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An diesem Abend betrank sich Rick Pfeffer ausgiebig und mit tiefsitzender Freude. Ihm war einfach nach Feiern zumute. Er war das gewesen. Er ganz allein. Er hatte das gemacht. Und alle sollten es wissen. Er besuchte dieses Mal ausnahmsweise keine der gewöhnlichen Kneipen, in welchen er sonst zu verkehren pflegte. Nein, diese Mal musste es dem Anlass entsprechend sein, und so zog er mit Pauken und Trompeten in die „Rote Katze“, ein, was nichts anderes war, als eines der größten Bordelle der Stadt. Im Suff im Puff. Na, das konnte ja nicht gutgehen ...
Am nächsten Morgen erwachte Richard genannt Rick Pfeffer in einem ihm unbekannten Zimmer. Er schaute sich kurz um und stellte fest, dass es sich wohl um das Zimmer eines Hotels handeln musste. Dies hatte drei Gründe:
Erstens: Es war nicht sein zu Hause. Zweitens: Die Einrichtung war Hotelstandard, also geschmacklos und eindimensional und Drittens stand auf dem Nachtschrank ein Telefon mit der Aufschrift „Waldhof Hotel“. Ja, es handelte sich um ein Hotel. Unverkennbar. Aber wie war er dorthin gekommen? Dann fiel es ihm langsam wieder ein, was allerdings auch daran gelegen haben dürfte, dass er aus der Roten Katze nicht nur einen gehörigen Kater mitgebracht hatte, sondern auch eine Frau, die ebenda noch selig neben ihm im Bett schlief.
Panik!
Doppelte Panik!
Eieieieieiei ... eine fremde Frau! Nackt dazu. Ohmannohmannohmann. Nicht schon wieder! Nicht jetzt! Er betete im Stillen. „Oh Gott oh Gott, lieber Gott, bitte lass es eine Nutte sein!“ Dann traute er sich vorsichtig, die fremde Schönheit zu wecken. „Was ist denn Schätzchen, schon ausgeschlafen?“, ihre Stimme war unverkennbar alkoholgeschwängert und hatte unter unzähligen Zigaretten gelitten. Er dachte, sie klinge genauso, wie er sich gerade fühlte. Aber das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war jetzt: „Sag mir nur eins.“ Pfeffers Ton war fast flehentlich. „Hatten wir was? Also ich meine ... haben wir ... miteinander geschlafen?“
„Du meinst, ob wir gefickt haben? Ohhh ja, mein Lieber. Und wie!“
Pfeffer wurde schlecht. Er musste sich spürbar zusammenreißen als er sagte:
„Und ... also bitte versteh’ das jetzt nicht falsch, aber bist Du eine ... bist Du ...“
„Was? Eine Nutte? Ja natürlich. Und Du warst ganz schön in Geberlaune gestern Abend.“
Sie lachte, aber Pfeiffer fielen hundert Steine vom Herz.
„Um Gottes Willen, Gott sei Dank! Ich dachte jetzt echt gerade ... also für einen kurzen Moment dachte ich, ich hätte meine Frau schon wieder betrogen.“
„Hast Du das denn nicht?“, fragte sie hörbar irritiert.
„Nein, nein“, entgegnete er direkt und war jetzt wieder ganz der alte, selbstsichere Rick Pfeffer, „so ist es schon in Ordnung. Ohne Liebe kein Betrug!“
Sie stand nun langsam auf und begann, Ihre Kleidung im Zimmer zusammenzusuchen. „Sag’ mal“, fragte sie, „was Du da gestern Abend alles erzählt hast, stimmt das alles?“
Schock! Ja, was hatte er denn erzählt? Er versuchte sich zu erinnern, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Also folgerichtig:
„Was habe ich denn erzählt?“
Pfeffer war nun doch wieder ein wenig besorgt. Offenbar fehlten ihm vom vergangenen Abend wesentlich mehr Stunden, als er gedacht hatte. Alkoholinduzierte retrograde Amnesie nannten die Ärzte das.
„Na ja, dass Du Chefredakteur bis?“
Uff! Schwein gehabt!
