seit Richard genannt Rick Pfeffer 1979, also vor nunmehr fast sieben Jahren den Job bei jener Zeitung begonnen hatte. Eine ganze Menge los, jawohl, und es hatte nicht danach ausgesehen, dass sich dies noch einmal ändern sollte. Doch das alles interessierte Rick Pfeffer heute Abend herzlich wenig.
Es war Freitag, und es war wieder einer dieser speziellen Tage. Richard genannt Rick Pfeffer saß jedenfalls fest im Sattel. Ach nee. So gar nicht. Warte ... ach verdammt. Er saß im Sattelschlepper, einer Bierschenke mittlerer Größe und unterer Ansprüche nahe der A1 bei Delmenhorst und dachte über die vergangenen Wochen nach. Da aber hatte er allerdings fest im Sattel gesessen, hatte sogar das Lasso geschwungen und laut „Yehaaw“, geschrien. Jene vergangenen Wochen, die im heutigen Tag ihr unrühmliches aber dafür nicht gerade leises Ende gefunden hatten. Was war denn bloß schief gelaufen? Grübel, grübel.
Eigentlich hatte alles ganz vortrefflich angefangen. Formidabel könnte man sagen. Damals. Mit der neuen Stelle. Also vor jetzt fast genau sieben Jahren. Wie gesagt. Da hatte er den Job als Redakteur für den Lokalteil des Weser-Land-Blattes angetreten. Uff, der Lokalteil. Na ja. Aber gut, irgendwo gibt es immer eine erste Stufe und die muss man nehmen, wenn man auf der Treppe ganz nach oben will. Und genau dort hatte er hingewollt. Ganz nach oben. Zugegeben: das Weser-Land-Blatt war jetzt nicht gerade der SPIEGEL oder die FRANKFURTER, aber immerhin: er konnte dort als Journalist arbeiten. Endlich konnte er zeigen, was er so drauf hatte, ganz so, wie er es sich immer ausgemalt, wie er es sich immer gewünscht hatte. Und eigentlich war dann ja auch alles recht gut angelaufen. Mit seinen in der Tat hervorragenden Zeugnissen hatte er alle Kollegen ausgestochen, die sich gemeinsam mit ihm auf die Stelle bewarben, selbst die erfahrenen und die viel gereisten. In einem nämlich war er schon immer der beste: im Überzeugen. „Fünf Minuten! Geben Sie mir nur fünf Minuten, mehr brauche ich nicht! Wenn Sie mich dann nicht wollen, gehe ich sofort!“, hatte er in seine Bewerbung geschrieben und mehr hatte er dann tatsächlich nicht gebraucht. Kleiner Cognac, Herr Redakteur? Aber sicher doch! Kling, Schlürf, Ahhh!
Dann aber ging es los. Und die Arbeit selbst konnte einen echten Rick Pfeffer wenig überzeugen. „Zuchtbulle des Jahres kommt aus Bremen“, lautete die Überschrift des Artikels. Es ging, welch Überraschung, um einen stattlichen Holsteiner-Bullen, der von den Züchtern der Region und den Journalisten der Fachpresse zu eben jenem Kuh-König gewählt worden war. Nach Pulitzer-Preis klang das eher nicht. Au Backe.
„Keine Sau interessiert dieser Scheiß“, murmelte Pfeffer noch, als er das jungfräuliche, weiße Blatt in seine Olivetta spannte und anfing, den Artikel zu schreiben. „Und das sollen jetzt meine ersten Zeilen als Journalist sein? Als Redakteur? Das ist ja lächerlich!“ Erst mal eine HB. Er rauchte langsam und betrachtete das Bild des Rindes. Ja, ja, dochdoch. Er musste es zugeben: der Bulle hatte tatsächlich eine stattliche Größe. Auch seine ganze Statur war um so vieles beeindruckender, als die der anderen Bullen. Hm ... tja, könnte das und - aber was wäre wenn der ... aber dann hätte ja ... GENAU! Und da schoss es ihm ein: der ist gedopt! Aber klar doch! Zugepumpt mit Steroiden. Dicht bis unter die Hufe! Wie hatte er das übersehen können, es war doch sonnenklar! Alle anderen Tiere sahen einfach nur gewöhnlich aus, normal eben. Aber dieser Bulle war so wohlgediehen, wie man es sonst nur von den DDR-Schwimmern oder Kugelstoßerinnen aus China kennt. Dann sah sich Rick Pfeffer das Bild noch einmal genauer an. Lupe raus und die Glupschkorken bis zum Zerplatzen fokussiert. Da waren zunächst der Bulle und sein Besitzer. Gut. Der Bulle war groß und sehr kräftig. Also gedopt – ja. Aber der wird ja nun nicht allein in die Apotheke gegangen sein. Der Besitzer hielt in einer Hand die Trophäe, in der anderen die Leine, die am Nasenring des Bullen befestigt war. Er wirkte eigentlich ganz unverdächtig. Im Hintergrund die Juroren und ... da! Mit seinem überdimensionierten Leseglas konnte Pfeffer es sehen! Fast nicht zu erkennen, stand im Hintergrund ein Herr mittleren Alters, Haarkranz, Brille, dunkler Anzug. Dreiteiler, Seidenkrawatte. „Warum trägt der Typ einen Anzug?“, schoss es Pfeffer durch den Kopf. Alle waren in Arbeitskleidung, alle! Sie trugen Latzhosen oder ein ähnliches Gewand niedersächsischer Knechtsnatur, nur dieser eine Kerl trug einen Anzug. Aha. Schon mal verdächtig. Aber es beschlich Pfeffer auch der Gedanke, den Anzugträger schon irgendwo einmal gesehen zu haben. Nur wo?
