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Plaumann machte eine kurze Pause, während er die Zeitung auf den Tisch warf.
„Wir wissen, dass Sie Probleme haben, Pfeffer. Das mit Ihrer Trinkerei ist ein offenes Geheimnis und das mit den Frauen und den Spielcasinos – also es geht uns ja im Grunde auch nichts an, was Sie in Ihrer Freizeit machen. Aber das hier“, er tippte hart mit dem Zeigefinger auf den Artikel, der nun vor ihnen lag „ich meine wissen Sie eigentlich, wie viele Klagen hier eingegangen sind, seit Sie auf dem Sessel da drüben sitzen? Dutzende. Dazu insgesamt fast 38.000 Mark Schmerzensgeld, die übrigens immer der Verlag bezahlt hat. Von den unzähligen Gegendarstellungen ganz zu schweigen. Aber wir haben das immer mitgemacht. Immer! Und wir haben auch immer beide Augen zugedrückt. Auch dann noch, als wir schon wussten, dass Sie es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Es war ja alles für die gute Sache. Aber wenn jetzt rauskommt, dass Sie selbst eigentlich nie der waren, für den Sie sich ausgegeben haben, was denken Sie denn, wie wir dann alle dastehen! Blamiert! Für alle Zeit! Mann Pfeffer, warum müssen Sie denn nur immer lügen?“
Plaumann wurde jetzt wieder laut, und Neustädter konnte gerade noch eingreifen, um einen weiteren Ausbruch des Verlagschefs zu verhindern, indem er ansetzte:
„Sie haben hier insgesamt gute Arbeit geleistet, Pfeffer, und das werden wir auch jetzt, bei allem verständlichen Unbill nicht vergessen. Aber Sie müssen verstehen, dass Sie zu halten bedeuten würde, uns verwundbar zu machen. Angreifbar. Das Blatt, die Fraktion, die Partei und am Ende natürlich auch uns selbst. Ich will Ihnen daher einen Vorschlag machen.“
Neustädter sah ihn jetzt direkt an, aber aus seinem Gesicht waren Güte und Verständnis auf einmal gewichen. Die vornehme Noblesse jedoch war geblieben.
„Sie haben damals den Seifriz zu Fall gebracht. Sie haben den Apparatschicks mit Ihren Geschichten ordentlich die Bürste durch den Filz getrieben, außerdem haben Sie die Umlage auf 280.000 gebracht. Deswegen werden wir Ihnen nicht die Kündigung aussprechen. Sie aber, mein lieber Pfeffer, Sie werden ihr Gesuch über den Rücktritt als leitender Chefredakteur noch heute einreichen. Dafür erhalten Sie im Gegenzug eine Verabschiedung aller Ehren halber und ein sehr ordentliches Zeugnis, welches ich selbst erstellen und persönlich unterzeichnen werde. Herr Plaumann ebenfalls, selbstredend. Diese unsägliche Sache mit Ihren Zeugnissen bleibt unser Geheimnis, auch wir haben kein sachliches Interesse daran, dass es in dieser Causa zu einer Öffentlichkeit kommt. Es wird überdies keine Klageschrift gegen Sie eingereicht, weder von uns, dafür garantiere ich, noch von dritter Seite, dafür sorge ich.“
Er machte eine kurze Pause.
„Einen Haken hat dieses Angebot allerdings, Herr Pfeffer. Es besteht ab jetzt für genau sechzig Sekunden und ist, ganz hanseatisch, mit Handschlag zu bestätigen.“
Richard genannt Rick Pfeffer sah Neustädter an. Sein Ton war während er sprach immer kühler geworden und als er Pfeffer nun die Hand reichte, meinte dieser die Eiseskälte der Entscheidung fast körperlich spüren zu können.
Und dann schlug er ein.
Und so hatte es sich in Wirklichkeit zugetragen.
V.
Und nun saß er also hier, in dieser heruntergekommenen Spelunke nahe der Autobahn, und überlegte, ab welchem Punkt ihm eigentlich die Zügel entglitten waren. Das Hebraicum, oh Mann, das war dann wohl doch ein bisschen zu viel des Guten. Er trank sein Bier aus und bestellte gleich noch eins.