„Ja, das stimmt!“
„Und das mit dem Kampf gegen die Roten und so? Mit dem Senator hier aus der Stadt?“
Noch einmal Uff! Aber mit breiter Brust:
„Ja, stimmt auch. Das war ich!“
„Und sag’ mal, also ich sollte das jetzt vielleicht nicht sagen, aber, dass Du die ganzen Informationen vom Geheimdienst gekriegt hast und die Dir das alles bezahlt haben gestern Abend in der Katze? Also als Belohnung?“
Auweia. Da waren ihm wohl ein bisschen die Pferde durchgegangen.
„Ähmm, also weißt Du, eigentlich darf ich darüber gar nicht sprechen. Du weißt schon ...!“
Er fühlte auf einmal eine seltsame Mischung aus Scham für die Lüge und echtem Stolz, dass er den Geheimagenten offenbar recht gute hatte abgeben können. Sie zuckte nur mit den Schultern, während sie ihren Slip hochzog.
„Na ja, ist ja auch egal, ich sag’ keinem was. Und so viele Leute waren ja nicht da. Den meisten ist es eh nicht recht, wenn einer erfährt, dass sie Station in der Katze gemacht haben. Du musst Dir also keine Gedanken machen, glaube ich.“
Jetzt doch wieder Uff! Geschafft! Raus aus der Gefahrenzone.
Derart erleichtert verließ Pfeffer schon wenig später mit seiner Kurtisane das Hotelzimmer und weil ja nun einmal alles bereits bezahlt war, gingen die beiden auch gleich noch gemeinsam im hoteleigenen Restaurant frühstücken.
In den folgenden Tagen und Wochen war die Seifritz-Affäre das tonangebende Thema in der Hansestadt an der Weser und Pfeffer war langsam froh, an jenem Abend in der Roten Katze noch einmal alle Register gezogen zu haben, denn nun war er pausenlos in Sachen Senatorensturz unterwegs. Was? Ja, ja, war ich. Kein anderer. Hätten Sie nicht gedacht, was? Und immer so weiter. Als Seifriz dann schließlich zurückgetreten war und langsam wieder Ruhe einkehrte, wurde es auch um Richard genannt Rick Pfeffer wieder still. Kein Schampus mehr, keine Nutten, keine Hände mehr, die seine schüttelten. Und weil ihm das so gar nicht gefiel, machte er da weiter, wo er bei dem Bremer Senator aufgehört hatte. Er las noch einmal den ursprünglichen Artikel und so langsam formte sich ein Bild vor seinem inneren Auge: hier ruhte eine wahre Lebensaufgabe. Er würde dem Roten Filz in der Hansestadt ein für alle Mal den Garaus machen. Er wusste, dass er es konnte, soviel war jetzt sicher. Er hatte es bewiesen. Erst Bremen, dann Niedersachsen, dann die Republik und dann die ganze Welt. Pfeffer Kommunistenschreck. Oder eigentlich ja Nazischreck. Altnazischreck? Egal, Titel sollten andere ihm verpassen, er hatte schließlich zu arbeiten. Aber wo anfangen?
„In Ordnung“, dachte er sich, „erst einmal bescheiden bleiben und klein loslegen. Die Welt nehme ich mir dann später vor.“
Doch leider fanden sich auf die Schnelle keine weiteren Skandale im Range eines Seifriz. Ja, es schien fast so, als sei die SPD in Bremen die Unschuld selbst, was nur einen Schluss übrig ließ: alle hatten sich gemeinsam im Roten Filz verwoben mit nichts als einem Ziel: am Ende doch noch die Rote Fahne auf dem Rathaus zu hissen. Oder so ähnlich. Wer weiß das schon?
„So ist denen nicht beizukommen! Immer dieses Kleinklein“, das war Pfeffer schnell klar. Und daher begann er, selbst für Skandale und Skandälchen zu sorgen. Glaubste nicht? War aber so. Kostprobe zum Abschmecken gefällig? Es fing damit an, dass er, ausgestattet mit einem falschen Parteibuch der SPD und sonst keinerlei Dokumenten, einen Reisepass beantragte, den er dann sogar erhielt. Mit falschem Namen natürlich. Dieter Lindemann hatte er sich genannt, einfach so. Dazu eine falsche Adresse, auch ein bisschen jünger machte er sich noch, und schon war der falsche Pass fertig.
Nicht so schlimm? Aber, aber!
