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Rick Pfeffer stand von seinem hölzernen Drehstuhl auf, ging hinüber zur Tür des Redaktionsleiters und klopfte. Poch, poch. Wie man es halt so tut. Und dann, wie man es halt so macht: „Herein!“ An seinem Schreibtisch saß Werner Bangemann mit seinem grobschlächtigen Körper und dem aus der Mode gekommenen Bürstenschnitt. Auf der Nase eine Lesebrille, die Zigarette qualmte im Aschenbecher. Aufgeschaut und kurz gegen das Licht der Schreibtischlampe geblinzelt, dann aber: „Pfeffer. Ich dachte, sie sind den ganzen Tag weg. Was machen sie denn noch hier? Oder schon wieder hier? Oder was auch immer. Ich habe jedenfalls keine Zeit.“
„Ich habe das Foto doch nicht gebraucht. Es war ja kaum genug Platz für den Artikel“, entgegnete Pfeffer.
„Gut, mir auch egal. Und wo ist der Artikel?“
„Ja, also den habe ich schon in die Schriftsetzung gegeben, damit er morgen noch im Landlust-Teil erscheinen kann. Ich hoffe, das geht in Ordnung. Aber weil doch die Zeit so drängt.“
„Sind sie bescheuert oder was, Pfeffer?“ Ups. Wurde Bangemann jetzt etwa laut? Tatsache. Und da kam noch mehr. „Alles was aus dieser Abteilung in die Schriftsetzung geht, geht vorher über meinen Schreibtisch. Das habe ich doch nun wirklich oft genug gesagt. Sind sie taub oder was? Was soll denn der Scheiß. Sie sind die erste Woche hier und gleich so was! Holen Sie das zurück!“, er nahm die Zigarette und tat einen tiefen Zug. Die Brille hatte er schon beim ersten Wort energisch abgestreift und fuchtelte damit nun wie mit einem Marschallsstab herum. Pfeffer nutzte die Zeit, in der Werner Bangemann an seiner Zigarette wie an einem Asthma-Inhalator zog: „Ich weiß, und ich bitte natürlich um Entschuldigung. Aber es waren doch eh nur ein paar Zeilen über diese Kuh-Modenschau. Ich wollte Ihre Zeit nicht verschwenden, und der Landlust-Teil kommt eben nur am Mittwoch. Nächste Woche wäre der Artikel nichts mehr wert gewesen, und der Züchter wäre uns aufs Dach gestiegen. Also was soll’s.“ Kurze Pause. „Na ja, habe ich mir so gedacht. Wie heißt es? Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern.“
Der Redaktionsleiter ließ sich seinen Rücken in die Stuhllehne sinken, wirkte aber keineswegs beschwichtigt: „Haben Sie sich so gedacht, ja?“ Noch eine Pause. Pfeffer wurde schwer ums Herz. Dann aber: „Weil das Ihre erste Sache war Pfeffer, will ich hier mal Gnade vor Recht ergehen lassen. Und kommen sie mir nicht mit so einem Geschwafel. Ab jetzt halten Sie hier schön die Fresse und machen, was man ihnen sagt. Ansonsten sind sie hier genauso schnell wieder raus, wie mit Zweifuffzich im Puff. Ist das klar?“
„Klar“, antwortete Pfeffer. „Also kann ich der Schriftsetzung sagen, dass das okay ist?“
„Meinetwegen“, grummelte Bangemann. „Aber wie gesagt: damit ist ihre Schonzeit schon am ersten Tag abgelaufen, Pfeffer! Ab jetzt kein Welpenschutz mehr! Verstanden?“
„Total verstanden“, duckmäuserte Pfeffer und verließ den Raum, ohne dass sich die beiden verabschiedeten.
Kaum draußen, beschleunigte er seinen Schritt. Jetzt musste er sich beeilen, um den Artikel wirklich noch vor Redaktionsschluss in den Druck zu bekommen. Er zog die letzte Seite aus seiner Schreibmaschine und lief zum Paternoster. In der Schriftsetzung angekommen, knallte er dem Schichtleiter die losen Blätter regelrecht auf den Tisch!