„Ach und Süße“, rief er der Bedienung hinterher „einen Schnaps kannst Du auch gleich dazustellen!“
Die Bedienung hatte ein hübsches Gesicht und eine ganz ansehnliche Figur, insgesamt etwas üppig und schon ein wenig verlebt, aber so mochte Pfeffer sie in der Regel. Die wussten, was sie wollten. Normalerweise hätte er sie neben Bier und Schnaps auch gleich um ihre Telefonnummer gebeten, aber heute war ihm nicht danach. Also dann doch nur das Herrengedeck. Die Bedienung nickte beiläufig und begann zu zapfen.
Vielleicht war das ja auch das Problem. Der Alkohol. Er hatte immer schon viel getrunken, aber unter dem Druck der vergangenen Monate und Jahre war es immer mehr geworden, immer schlimmer. Manchmal war er in einer Kneipe aufgewacht und hatte weder gewusst, wo er sich befand, noch wie er dort hingekommen war. Oder eben wie damals im Hotel nach seiner Sause in der Roten Katze. Und, ach ja, die Frauen ... Oh Mann, er konnte ihnen einfach nicht wiederstehen. Wenn er eine sah, die ihm gefiel, dann musste er sie einfach haben. Koste es, was es wolle. Aber selbst ihm Puff musste er lügen und Geschichten erfinden, damit er sich halbwegs attraktiv fühlen konnte. Und damit er die guten Nutten abbekam. Traurig. Eigentlich. Aber so war es nun mal. Obwohl er erst 46 war, bildeten seine Haare nur noch einen breiten Kranz um seinen Kopf. Da half auch alles Über- und Rüberkämmen nichts, so sehr er sich auch jeden Morgen bemühte. Alle Versuche hierbei schlugen fehl. Ebenso wie die, weniger zu trinken. Und dem Trinken hatte er wohl auch seinen ordentlichen Bauchansatz zu verdanken. Und dann noch die blöde Brille ... Beinahe verlor er sich im Selbstmitleid und vermutlich log er deshalb eben manchmal so sehr, dass sich die Balken bogen. Na ja, und wo wir schon dabei sind, wollen wir auch ehrlich bleiben: die meisten Frauen, die er abschleppte, wollten es auch nicht anders. Es waren zumeist ältere Damen, gelangweilt, verblüht, letztlich anspruchslos. Da kam ihnen ein Rick Pfeffer mit seinen Räuberpistolen gerade recht. Eine kleine Aufregung zur Abwechslung vom öden Alltag, eine kurze Affäre, das war es dann. Die letzte Cola in der Wüste eben.
Das mit der Spielerei allerdings bereitete ihm langsam ernsthafte Sorgen. Ja, er spielte wirklich ein bisschen zu gern. Nie um richtig große Summen, aber doch genug, um schon mal den Autoschlüssel an der Kasse abzugeben, wenn das Portemonnaie wieder zu schnell leer war. Na Schätzchen. Papa braucht noch was. Ja, ja, Belehrungen kannste Dir sparen. Jetzt gib schon die Jetons rüber. Hier der Schlüssel. Sollte wohl reichen!
Und das bei seinem Auto! Er hatte sich vor zwei Jahren einen Mercedes gekauft. Neu natürlich, das musste schon sein. Damit hatte er sich einen echten Traum erfüllt. Wer einen Mercedes fuhr, der war schließlich jemand! Als er den Wagen dann aber abholte, fiel ihm plötzlich auf, wie viele von diesen Dingern eigentlich herumfuhren, und so ließ er seinen eigenen kurzerhand in Gold lackieren! Gold! Ohgottohgott. Es tat ihm also jedes Mal besonders weh, wenn er den Schlüssel für sein geliebtes Goldstück im Casino abgeben musste. Oh Mann, das Casino war wirklich sein persönlicher Vorhof zur Hölle, kamen dort doch jedes Mal alle seine Probleme auf einen Schlag zusammen: Spielen, Frauen, Alkohol.
„Ist hier noch frei?“
Die Frage riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Er blickte vom Tisch auf und sah vor sich einen Mann, unauffällig, mittleres Alter, mittlere Statur, brauner Mantel. Pfeffer starrte den Unbekannten an. Der Laden war doch vollkommen leer. Warum wollte der Typ sich ausgerechnet hier hinsetzten? Zu ihm! An seinen Tisch! Gesellschaft konnte er in diesem Moment nun wirklich nicht gebrauchen.