Er nahm das Foto und ging zu Werner Bangemann, dem Redaktionsleiter. „Der Artikel muss nach hinten gestellt werden. Unbedingt“. Zeit, Zeit. Er rang nach Worten. Er schürzte vor, eine Spur zu haben, nur ein wenig Zeit, noch ein wenig mehr, die Fotos wären nichts geworden, und er müsse noch einmal zum Züchter, um ein vernünftiges Bild zu schießen. Bangemann knurrte zwar und kürzte seine Vergütung um zwei Pfennig pro Zeile, sagte dann aber so etwas wie „‘s interessiert doch eh kein Schwein!“
„Noch nicht“, dachte sich Pfeffer schelmisch grinsend, „noch nicht!“ Und huch – die Sache begann ihm langsam Spaß zu machen. War das jetzt dieses Jagdfieber, von dem alle immer gesprochen hatten? Mal sehen.
Er verließ das Verlagshaus und plötzlich fiel ihm ein, dass er gar nicht wusste, wohin er nun eigentlich gehen sollte. „Nachgehen gleich Weggehen“, war sein erster Gedanke, als er das Bild oben eingesteckt hatte. Jetzt aber fragte er sich, was er damit eigentlich hatte sagen wollen. Was tut man, wenn man meint, jemanden zu erkennen, aber nicht weiß, wo man suchen soll?
„Oh Mann“, seufzte Pfeffer. „Eine Maschine müsste es geben. Eine Suchmaschine. Ständig verfügbar. Begriff rein, Ergebnis raus!“ Hm ..., während er so darüber nachdachte, fragte er sich, ob nicht „Findemaschine“, ein treffenderer Name wäre, als ihm auch schon die Sinnlosigkeit des gesamten Gedankens bewusst wurde. Zu viel Science Fiction. Eher so Lem oder Dick. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm erst einmal ein paar kräftige Züge. Schulterzucken, Stirnekratzen. Paff Paff und Asche abschnippen. Was soll’s schon. Er beschloss, zunächst zum Hof des Züchters zu fahren. Er hatte vom Verlag einen nagelneuen Opel Senator zur Verfügung gestellt bekommen, den er sich jedoch mit drei weiteren Kollegen teilen musste. Die saßen aber im Moment alle oben in den verrauchten Redaktionsräumen und so gehörte das stolze Flaggschiff der Opelfamilie hier und heute nur ihm allein. Er stieg ein, schloss die Tür mit dem angenehmen Schmatzen eines Neuwagens und fuhr los. Um diese Uhrzeit war nicht viel los auf den Straßen und so war er bereits wenig später am Hof des Züchters angekommen. Er begann natürlich sofort damit, das Gelände zu observieren.
So verging die Zeit und nachdem Enthüllungsjournalist Rick Pfeffer zwar noch nichts enthüllt, aber dafür zwei Stunden lang einen Acker mit Stall und Wohnhaus observiert hatte, entschloss er sich, abermals zu handeln. Wirkung vor Deckung. Nur so geht es! „Nur wer sich traut, bekommt die schönste Braut!“, hörte er noch seinen alten Vater vor sich hinzitieren, als er aus dem Senator stieg und auf das Haus zuging. Doch ach, sofort drang die Feuchtigkeit des vom ewigen Regen matschig gewordenen Bodens in seine nicht allzu teuren Schuhe und er spürte, wie die Kälte des Schlamms seine Füße umschloss. Das war äußerst unangenehm. Sein erstes Gehalt hatte er noch nicht bekommen und wenn jetzt die Schuhe hin waren, müsste er wohl morgen sockfuss zur Arbeit gehen. „Verdammt!“, rief er halblaut. Und dann lauter: „Verdammt, verdammt, verdammt!“, und drehte schon, um wieder in Richtung Opel Senator zu stelzen, als er plötzlich wie vom Blitz getroffen stehen blieb.