„Befehl von ganz oben. Das muss morgen auf die Titelseite! Und das ganze ziemlich pronto!“, bellte er dem Schichtleiter zu. „Und absolute Funkstille. Wenn das morgen kommt, dann platzt hier die Bombe!“
Der Schichtleiter las den Artikel kurz an, sah auf das Foto, las etwas weiter und kam aus dem Stirnrunzeln nicht heraus. Seine Augen weiteten und verengten sich abwechselnd, bevor er von der Seite hochsah und einige Sekunden brauchte, um die richtigen Worte zu finden.
„Ist das ihr Ernst?“, fragte er Pfeffer, in dem er nun abermals die Augenbrauen hochzog.
„Mein voller Ernst!“, antwortete Pfeffer und ergänzte noch einmal „Ist von ganz oben abgesegnet. Auch wenn wir damit Gott spielen!“ „So!“, dachte Pfeffer, das hatte gesessen. Jetzt musste der Herr Schichtleiter verstehen, wie ernst es ihm war und dass er nicht bereit war, sich einschüchtern zu lassen. Der Schichtleiter war jedoch unangenehm und unübersehbar unbeeindruckt indem er sagte „Da muss ich mich beim Redaktionsleiter rückversichern.“ Er griff zum Telefon, wählte mit der Drehscheibe die entsprechende Kurzwahl und stützte seinen Kopf auf das veritable Doppelkinn, während er anfing zu sprechen.
„Moin Werner, hier ist Wolfgang vom Druck. Du sag mal, hast Du diesen Halbschwachsinnigen hier runtergeschickt mit diesem Bullen-Stasi-Dings-Artikel? Hast Du das abgesegnet? Das mit dem Zuchtbullen? Hmmm. Hmmm. Wirklich? Gerade eben? Na, dann ist es ja gut. In Ordnung. Bis morgen.“ Er legte den Hörer auf, wandte sich wieder Pfeffer zu und hatte noch immer diese skeptische Falte auf der Stirn. Die Augenbrauen allerdings waren wieder in Ausgangsposition. Immerhin.
„Wenn Werner das abgesegnet hat, dann ist das in Ordnung. Er sagt, Du warst vor fünf Minuten noch deswegen im Büro und er hätte Dir für das Ding hier“, er schwenkte die beschriebenen Seiten „einen Freifahrtschein gegeben. Da musst Du mächtig Eindruck gemacht haben, Junge. Sonst lässt Werner Niemandem so’n Quatsch durchgehen. Aber von mir aus. Dann halt morgen auf’m Titel. Aber damit wir uns verstehen: so läuft das normalerweise nicht!“
Normalerweise. Ein Wort für den Pöbel, für alle Unwissenden, für die Folger, nicht für die Führer, für die Hütten, nicht die Paläste für die ... All das dachte Pfeffer und war im Gehen begriffen, während er noch sah, wie der Schriftsetzer sich mit seinem Stuhl herumdrehte und ihn keines weiteren Blickes mehr würdigte.
In der folgenden Nacht machte Rick Pfeffer kein Auge zu. Ab jetzt war alles möglich, vielleicht würden die sogar versuchen, ihn umzulegen. „Die machen vor nichts Halt“, sagte er sich immer wieder. War es richtig, zu tun, was er getan hatte? Gegen Mitternacht begann er, richtig Angst zu bekommen und wünschte sich, er könne alles rückgängig machen. Wenn er doch nur anders in das Gespräch mit dem Züchter gegangen wäre. Er hätte ihm auch von seiner Zeit im SDS erzählen können, und dass er das mit dem Kommunismus ja gar nicht so unsympathisch fand. Eigentlich war das ja ohnehin die logische Entwicklung. Und dass die Roten dem Westen überlegen waren, hat man ja damals schon gesehen. 45 oder wann? Aber nun war es zu spät. Nun waren es nur noch wenige Stunden bis zur Auslieferung, bis die Zeitung an den Kiosken und Trinkhallen lag, bis sie tausendfach in die Haushalte flatterte und in der Straßenbahn den Besitzer wechselte.
III.
Und dann war es geschehen.