Aber er hatte noch weniger Lust auf Diskussionen, und sein Bier war inklusive Schnaps auch gerade angekommen. Deswegen zog er beides etwas dichter zu sich heran und nickte stumm. Dann wendete er sich seiner Getränke-Orgel zu. Er kippte den Schnaps in einem runter, so wie es sich gehörte. Der Fremde hatte inzwischen Mantel und Hut abgelegt und selbst ein Bier bestellt. Pfeffer hatte sich schon darauf eingestellt, ihn vollständig zu ignorieren. Bloß jetzt kein Gespräch. Wie geht’s denn so? Hier aus der Gegend? Blabla. Oh Gott, hoffentlich war das nicht einer von diesen Schwulen! War er nicht. Aber er sprach ihn trotzdem an.
„Sagen Sie, Sie sind doch Richard Pfeffer oder? Der Kommunistenfresser vom Weserkreis! Na, Sie haben es aber mit den Genossen, was?“
Pfeffer nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier. „Und Sie sind wohl vom KGB und wollen mich verhaften, nehme ich an?“, sagte er mürrisch und tat einen weiteren großen Schluck.
„Nein, nein, das eher nicht, kein KGB“, sagte sein Gegenüber in einer Mischung aus Strenge und Heiterkeit.
„Ich bin vom Bundesnachrichtendienst.“
Kapitel Zwei
KARRIERE
I.
Auf Blitz folgt Donner. Und es donnert viel. Kostprobe? Also bitte, Zahnstocher rein und her damit. Die Russen versuchen aus Afghanistan eine sowjetische Enklave zu machen. Ach ja, hatten wir schon. Was war sonst noch? Blätter blätter. Oha. So einiges. Säuberungsaktionen in Kambodscha durch Vietnam (sollten die es nicht besser wissen? Tss Tss Tss ...), blutige Aufstände in Südkorea (ja, richtig: der gute Teil), Bürgerkrieg im Jemen und außerdem wird zwischen Israel und den palästinensischen Provinzen im Westjordanland ... nun ja, die alte Geschichte eben. Gähn. Das war’s schon? Ach na ja, wissen Sie, das ist jetzt auch nicht soooo aufregend. Also mehr. Kein Problem. Putsch im Tschad, in Gambia, Liberia, Ghana, Uganda, Nigeria, Burundi und in der Zentralafrikanischen Republik. In Kamerun wird es zumindest versucht, in Mauretanien dagegen durchgeführt, aber anschließend durch Gegenputsch wieder rückgängig gemacht. Rinn inne Kartoffeln, raus ausse Kartoffeln. So wird das natürlich nix mit’m Wirtschaftswunder. Egal. Hier heißt der wahre Feind: Kolonialismus! Und der liegt nun endlich niedergestreckt auf der Bastmatte und verdorrt in der Sonne. Auch eine Ex-Kolonie: El Salvador. Auch dort: meine Schaufel, Deine Schaufel. Großoffensive der Guerilla gegen die Regierung. In Bolivien hingegen wird artig gewählt. Weil einem aber die guten Antworten immer zu spät einfallen, ist das mit dem Wahlergebnis dann zwar schön und gut, wird aber trotzdem hinterher mit der Knute geregelt. Und auch hier wieder: Knüppel aus dem Sack. Das ewig wildschlagende Herz.
All das schafft es aber in den Nachrichten auch gerade so eben noch vor den Sportteil. Viel schlimmer sind da schon die Umtriebe von Maurice Bishop, Premierminister von Grenada und außerdem Marxist. Ohgottohgott, direkt vor der Haustür der freien Welt. Das geht nun wirklich nicht. Was macht der? Sowjetunion? Kuba? Bilateral? Das geht zu weit. Mr. President? Mr. President, könnten Sie kurz? Ja, ja, gleich gleich. Muss hier noch was in Auftrag geben. Also mal sehen, Neutronenbombe? Check! Star-Wars-Programm? Check! Größter Flugzeugträger aller Zeiten? Check! Kurz den Bleistift weg, was war jetzt gleich? Bishop? Ja, mach mal. Besetzen und gut. Aruba, Jamaica, ooooh I wanna take ya! So einfach ist das. Bishop wird exekutiert und der Cowboy schwingt weiter die Winchester-Flinte im Western. Oder war das vorher? Man kann da schon durcheinander kommen. War’s das denn nun? Grenada? Check!