„Nein! Echt jetzt! NEIN! Es wird hier nicht aufgegeben wegen einem einzigen Paar Schuhe! Vater hat auch nicht aufgegeben damals im Osten, und was hatte der erst auszustehen. Das hier ist jetzt mein Krieg. Mein Krieg gegen Lüge und Rosstäuscherei, mein Krieg für Gerechtigkeit. Und für die Wahrheit.“
Pathetisch? Oh ja! Aber Pfeffer bemerkte, wie er sich bei diesen Worten, die er beinahe ein wenig zu laut gesagt hatte innerlich aufrichtete. Haltung meine Herren! Er war jetzt am Zug. Er war der einzig Übriggebliebene. Es gab sonst niemanden mehr, der sich dieser Sache hätte stellen können, und morgen war es vielleicht schon zu spät.
Er drehte also erneut um und ging nun – entschlossen und zielgerichtet – auf das Hauptgebäude des Hofes zu und klopfte. Es wurde geöffnet und ihm stockte der Atem.
Niemand anderes als der Anzugträger vom Foto öffnete ihm.
„Ja bitte?“
Pfeffer starrte den Anzugträger ungläubig an. Ostdialekt! Erwischt!
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte der nur. Pfeffer starrte weiter. Er konnte es nicht fassen. Es verging eine Weile. Dann wieder der alte Anzugträger: „Ja, was wolln’se denn, Junge?“ Wieder nichts. Dann rief der Anzugträger leicht nach hinten gewandt: „MATTHIAS! Komm’ mal an die Tür!“, und wieder zu Pfeffer: „Warten ‘se mal kurz hier.“ Bums, und zu war die Tür. Pfeffer verstand die Welt nicht mehr. Nur Sekunden später öffnete sich die Tür erneut und vor dem Journalisten Richard genannt Rick Pfeffer stand der Züchter, und der war ebenso einschüchternd wie sein preisgekrönter Bulle.
„Ja?“, fragte dieser, und jetzt konnte Pfeffer antworten. „Pfeffer, vom Weser-Land-Blatt. Ich war gestern auf der Preisverleihung.“
„Ja, ach so, Mensch entschuldigen Sie bitte meinen alten Vater, ich habe ihm schon hundertmal gesagt, er soll nicht zur Tür gehen!“, und ganz leise fügte er hinzu „der hört ja fast nix mehr, wissen Sie? Aber die Türklingel, die hört er noch. Weiß der Geier warum.“
Das Eis war gebrochen, jetzt konnte es losgehen. Die Fragen sprudelten nur so aus Pfeffer heraus und eine lag auf der Hand.
„Wenn der nichts mehr hört, warum flüstern Sie dann?“
„Auch wieder wahr.“ Der Züchter runzelte die Stirn. Verunsicherung. Ha! Jetzt oder nie, Pfeffer musste in die Offensive gehen. Wirkung vor Deckung.
„Ihr, ... also der Bulle, ... der war ja wirklich ziemlich groß, nicht wahr!“, begann er sein Verhör mit dem ahnungslosen Delinquenten.
„Ja, das kann man wohl sagen“, schoss es aus dem Züchter heraus. „Den haben wir ganz ordentlich hinbekommen, was? Aufgepäppelt. Das macht die gute Luft hier und das saftige Gras. Alles hundert Prozent biologisch. Außerdem die nette Gesellschaft nicht zu vergessen“, schmitzte der Züchter und zeigte auf die weidenden Kühe neben dem Haus.