Eine Dokumentenfälschung auf diesem Niveau war in einer Zeit der Grenzkontrollen und Demarkationslinien, der Transitabkommen und Reisebestimmungen keine Kleinigkeit, und Pfeffer wusste alles dem roten Senat anzuhängen. Die mit ihrem Filz, die haben schon wieder. Und überhaupt! Und so ging es weiter. All die Jahre. Für ein Kind mit einem Hammer sieht eben alles wie ein Nagel aus.
Es gab wieder Schampus, Schlagzeilen und leichte Mädchen, während sich die Klagen wegen Diffamierung und verleumderischer Nachrede auf seinem Schreibtisch nur so stapelten. Aber ebenso wuchs auch sein Renommee, so dass er zeitweise sogar kleinere Artikel für den SPIEGEL schrieb. Und das war ja bekanntlich das Sturmgeschütz der Demokratie. Echtheitsgarantie mit Gütesiegel und Eichenlaub. Aus dem Journalistenverband in Bremen musste er zwar irgendwann austreten, da man dort Wert auf die sogenannten journalistischen Tugenden der Recherche und Lauterkeit legte, aber das juckte Rick Pfeffer verhältnismäßig wenig. Für ihn war jede einzelne öffentliche Beleidigung durch einen Kollegen wie ein Orden. „... die zwielichtigste Figur, die in Politik und Medien der deutschen Nachkriegsgeschichte ihr Unwesen treibt!“, hatte zum Beispiel Gerhard Mumme, der große Chef der Bild-Zeitung über ihn gesagt. Herrlich! Mehr davon! Der Bremer Oberbürgermeister, ein Sozi natürlich, nannte ihn sogar „Ein subjektives Ferkel“. Großartig! Die rote Tapferkeitsmedaille à la Stephen Crane! 1
„Viel Feind, viel Ehr’!“, sagte sich Pfeffer immer nur, und schließlich gab der Erfolg ihm ja auch Recht. Oder etwa nicht? Abstimmung mit dem Geldbeutel. Seine Artikel und Enthüllungsgeschichten lockten die Leser an, und die Zahl der Leser wiederum lockte Werbepartner an. Und da das Blatt im Handel kostenfrei erhältlich war, gelang es Pfeffer als Chefredakteur auf diesem Wege tatsächlich die Auflage von mickrigen 20.000 Exemplaren auf über 280.000 zu steigern. Donnerwetter! Aber verbrieft. Er schrieb sich also nicht ganz zu Unrecht auf die Fahnen, das partei- und privatfinanzierte Weser-Land-Blatt von einer nahezu ungelesenen Beilage zur Macht an der Weser gemacht zu haben. Allerdings war er der einzige, der die Zeitung so zu nennen pflegte. Und wenn der Preis hierfür war, hin und wieder eine Gegendarstellung bringen zu müssen oder ein Schmerzensgeld zu bezahlen, dann nahm er dies als doch recht billig in Kauf.
Nun sind Glückssträhnen aber bekanntlich stets ein Grund, misstrauisch zu werden, und am Ende hatte es Richard genannt Rick Pfeffer dann doch übertrieben. Alles begann bei einem Gerichtstermin, auf welchem sich Pfeffer zum wiederholten Male wegen Beleidigung verantworten musste. Das Verfahren war für ihn im Grunde nur Routine und das Urteil zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von eintausend Mark nahm er mit verschmitzter Beliebigkeit in Kauf. Ein paar Meineide, ein paar Verpflichtungserklärungen, Unterlassung von diesem und jenem. Herr Vorsitzender können wir dann bitte? Wir werden hier schließlich nicht jünger. Was Richard genannt Rick Pfeffer allerdings sehr interessierte, war die als Zeugin Nummer Drei aufgerufene junge Dame, die in all ihrer Eleganz und Weiblichkeit den Saal betrat und derart überzeugend für den beleidigten Genossen aussagte, den Rick Pfeffer als Hure Moskaus bloßgestellt hatte, dass unser lieber Herr Pfeffer letztlich zu jener mittleren Geldstrafe verdonnert wurde. Das Urteil war ihm jedoch schlichtweg egal, er hatte ab diesem Zeitpunkt nur noch Augen für die junge Genossin und konnte das Ende der Verhandlung kaum abwarten.