Klappt in Nicaragua leider nicht, aber immerhin gelingt es, dort wenigstens einen ordentlichen Bürgerkrieg anzuzetteln. Da wird auch noch Honduras mit hineingezogen. Querfinanziert, gesponsert, das ganze Netz wie schon in Afghanistan. Finger hoch, wer eine Waffe abfeuern kann! Ah ja! Da haste! Aber wie es eben so ist, hast Du ein Maul gestopft, schreit schon der nächste. Geiselnahme im Iran. Puh, das wird langsam lästig. Prompt wird eine geheime Operation mit den besten Kräften gestartet. Ergebnis: ohne eine feindliche Muskete erblickt zu haben, waren drei Hubschrauber kaputt, zwei explodiert, dazu ein ebenfalls explodierter Tankwagen und ein ausgebranntes Großraumtransportflugzeug Marke Hercules. Ein Hubschrauber musste dann zurückgelassen werden und – na ja, das kann passieren – da waren dann auch noch geheime CIA-Dokumente drin. Ganz schön viel Getöse für eine geheime Operation. Ein klassischer Rohrkrepierer, aber was soll’s. Schulle, kann schließlich jedem mal passieren.
England war in Falkland viel erfolgreicher. Nutzte aber auch nichts, da John Lennon erschossen wurde. Da hätte man wohl lieber auf diese Bananeninsel verzichtet. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Trotzdem geriet Margaret Thatcher zur Eisernen Lady. Wer weiß eigentlich, dass sie vorher als Chemikerin das Softeis erfunden hat? Eher eine dunkle Episode Ihrer Karriere, denn soft wollte sie nun gar nicht sein. 15 Jahre Thatcher, 16 Jahre Kohl und da heißt es, Demokratie lebt vom Wechsel. Auch hier wieder: von den Roten lernen heißt Siegen lernen. Da wurde nämlich mehr so langfristig durchgetauscht, wenn auch mit den Füßen zuerst. Wer hat noch nicht, wer will nochmal. Der Posten des Generalsekretärs der KPdSU galt bis dahin eher nicht als eine schnell vorbeiziehende Karrierestation. Auf Breschnew folgte Andrpow folgte Tschernenko folgte Gorbatschow, wobei von einem kommenden Wind of Change bis dahin nicht einmal ein seichter Luftzug zu spüren war. So wundert es denn auch nicht, dass ein einfacher polnischer Werftarbeiter grobschlächtigen Typs eines Morgens aufstand, sich den buschigen Schnurrbart kämmte und beschloss, dass er die Schnauze voll hatte. Es folgten Solidarnosc, die Bürgerbewegungen in der DDR, in Ungarn, der CSSR und so weiter, und irgendwann fielen auch in der Sowjetunion zum ersten Mal die Worte Glasnost und Perestroika. Ähm, könnten Sie das bitte wiederholen, Genosse? Dies jedoch sollte keineswegs heißen, dass der Ostblock dabei war, die sprichwörtlichen Segel zu streichen. Nein, das nicht. Aber es brodelte in den Grenzen der Comecon, des Warschauer Paktes, wobei die Agenten der Geheimdienste in Ost und West nun alle Hände voll zu tun hatten. Und einem solchen Spieler im großen Match der bipolaren Welt saß unser frisch demissionierter Rick Pfeffer nun an jenem Abend gegenüber und überlegte angestrengt, wie er reagieren sollte.
II.
Er blickte sich noch einmal um. Die kleine Kapelle war bis auf den letzten Platz besetzt, an den Wänden hingen Messingkandelaber deren Kerzen die kunstvoll gearbeiteten Facettenfenster kaleidoskopisch beschienen. Wer all diese Männer und Frauen wohl waren, fragte er sich und streifte einige Gesichter in vorüberziehender Bedeutungslosigkeit. Frauen mit spitzenbedecktem Gesicht, ab und an ein Taschentuch unter den schwarzen Schleier führend, Männer allen Alters, deren teils zu eng sitzende dunkle Anzüge wohl immer nur zu traurigen Anlässen aus dem Schrank hervorgeholt worden waren. Blick nach unten, Kopfschütteln, Schluchz. Einige ließen, so wie auch er selbst, ihre Blicke schweifen und blieben immer wieder an dem Sarg hängen, schön aufgebahrt vor dem Altar. Dann wieder Blick nach unten, wieder Kopfschütteln. Nee nee, nu auch er. Vor und neben dem Sarg ein Blumenmeer von Gestecken, dem Anlass entsprechend geschmackvoll arrangiert. Grabgemüse. Darf man das sagen?