Als Rick Pfeffer am nächsten Morgen in die Redaktion kam, übernächtigt zwar, aber dennoch in gespannter Erwartung auf die Lawine, welche seine Enthüllungen ausgelöst haben würde, erwischte diese ihn auch kurzerhand und unmittelbar. Er war durch den Haupteingang ins Foyer getreten, da sah er sie bereits. Tuschelnde Mitarbeiter, vorgehaltene Hände, verkniffene Blicke, doch auch starrende Augen, die nur auf ihn gerichtet waren. „Dabei bin ich doch noch gar nicht lange hier“, dachte er noch, während er die Gänge abschritt. „Das muss ja eingeschlagen haben wie eine Bombe, oder was ist mit denen los?“ Er grinste still und dachte weiter „Sag’ ich ja. wie eine Bombe:“
Er ging weiter und genoss sichtlich die Anerkennung, die wie ein warmer Sommerregen auf ihn herab zu prasseln schien. Ein lockerer Gruß hier, ein Augenzwinkern da, jaja, plötzlich wusste der sonst eher grob reservierte Rick Pfeffer sie alle in seinen Bann zu ziehen. Und waren nicht gerade die Augen der weiblichen Mitarbeiter, vornehmlich die der beiden Sekretärinnen vom Sport auf ihn gerichtet? „Nicht nur möglich, sondern höchstwahrscheinlich! Nette Schlampen! Ich brech’ die Herzen der stolzesten Frauen ...“ Lalala und plötzlich pfiff er auch noch.
Aber dann ... ja, dann knallte es.
So sehr, dass es ihn wie ein Hammerschlag traf. So abrupt, dass er sich kurz aber ordentlich sammeln musste, um zu begreifen was gerade passierte.
„Da ist er ja! Sofort zu mir!“, brüllte Werner Bangemann just in dem Moment, in welchem er ihn erblickte.
„Da ist er ja!“, brüllte er.
Schon wieder. Jedes einzelne Wort schlug ein wie ein Schrapnell.
Also rein, Tür zu, Stahlhelm auf.
„Haben Sie diese Scheiße verzapft? Ach, was frag’ ich eigentlich, Ihr dämlicher Name steht ja direkt oben drüber. Da! Sind Sie eigentlich total bescheuert, Pfeffer? Sind Sie vielleicht geisteskrank oder sowas in der Richtung? Berühren sich bei Ihnen irgendwo zwei Drähte, die da nichts zu suchen haben?“
Werner Bangemann war außer sich vor Wut und Richard genannt Rick Pfeffer wusste plötzlich nicht mehr, wie ihm geschah. Und es ging weiter. Bangemann war wie ein menschliches Maschinengewehr und feuerte Salve um Salve auf ihn ab. „Mann, bitte Pfeffer, bitte sagen Sie mir, dass Sie besoffen waren, als Sie das geschrieben haben. Echt. Bitte! Ansonsten würde das nämlich bedeuten, dass ich hier einen GEISTIG BEHINDERTEN EINGESTELLT HABE!“
Er schrie jetzt, wedelte mit der Morgenausgabe vor Pfeffers Gesicht herum und ließ sich leider nicht unterbrechen. Dabei hätte Pfeffer gern gewusst, wo genau eigentlich das Problem lag. Dann plötzlich stieß ihm Bangemann die zusammengerollte Zeitung unter das Kinn, so dass Pfeffer gezwungen war, den Kopf zu heben.
„Elf Jahre bin ich jetzt hier, elf! Aber sowas ist mir noch nicht untergekommen. Was haben Sie sich bloß dabei gedacht? Was soll dieser Scheiß, Mann? Sie können doch nicht ... „, doch jetzt unterbrach ihn Pfeffer:
„Also, Herr Bangemann wenn ich kurz bitten dürfte ... „, weiter kam er allerdings nicht, denn schon wieder brachen bei dem mittlerweile rot angelaufenen Redaktionsleiter alle Dämme.
„Ey, echt jetzt Mann, Sie haben hier überhaupt nichts zu bitten. Sie haben hier allerhöchstens tausendmal Danke zu sagen, dass ich ein zivilisierter Mensch bin und Ihnen dafür nicht gleich eins in die Fresse haue, Pfeffer. In der Ostzone würde man Sie für sowas hinterm Schuppen an die Wand stellen, wissen Sie das eigentlich? Stehen Sie da nicht so rum wie’n vollgeschissener Strumpf! Ich habe Sie was gefragt!“
Und nun war Rick Pfeffer doch etwas verunsichert. Als er anfing zu sprechen, kam es ihm vor, als würde er sich sogar stammeln hören.