Als der Richter dann endlich den Hammer schwang und jener Lächerlichkeit ein Ende setzte – Pfeffer bezahlte die Strafe noch an der Gerichtskasse in bar – sprang er auf und eilte der davonschreitenden, nein, dahinschwebenden Schönheit hinterher. Er hielt die verwunderte Aphrodite flugs an, ließ all seinen Charme spielen, raspelte Süßholz und kassierte dafür eine derartige Abfuhr, wie er sie sein Leben lang noch nicht bekommen hatte. Was, aber ... das ist ja wohl, englitten ihm die Züge. Und sie sagte wörtlich: „Sie ekelhaftes Schwein, sie sollten sich was schämen. Was Sie da machen, ist wie der Stürmer mit Ihnen als Julius Streicher! Sie haben keinen Anstand, Herr Pfeffer, keine Moral und überhaupt kein Gewissen. Sie sind einer von diesen Perversen, die sich daran aufgeilen, wenn sie andere fertig machen.“
Dann spuckte sie ihm ins Gesicht.
„Außerdem sind sie hässlich! Jawohl, hässlich sind Sie! Glatze, Brille, fetter Bauch. Wahrscheinlich haben Sie auch noch einen kleinen Schwanz!“
Man sah ihr an, dass sie ihn schlagen wollte. Vielleicht auch zwischen die Beine treten. Ihre Lippen zitterten und sie hatte beide Hände zu Fäusten geballt. So starrte sie ihn eine endlose Sekunde an und dann ... Dann drehte sie sich um und ließ Rick Pfeffer stehen. Einfach so.
Nachdem er die Verhandlung so lässig überstanden hatte, war er nun doch noch Mittelpunkt des Spottes geworden, hatten doch alle um ihn herum die ganze Szene mitbekommen und lachten ihn jetzt aus. Hahaha und alle Finger auf ihn. In Gedanken, ja. Aber auch von dort stechen sie wie Degenspitzen und durchbohren seinen Stolz, seine Würde, seine Ehre. Und so war es nur folgerichtig, als er dachte: „Na warte, Du Schlampe. Dir werd’ ich’s besorgen!“ Hätte, könnte, wäre, wenn. Ach ja. Aber neben viel bemühten Konjunktiven geschah nun, was geschehen musste. Und zwar mit der Vorhersagbarkeit von Steuererhöhungen. Hätte unser guter Pfeffer sich nur seine Avancen gespart ... Wer weiß? Aber es kam, wie es gekommen ist. Ein kleiner Schubs, ein kurzer Tritt, eine einzige Wendung und alles ändert sich. Unumkehrbar und für immer. So ist es halt. Und so wird es immer sein. Solange sich Mutter Erde dreht und windet. Wir wollen also nicht klagen.
Rick Pfeffer hatte es sich zum Ziel gesetzt, dieses Subjekt, wie er sie nur noch nannte, fertig zu machen. Er wollte sie am Boden sehen. Sie zerstören. Und weil er nichts, aber auch gar nichts über diese nicht nur unbescholtene, sondern auch sozial engagierte Sozialdemokratin ausgraben konnte und weil außerdem Pfeffer so tief gekränkt war, musste er sich etwas einfallen lassen. Mal wieder. Ein Zweifler siegt nicht und ein Sieger zweifelt nicht! Niemals! Und so kam es, dass er in seinem nächsten Artikel aus der Sozialdemokratin eine DKP-Vorsitzende machte, die Ihre Funktion als Jugendclubleiterin dazu benutzte, den Kindern kommunistische Doktrinen einzubläuen. Und weil das bei den aufgeweckten Bremer Kindern natürlich nicht den rechten Eindruck schinden konnte, hatte er noch einen oben draufgepackt. „Sie verabreichte den Kindern Alkohol in rauen Mengen, dann wurde das Lied angestimmt: Wir pfeifen auf den Stress der Kapitalisten!“
Und das war dann selbst für einen Rick Pfeffer ein bisschen zu dick aufgetragen. Zugegeben, er war nicht mehr so ganz nüchtern, als er den Artikel verfasste und in die Schriftsetzung gab, aber dass diese Sache einen solchen Wendepunkt in seinem Leben markieren sollte, damit hatte er nicht gerechnet.