„Gute Luft am Arsch“, grummelte Pfeffer in Gedanken. „So dreist zu lügen. Aber pass bloß auf, Dich knall ich ab wie eine wilde Sau!“ Und laut sagte er: „Und was sonst noch? Ich meine, haben Sie denn kein Geheimrezept? Das Gras, die Gesellschaft, na kommen Sie, das ist doch nicht alles, oder?“
Und der Züchter: „Nee nee, der kriegt auch richtig gutes Kraftfutter. Die Mischung habe ich selbst zusammengestellt. Aber mehr kriegen ‘se darüber nicht aus mir raus. Betriebsgeheimnis!“
„Aha!“, dachte Pfeffer, „jetzt habe ich Dich von wegen Betriebsgeheimnis!“ Mehr brauchte er gar nicht zu wissen. Der Anzugträger auf dem Hof, Kraftfutter, Betriebsgeheimnis und wieso denn „alter Vater“. Hielt der ihn etwa für dumm? Es passte einfach alles, Pfeffer hatte die Sensation auf der Feder. Es vergingen noch einige Minuten inhaltlosen Palavers, ehe Rick Pfeffer es für angemessen hielt, sich verabschieden zu können.
„Ich muss jetzt weiter. Viel zu tun!“, raunte er gedankenversunken in Richtung Züchter und ließ diesen in der Tür stehen, während der ihm hinterher rief, doch bitte unbedingt ein anständiges Foto von Helmut, so hieß wohl jener kapitale Bulle, abzudrucken! Denkste. Das könnte Dir so passen!
Wieder im Senator startete Pfeffer den Motor und fuhr los. Jetzt passte alles zusammen. Der abnorm kräftige Bulle, die Geheimniskrämerei des Züchters, der Mann im Anzug und Brille, der angeblich der Vater des Züchters war. Wenn der denn aber der Vater sein soll, woher dann dieser beeindruckende Dialekt. Hier in der Gegend war man doch so verdammt stolz darauf, dieses ach so gute Hochdeutsch zu sprechen. Das Beste in der BRD, blablabla. Eines war ihm klar: der Anzugträger war aus der Ostzone. Deswegen der Dialekt, deswegen die Geheimniskrämerei, und deswegen der kräftige Bulle. Jetzt ergab es alles einen Sinn. Der Kerl hatte der armen Kuh bestimmt dieses Zeugs gespritzt, was die von Drüben immer vor Olympia bekommen, damit sie dem Klassenfeind zeigen, wo Hammer und Sichel hängen. Aber nicht mit ihm, nicht mit Rick Pfeffer, die werden schon sehen, mit wem sie sich hier angelegt haben. Am Ende waren das nicht nur irgendwelche Aufbaupräparate sondern sogar Gifte. Um die westdeutsche Bevölkerung auszuschalten. Schließlich handelte es sich hier um einen Zuchtbullen allererster Güte. Preisgekrönt. Wenn der im Jahr durchschnittlich 600 Kühe beglückt und deren Nachkommen dann wieder jeweils ... Es war nicht auszudenken! Skandal! Staatsaffäre! In nur wenigen Jahren könnte das gesamte Bundesgebiet von diesen Stasi-Kühen unterwandert sein, so dass die Auswirkungen praktisch global wären. Erst fällt der Rhein und dann die freie Welt. Ja, ja, das werden wir ja sehen die Herren Kommunisten! Sie alle hatten die Rechnung ohne Rick Pfeffer gemacht.
Noch am Abend schrieb er den Artikel, aber jetzt lautete die Überschrift „Kalter Krieg beim Bullenpreis! Der Sieger war gedopt!“ Er schrieb den Artikel so schnell, dass seine Finger über die Schreibmaschine zu fliegen schienen, und schon nach einer knappen halbe Stunde war er fertig. Er las noch einmal drüber. Aber er war sich so sicher wie noch nie in seinem Leben. Das konnte, das musste genau so gedruckt werden, gar keine Frage. Also nichts wie raus damit. Es gab dabei nur ein Problem: wie sollte er diesen neuen Artikel an Redaktionsleiter Werner Bangemann vorbeibekommen? Vielleicht hing der sogar mit drin? Warum sonst sollte man wohl zu einem Ereignis mit so enormer politischer Sprengkraft einen Anfänger schicken? Jetzt passte auch noch das letzte Puzzlestück in dieses große enigmatische Rätsel hinein. Der Redaktionsleiter hatte aber nicht mit der Spürnase eines Rick Pfeffer gerechnet. Niemand hatte damit gerechnet. Und wer weiß, wer sonst noch alles mit drin hing. Vielleicht befand er sich auch mitten in einer kommunistischen Zelle, die von Moskau gelenkt den Westen infiltrieren sollte. Na ja, das war dann vielleicht doch ein bisschen zu weit hergeholt, aber alles andere war nichts als die Wahrheit. Mindestens. Also rauf aufs Kanonendeck und Sicht nach vorn.