„Also, es gibt da unwiderlegbare Beweise für den ... also ... den ...“ Tatsächlich, es war so. Er stammelte. Er. Der Pfeffer-Treffer. „... die haben dem Tier auf dem Hof ...“ Weiter kam er nicht, denn das Telefon klingelte. Bangemann hob den Hörer ab und knallte ihn ohne irgendetwas zu sagen direkt wieder auf die Gabel.
„Bitte. Fahren Sie fort, Pfeffer. Ich bin gespannt!“
Pfeffer meinte, einen süffisanten Unterton in der Stimme des Redaktionsleiters zu hören, und nun morphte sich seine Verunsicherung langsam in Richtung ernsthafter Sorge. Gerade als er wieder zu seinem Bericht ansetzten wollte, klingelte das Telefon erneut. Und wieder: Kopf wird rot, Hörer abgenommen, Hörer wird auf das Gerät geknallt.
Dann Schweigen. Nur ein paar Atemzüge lang. Kein Dummdidumm, kein Däumchendreh. Der Redaktionsleiter gestikuliert hektisch bis aufgeregt, schreit die immer gleichen Beschuldigungen. Dann: Pfeffer möge doch fortfahren, und just in dem Moment, als dieser ein wenig zu lang einatmete, um sich erneut für seinen Kampf gegen den Bolschewismus zu erklären, war es ein Gefühl, als wenn eine Atombombe zündete, als das Telefon schon wieder zu klingeln begann. Bangemann ballte sein Gesicht nun endgültig zur Faust, doch diesmal hatte er sich offenbar entschlossen, den Anruf entgegenzunehmen. Er riss den Hörer zu sich, presste ihn ans Ohr, dass Pfeffer ganz – Achtung – bange wurde und ging tatsächlich ran.
„Was ist denn verdammt? Ich bringe hier gerade jemanden um die Ecke! Wenn das jetzt nicht der scheiß Generalbundesanwalt persönlich ist, dann bin ich für niemanden zu sprechen!“
Dann aber hörte er zu. Und hörte zu, und er hörte zu. Zwischendurch gab er immer wieder ein kurzes „Hm“, oder auch „Aha“, von sich. Einmal entfuhr ihm sogar ein „Ach was, tatsächlich?“, bis er schließlich zum „Wer hätte das gedacht!“, kam, sich bedankte und verabschiedete.
Bevor er auflegte drückte er den Hörer auf die Brust, schloss die Augen, senkte den Kopf und hielt einige Sekunden inne. Schweres Atmen. Dann legte er langsam den Hörer wieder auf, hob den Kopf und sah Pfeffer mit kaltem durchdringendem Blick an. Er begann ebenso ruhig wie kontrolliert zu sprechen. Und auch wenn es vielleicht nicht ganz der Wahrheit entsprach, hätte man Rick Pfeffer später gefragt, er hätte schwören können, dass Bangemann in diesem Moment so ausgesehen hatte, als täte er sich selbst sehr, sehr leid!
„So. Jetzt mal von Mann zu Mann, Pfeffer. Ich werde hier nichts zurücknehmen. Sie haben mich beschissen. So wie Sie diese Geschichte an mir vorbeigeschleust haben, das war unter aller Kanone. Sie haben den Schichtleiter von der Schriftsetzung belogen und uns dann auch noch gegeneinander ausgespielt. Noch so ein Unding. Und die Geschichte selbst – ich kann nicht begreifen, wie Sie darauf gekommen sind. Zumal ich nichts von irgendwelchen Beweisen gelesen habe in diesem ... diesem Artikel.“
Er zeigte auf die zusammengeworfene Zeitung.