Der Artikel erschien und kurze Zeit später traf wie üblich die dazugehörige Klage mit Verfügung zur sofortigen Gegendarstellung in seinem Büro ein. Rick Pfeffer hatte damit gerechnet. Routine. Gähn. Mehr hatten die nicht drauf? Womit er aber nicht gerechnet hatte, geschah wenige Tage später. Als er an einem Dienstagmorgen sein Büro betrat, warteten dort zwei Herren auf ihn. Er kannte sie beide und ihre Anwesenheit verhieß nichts Gutes.
Der eine war Bernd Plaumann. Kurz, stämmig, mit einer etwas zu großen Brille und einem etwas zu kleinen Schnauzbart stand er am Konferenztisch und schenkte sich gerade Kaffee ein. Plaumann war der Verlagschef, der große Big Boss und damit im Grunde Pfeffers einzig echter Vorgesetzter.
Der andere, ein stilvoll gekleideter Mann mit ausgezeichnet geschneidertem Anzug und einem gutmütigen Gesicht, das jenen Ausdruck vornehmer Intelligenz hatte, den Pfeffer sich schon sein ganzes Leben lang wünschte, war Bernd Neustädter. Er war der CDU-Chef der Hansestadt und außerdem Mitinhaber des Weser-Land-Blattes. Pfeffer hatte beide schon oft getroffen, aber wenn sie in einem solchen Rahmen gemeinsam auftraten – wie gesagt: das verhieß nichts Gutes. In der Redaktion hatten sie sogar einen Ausdruck für ein derartiges Ereignis: Der Doppelte Bernd. Und gerade an diesem Morgen sollte Richard genannt Rick Pfeffer ein solcher Doppelter Bernd ereilen.
„Guten Morgen!“, sagte Neustädter, als er Pfeffer eintreten sah, ging mit bedachtem Schritt auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand.
„Guten Morgen!“, sagte nun auch Plaumann, allerdings ohne Pfeffer die Hand zu reichen.
„Meine Herren!“, sagte Pfeffer ganz staatsmännisch, so wie er sich bei Helmut Schmidt abgeguckt hatte und nickte. Er ging um seinen Schreibtisch herum, wie jeden Morgen, er legte seine Tasche auf den Schreibtisch und öffnete sie, wie jeden Morgen, atmete tief ein, atmete lange aus und sagte dann:
„Schön, Sie zu sehen. Haben sie den Artikel gelesen?“
Der doppelte Bernd hatte mittlerweile Aufstellung auf der anderen Seite des Schreibtisches genommen, als Plaumann sagte: „Ja, das haben wir. Aber deswegen sind wir nicht hier. Nicht nur deswegen.“
OK. Es war ernst.
„Herr Pfeffer, lassen Sie uns doch bitte am Konferenztisch Platz nehmen, ja? Wir möchte Ihnen etwas zeigen“, sagte Neustädter in aufrichtiger Ruhe und wandte sich zu eben jenem Konferenztisch. Auch Plaumann nahm jetzt dort Platz, so dass Pfeffer seine Position hinter fester Burg aufgeben und sich ebenfalls zu ihnen setzten musste. Bernd Neustädter begann das Gespräch.
„Mein lieber Pfeffer, Sie können sich sicher denken, dass wir Sie nicht ohne Anliegen aufgesucht haben. Und, ja, sie erwähnten es bereits, natürlich hat auch Ihr letzter Schriftsatz seinen Teil dazu beigetragen, uns einmal in aller Form Gedanken zu machen, ob wir nicht das persönliche Gespräch mit Ihnen suchen sollten. Es gibt nämliche einige Unstimmigkeiten – gewissermaßen kompromittierender Natur – die unser beider Erscheinen zu einer, sagen wir, Notwendigkeit haben werden lassen.“
„Ach Bernd jetzt komm’ mal auf den Punkt!“, grätschte Plaumann dazwischen und zog aus seiner Aktentasche, die schon die ganze Zeit neben dem Tisch stand, ein mehrseitiges Pamphlet heraus. Er warf es über den Tisch direkt vor Pfeffers Nase.