„Das ... das ist doch alles nur Geschwafel, Pfeffer. Und Sie schwadronieren da über den Klassenfeind als wären Sie Walter Hallstein persönlich. Aber wissen Sie was?“ Er machte eine bedeutungsschwere Pause und musste sich abermals sammeln, um nicht wieder zu schreien. „Aus zwei Gründen, haben Sie heute ungeheures Glück. Erstens: es ist nur der beschissene Lokalteil von einem Käseblatt. Okay, scheiß’ drauf, das ist der Grund, warum ich hier so ruhig bleiben kann. Und zweitens: ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben, aber es ist so: Fiete Weiler – ja genau – Sie Idiot kennen nicht einmal seinen Namen, aber Fiete Weiler ist hier einer der größten Landwirte in der Gegend. Der hat nicht nur zum ersten Mal seit dem Krieg nur den zweiten Platz bei diesem Zuchtbullen-Miss-Germany gemacht, sondern der hat auch einen Sohn bei der Polizei. Und weil Fiete heute Morgen glatt die Brücke aus der Schnauze gefallen ist, als er gelesen hat, was Sie da verzapft haben, hat er in guter alter Blitzkrieg-Manier seinen Sohn angerufen, dass der sich diesen Hof mal ansieht. Gerade auch, weil der ihm den Ersten Platz vor der Nase weggeschnappt hat. Ist ja auch alles scheißegal. Wie auch immer: vor einer halben Stunde haben die Bullen den Hof vom Mattis Reimann durchsucht und wirklich irgendwelche Mittel gefunden. Die stehen auf so einer schwarzen Liste oder was weiß ich, sind aber auf jeden Fall verboten, und jetzt haben die bei dem Bullen ... oh Mann, das muss man sich mal anhören ... die Bullen haben bei dem Bullen eine Blutprobe genommen und alles. Der Veterinär sagt, alles spricht dafür, dass das Tier mit illegalen Substanzen getrimmt und hochgespritzt wurde. Und wissen Sie was?“ Bangemann entfuhr ein Lachen voller Verzweiflung. „Wissen Sie, was das für Sie bedeutet, Pfeffer?“
Der konnte nur langsam den Kopf schütteln.
„Das bedeutet, dass Ihre Geschichte damit tatsächlich wahr wäre.“
Und auf einmal wurde Rick Pfeffer wieder warm ums Herz. Alles nur ein Traum! Alles gar nicht wahr, was sich hier gerade kurz zuvor abgespielt hatte! Er hatte also Recht. Natürlich hatte er das. Und dann überkam es ihn, nach und nach, aber doch unaufhaltsam, indem er dachte „Was meint der eigentlich, wer er ist! Was erlaubt der sich mit mir? Den müsste man mal ... „. Und fast hätte er dies auch laut ausgesprochen, wenn nicht in diesem Moment wieder Werner Bangemann das Wort ergriffen hatte. Diesmal klang seine Stimme eiskalt und doppelkornklar.
„Damit wir uns richtig verstehen, Pfeffer: wenn ich sage, dass Ihre Geschichte damit wahr wäre, dann betone ich nicht ohne Grund das Wort Geschichte!“
Er hielt jetzt wieder die Zeitung in der Hand und schwenkte damit umher. Gemeinheit. Aber Richard genannt Rick Pfeffer hatte wieder Oberwasser, das ließ sich jetzt nicht mehr rückgängig machen. Vorerst allerdings war noch eine gewisse Vorsicht geboten. Deswegen lediglich: „Aber der Ostblock-Arzt, dieser Typ da im Anzug!“, entfuhr es ihm.
„Scheiße Pfeffer, das ist sein Alter!“ Und schon war es wieder laut.
„Das ist der Vater von Mattis Reimann. Der hat ‘77 rübergemacht und ist ‘ne ganz arme Sau. Jeder Volltrottel im Dorf weiß das, jeder! Aber sie schreiben hier was von DDR-Arzt und geheimen Olympia-Medikamenten. Sie haben sich diese ganze Sache, diese ganze Scheiße einfach ausgedacht! Oder wollen Sie hier allen Ernstes das Gegenteil behaupten?“ Bangemann atmete tief ein und gleich wieder aus. Dann begann er wieder ruhiger.
„Sie sind dumm wie ein Sack Schrauben, Pfeffer, und um es ganz deutlich zu sagen, neulich, ...also ich habe Sie wegen Ihrer guten Noten und Empfehlungen eingestellt. Ja, das stimmt. Alles sauber soweit. Top. Aber ich hatte auch Mitleid mit Ihnen. Als Sie da vor meinem Tisch standen und fast gewinselt haben, wie sehr Sie den Job brauchen würden mit Ihrer kranken Mutter und so, da taten Sie mir leid, und ich dachte, mit den Zeugnissen und so weiter, na ja, ist ja auch egal. Aber seit heute halte ich Sie offiziell nur noch für einen Idioten! Für einen Rosstäuscher. Sie hatten entweder unfassbares Glück mit dem Döntjes, den Sie sich da zusammengereimt haben oder aber sie verfügen über einen ganz speziellen Riecher, keine Ahnung. Falls ja, hat das wahrscheinlich der liebe Gott in seiner ganzen perversen Abartigkeit arrangiert, um mir – mir ganz persönlich – das Leben zu verkürzen. Egal, wie auch immer. Auf jeden Fall haben Sie den Kopf noch einmal aus der Schlinge gezogen, Pfeffer.“ Kurze Pause. Dann: „Ihr Glück.“
Das mit seiner Mutter damals war natürlich gelogen. Auch egal.