„Tun Sie mir einen Gefallen, Pfeffer!“, sagte er fordernd. „Lesen Sie vor, was da steht!“
Pfeffer nahm die zusammengehefteten Seiten auf und blickte sie an. Er sah die Buchstaben, aber er kannte sie nicht. War das russisch? Ihm wurde heiß und kalt. Nein, die kyrillische Schrift war so einmalig, die hätte er erkannt. Aber was dann? Arabisch? Griechisch? Doch ihm blieb keine Zeit, zu überlegen, denn schon wieder hielt ihn Plaumann an. Diesmal bereits etwas lauter.
„Na Los, Pfeffer. Lesen Sie schon!“
„Ich ...“, begann Pfeffer zu stammeln, „ich weiß nicht ... ich kenne diese Schrift nicht.“ Er legte die Seiten wieder auf den Tisch. Und dann, fast war es eine Erlösung, ein Donnerschlag, der das Gewitter einläutet, denn plötzlich fuhr Plaumann aus der Haut.
„Sie kennen diese Schrift nicht? Nein? Na, das ist aber merkwürdig Pfeffer! Das ist die Tora, der Anfang des ersten Buch Mose. DAS IST HEBRÄISCH! Und das kennen Sie nicht? Dabei steht doch hier in Ihrem Zeugnis“, er holte ein weiteres Papier aus seiner Aktentasche, „dass Sie das Hebraicum gemacht haben. Mit einer Eins!“ Er schrie jetzt fast. „Und da erkennen Sie kein hebräisch, wenn Sie es sehen?“
In diesem Moment sauste die Guillotine herunter und Pfeffer spürte, wie ihm der Kopf abgeschlagen und vom Rumpf getrennt wurde. Sie hatten ihn erwischt.
„Soll ich Ihnen vielleicht auch etwas Altgriechisches vorlegen? Aber da hatten Sie ja nur eine Zwei! Da wissen Sie dann wahrscheinlich noch nicht mal, ob Sie das Papier richtig herum halten!“
„Mein lieber Bernd“, sagte nunmehr Neustädter in seiner vornehmen Ruhe, „nun wollen wir doch sachlich bleiben. Herr Pfeffer, vorgestern, also zwei Tage nach Ihrem letzten Artikel, erreichte uns eine, ich will sagen recht beunruhigende Nachricht bezüglich Ihrer schulischen Ausbildung. Darf ich Sie fragen, ob Sie sich vorstellen können, was diese Nachricht zum Inhalt hatte?“
Pfeffer sah keine Notwendigkeit mehr, seine kerzengerade Sitzhaltung beizubehalten und ließ sich mit dem Rücken in die Stuhllehne fallen. Alles war verloren. Aus, Ende, Berlin 45. Russe da, Führer tot. Jetzt war alles egal.
„Ach das“, sagte er mehr zu sich selbst als zum doppelten Bernd.
„Ja. Das.“ Sagte Neustädter, und legte seine gefalteten Hände auf den Tisch, bevor er fortfuhr.
„Ihr Zeugnis weist gute bis sehr gute Noten in insgesamt fünf Fremdsprachen auf. Latinum Eins. Graecum Zwei. Hebraicum Eins. Englisch Zwei und Französisch Eins. Sagen Sie, und ich bitte Sie, ehrlich zu sein, beherrschen Sie auch nur eine von diesen Sprachen?“
Stille.
„Nein“, sagte Pfeffer dann und wie nach einem guten Stich beim Skat schlug nun Plaumann mit der Faust auf den Tisch.
„Da haben wir es!“, sagte er in einer Mischung aus Triumph und Verzweiflung. Neustädter machte eine beruhigende Geste und wandte sich abermals an Pfeffer, der immer weiter in seinem Stuhl versank.
„Und sagen Sie, Herr Pfeffer, dieses Abiturzeugnis ist ausgestellt vom Missionsgymnasium St. Antonius in Bad Bentheim. Darf ich fragen, ob Sie jemals dort waren?“
„Nein“, sagte Pfeffer leise. „War ich nicht.“
„Haben Sie überhaupt ein Abitur, Herr Pfeffer?“ Neustädter sprach jetzt sehr ruhig und beinahe väterlich.
„Volksschule.“ Pfeffer flüsterte beinahe.
Und Neustädter: „Sie haben das alles erfunden, nicht wahr?“
Pfeffer nickte, ohne einen der beiden anzuschauen.
„Und Sie haben ebenso diese Zeugnisse gefälscht?“
Wieder Nicken. Immer noch Blick nach unten auf seine Hände. Zusammengesunken auf seinem Stuhl war er jetzt nurmehr ein armes Häufchen Elend. Als Bernd Plaumann ihn so sah, tat er ihm fast schon wieder leid und doch musste er sagen, was zu sagen war.
„Pfeffer, Sie wissen, was das bedeutet, oder?“
„Ich bin gefeuert“, flüsterte Pfeffer.
„Sind Sie wahnsinnig?“, entfuhr es Plaumann, „Wissen Sie wie das aussehen würde? Das hier ist ein CDU-Blatt! Wenn wir Sie jetzt feuern, wirkt das wie eine Kapitulation für die Sozis! Und vor den Sozis! Wie ein Schuldeingeständnis! Nein, nein, Sie werden schön kündigen!“
„Ist gut.“ Wieder nickte Pfeffer. Jetzt war noch einmal der andere Bernd an der Reihe, und langsam kam es Pfeffer so vor, als würde die beiden Guter Bulle, böser Bulle mit ihm spielen, denn Neustädter legte seine Hand auf Pfeffers Unterarm, sah ihn an und sagte:
„Herr Pfeffer, sie waren doch Pressesprecher bei der Polizei, bevor Sie nach Bremen kamen. War das auch alles gelogen?“
„Nein, das nicht.“ Und das war es wirklich nicht.
„Und Ihre Stellen als Pressesprecher bei den Unternehmen, die Sie in Ihrem Lebenslauf angegeben haben - wenn wir da nachfragen, was werden die uns Ihrer Meinung nach erzählen?“
„Gar nichts. Die werden das wohl bestätigen, was da steht“, sagte Pfeffer, und auch das war nicht gelogen. Zumindest nicht so richtig. Denn die erste Stelle hatte er tatsächlich angetreten und dort auch als Pressesprecher gearbeitet. Das Zeugnis war ebenfalls gut. Weil ihm eine einzige Stelle in der Wirtschaft für einen Lebenslauf aber viel zu wenig erschien, hatte er sich außerdem noch zwei Firmen ausgedacht, inklusive Pressestelle und einer Anstellung für Richard genannt Rick Pfeffer. Die Zeugnisse hatte er dann höchstselbst nachgeliefert. Aber wenn Sie dort anriefen, würden Sie in der Tat nichts Gegenteiliges erfahren, da die genannten Telefonnummern natürlich nie wirklich existiert hatten. Aber das war jetzt nicht kriegsentscheidend, und auch Neustädter sagte, die Hand noch immer auf Pfeffers Arm: „In Ordnung. Ich glaube Ihnen. Aber sehen Sie Pfeffer“, und nun ließ er seinen Arm los, faltete erneut die Hände und legte sie auf den Tisch „Sie waren dann auch bei uns Pressesprecher. In der CDU-Fraktion. Bevor Sie hier beim Blatt angefangen haben. Und auch diese Zeitung ist im Grunde ja nicht viel mehr als ein Parteiorgan. Wenn nun bekannt wird, dass die Bremer CDU all die Jahre einen Hochstapler beschäftigt hat“, er machte eine kurze bedeutungsschwere Pause, „glauben Sie, das wäre gut für unsere Position?“
Pfeffer schüttelte den Kopf.
Nun ergriff Plaumann wieder das Wort. „Es ist ja nicht nur das, Pfeffer. Wären Sie irgendeiner von diesen Schreiberlingen“, er deutete mit dem Daumen über seine Schulter zur Bürotür, „dann würden wir hier nicht sitzen. Aber Sie sind hier der Chefredakteur. Und außerdem haben Sie sich in den vergangenen Jahren mächtig exponiert. Mehr als uns je lieb gewesen ist, das möchte ich hinzufügen! Und das sage ich! Ich! Der auch kein Kind von Traurigkeit ist, wenn es um die Sache geht. Jeder gute General muss halt mal eine Division ins russische Feuer geschickt haben, um zu wissen, wie sich das anfühlt. Und ein Journalist, der nie verklagt wird oder der nie eine Gegendarstellung bringen muss, der macht seinen Job nicht richtig. Aber das hier“, und dabei zog er aus seiner scheinbar unerschöpflichen Aktentasche die Ausgabe mit dem Jugendclub-Artikel, „ganz ehrlich, Pfeffer: das hier war die Krönung!“