Jetzt atmete Bangemann auf einmal wieder schwerer, und als Pfeffer die Adern an der Schläfe des Redaktionsleiters pochen sah, ahnte er, dass es nun abermals laut werden würde.
„Aber was zur Hölle sollte der Scheiß mit den Kommunisten? Mann, wir sind hier in Bremen. Hier gibt’s keine Kommunisten! Die Roten steigen mir sowieso bei jeder Kleinigkeit aufs Dach, und dann kommen Sie mit so einer Räuberpistole um die Ecke. Das ist hier nicht der Völkische Beobachter!“
Aber Rick Pfeffer war beruhigt. Spätestens jetzt wusste er, dass er über den sprichwörtlichen Berg war, und er empfand eine tiefe Genugtuung dabei. Sogar so was wie einen ersten Anflug von Freude über die Situation.
„Und dieses debile Grinsen, Pfeffer, das können Sie sich schenken. Was ich Ihnen sagen will ist Folgendes: wenn Sie das hier wirklich recherchiert haben“, hierbei machte er mit den Fingern Anführungszeichen in der Luft, „dann gut. Wenn nicht, auch egal. Wenn die Blutwerte von dem Bullen Ihre Story stützen, sind Sie drin, wenn nicht, sind Sie raus. Im Moment sieht es so aus, als ob Sie drin sind.“
Und Pfeffer musste tatsächlich grinsen. Seine erste große Story, Wahnsinn! Sollten sie alle sagen, was sie wollten, er hatte den Skandal aufgedeckt, den sonst keiner gesehen hatte. Er war das. Er allein. Er hatte das gemacht. Niemand würde ihm das je wieder wegnehmen können. Der Redaktionsleiter wies ihn zum Abschluss noch einmal etwas mürrisch an, nun gehen zu können und beinahe selig steuerte Pfeffer in Richtung Bürotür.
„Pfeffer!“, rief es dann doch noch einmal hinter ihm her.
„Noch was. Sollte ich mich ausnahmsweise mal irren, und sollte das hier kein Glück gewesen sein“, er macht eine kurze Pause, „dann bringen Sie mir mehr davon. Aber vernünftig recherchiert.“ Hoppla! Das klang jetzt immerhin neutral. Und weiter: „Mit Beweisen und Zeugenaussagen und so weiter.“ Rick Pfeffer konnte sich nun doch freuen. Ganz aufrichtig und ehrlich. Er nickte und wollte schon gehen, um endlich ein paar Tiefe Züge Cherrie aus seinem silbernen Flachmann zu nehmen, da rief Bangemann ihn ein zweites Mal zurück.
„Pfeffer?“
„Ja?“, fragte dieser sich wendend in den Raum hinein.
„Sie verstehen, was ich meine, oder? Lassen Sie diesen Scheiß mit dem Klassenfeind. Mit diesem ganzen Kommunisten-Quatsch, und mit dem Ostblock und diesem ganzen Mist. Verstanden? Wir sind hier in Deutschland! Diesmal haben Sie Glück gehabt, aber wer weiß. Ich hoffe Sie haben aus diesem ganzen verkorksten Zinnober etwas gelernt“.
Ja, das hatte er.
Er hatte gelernt, dass wenn er sich nur selbst vertraute und der Wahrheit im entscheidenden Moment den richtigen Schubs, einen nur ganz kleinen Antritt gab, dass dann so gut wie alles möglich war.
IV.
Und so hätte es alles sein können.
Aber so war es leider nicht.
Denn Richard genannt Rick Pfeffer war nicht irgendein Schreiberling des Lokalteils beim Weser-Land-Blatt, er war der leitende Chefredakteur. Und er wurde dort auch nicht angeschrieen (obschon er es wohl oft verdient hätte). Nein, dort schickte sich niemand an, in einem ungebührenden Ton mit ihm zu reden. Der einzige Mensch, der sich traute, ihm gegenüber laut zu werden, war seine Frau. Und die auch nur dann, wenn er mal wieder erheblich einen über den Durst getrunken oder zu viel Geld verspielt hatte. Oder beides. Oder überhaupt zu Hause war.
Aber seinen Skandal, den hatte er tatsächlich gefunden. Und er hatte ihn veröffentlicht. Und auch geknallt hatte es tatsächlich in Echt und in der Wirklichkeit. Oh ja, und wie es geknallt hatte.
Mehr durch Zufall war Pfeffer auf ein 1944 verfasstes Kampfblatt gestoßen, und was er dort las, war erst einmal nichts, was ihn hätte erschüttern können. Blut und Boden, rassische Reinheit, die Judengefahr, die Bolschewikengefahr, die Kapitalistengefahr, und immer wieder der Endsieg, der wohl nun bald kommen solle. Ganz bestimmt sogar. Doch als er den Namen des Verfassers eines dieser Artikel las, da wurde ihm auf einmal ganz schwindelig. Sollte das etwa derselbe sein wie ...
Ja, ja, der war es, und zwar genau der.
Ohne sich mit langer Recherche aufzuhalten veröffentlichte Pfeffer besagten Artikel direkt am nächsten Tag im Weser-Land-Blatt auf der Titelseite und nannte an prominenter Stelle den Namen des Verfassers. Ohne Kürzel, keine Anführungszeichen, einfach der Klarname und dann Bummsdiewurst.
Hans Stefan Seifriz, im Jahre 1944 schmale 16 Lenze zählend, war mittlerweile Bausenator der Hansestadt Bremen und hatte sich als SPD-Mitglied eher nicht den Ruf eines Alt-Nazis erworben. Er war ein geachteter und erfolgreicher Politiker. Nun, zumindest bis zu diesem Tag.
Denn der hanseatische Senator und Verfasser des Artikels – und jaja: dieser Artikel war wohl schon ziemlich antisemitisch – waren tatsächlich ein und dieselbe Person. Schnell war seitens der Sozialdemokraten eine Klageschrift sowohl gegen Pfeffer als auch gegen das Weser-Land-Blatt verfasst, doch ebenso schnell bekannte sich Seifriz ehrlich und ausführlich zu seinen Jugendsünden. Recht so!
Seifriz war im Januar 1933, drei Tage vor Hitlers Machtübernahme gerade sechs Jahre alt geworden, und so wie viele Kinder der sogenannten Flakhelfergeneration waren wohl auch ihm all die Phrasen zu Kopf gestiegen, die er sein ganzes kurzes Leben lang von Hitler, Goebbels, Göring und all den anderen mit ordentlich Blech an der Titte gehört hatte, als er kurz vor Kriegsende eben jenen Artikel schrieb, der ihm nun, über 30 Jahre und viele Verdienste um die noch junge Republik später zum Verhängnis werden sollte. Aber für Antisemitismus gibt und gab es nun mal kein Pardon, egal wann und egal von wem geäußert. Seifriz seinerseits hatte das schnell verstanden und war aus eigenen Stücken zurückgetreten. Wohl nicht zuletzt, um eine langwierige und sogenannte Schlammschlacht zu vermeiden. So hoffte er, Schaden von sich, seiner Partei, aber vor allem seiner Familie abwenden zu können. Armer Mann? Nun, alles holt einen irgendwann ein. Blut fließt dort, wo Turandot herrscht.
Pfeffer aber hatte seine Sensation. Er hatte einen Senator gestürzt. Nein, besser noch: er hatte einen roten Senator gestürzt! Die Bremer SPD kam ob dieses Vorfalls wochenlang nicht aus den Schlagzeilen (natürlich am wenigsten aus denen, die Rick Pfeffer selbst verfasste), und immer mehr Gerüchte waren auf einmal an der Weser zu hören. Allesamt falsch, vielleicht erfunden, wie sich jedes mal schnell herausstellte, doch das war Pfeffer im Grunde gleichgültig. Er hatte an diesem Tag mit der Veröffentlichung seines Artikels der Wahrheit mit jenem kleinen Schubs auf die Sprünge geholfen, von dem er nun wusste, dass er ausreichte, um auch den größten Stein ins Rollen zu bringen.