Er selbst nun trug einen schwarzen Anzug mit ebenso schwarzer Krawatte. Tagesuniform. Doch ach, herrje, was war denn das? Erst jetzt bemerkte er den kleinen Kaffeefleck am linken Revers. Verflixt und zugenäht, entfuhr es ihm in Gedanken während er darüber rätselte und sich gleichsam zu ärgern begann, wie er dieses kleine Odium hatte übersehen können.
Der Pfarrer, ein untersetzter, gutmütig blickender Mann fortgeschrittenen Alters, hatte gerade noch gesprochen, dabei immer wieder über seinen graumelierten Vollbart gestrichen, und anschließend hatte sie alle gemeinsam „So nimm denn meine Hände“, gesungen. Nun war sein Name genannt worden, und Richard genannt Rick Pfeffer stand auf, straffte sein Jackett und ging gemessenen Schrittes an das Katheder, welches dem fein gearbeiteten Eichensarg zur Seite gestellt worden war. Er legt sein Skript darauf, spürte die auf ihn gerichteten Blicke und Erwartungen, sah auf und begann zu sprechen:
„Ich kannte Joseph Rebschläger nicht!“
Er ließ seine Worte einige Sekunden lang wirken und setzte dabei einen gestochenen Blick auf, den er zwischen den Trauernden in der Kapelle sprungwechseln ließ. Er wartete noch kurz, bevor er fortfuhr.
„Ja, ich kannte Joseph Rebschläger nicht, und doch weiß ich mittlerweile so viel über ihn.“ Er blickte kurz aber theatralisch den Sarg an und lächelte flüchtig nickend, so als wolle er den Verstorbenen nun zum ersten und letzten Mal grüßen.
„Denn sehen wir uns einander an! So viele Menschen sind heute hier versammelt, um sich von ihm zu verabschieden. Um ihm Lebewohl! zu sagen. Freunde, Bekannte, Verwandte und natürlich seine liebe Familie, der mein ganzes Mitgefühl und mein aufrichtiges Beileid gilt.“ Er sah zu der weinenden Witwe hinüber und machte eine betroffene Geste. „So viele Augen, deren Tränen sich heute wohl nicht zählen lassen. Und so viele Erinnerungen, die das Leben von Joseph Rebschläger bei allen hier hinterlassen hat, dass es nicht genügend Tinte auf dieser Welt gibt, um sie alle aufzuschreiben.“ Nicken bei einigen Männern. Eine Frau schluchzte und Rick Pfeffer verbuchte dies als einen ersten Erfolg. Vielleicht fing sie ja gleich an zu heulen. Das wäre der Ritterschlag. Hatte seine Stimme zuvor noch ein leichtes Vibrato gehabt, wurde er nun zusehends sicherer. Er beschloss, jetzt in die erste Plural zu wechseln.
„Ein Schmetterling kann einen Orkan auslösen, heißt es, und ebenso hat das Leben von Joseph Rebschläger bei uns allen etwas hinterlassen, ist dadurch größer geworden und bedeutungsvoller als es ohnehin immer gewesen ist. Wir alle aber, waren ein Teil seines Lebens, und wir alle wissen, dass er ein Teil des unsrigen bleiben wird. Für immer. Wir werden von ihm erzählen, werden seine Fotos betrachten, werden uns an ihn erinnern und an das, was wir mit ihm teilten. Aber er war nicht nur ein Freund. Im Beruf war er erfolgreich, ja das lässt sich sagen. Was aber unser Joseph Rebschläger nach einem Menschenleben hinterlässt, ist mehr, als das, wofür andere wahrscheinlich die sieben Leben einer Katze bräuchten. Mag sein Betrieb auch klein sein, er hat ihn Kraft seiner Hände aufgebaut, ihn auch durch schwierige Zeiten gelenkt und nunmehr an seinen ältesten Sohn Walter übergeben.“ Er deutete auf den jungenhaften Mann in der ersten Reihe. „Aber was ihn vor allem auszeichnete war seine Menschlichkeit. Entlassungen hat es bei ihm nicht gegeben, niemals. Und erinnert sich nicht der ein oder andere an den unbekannten Weihnachtsmann, der auf einmal vor der Tür stand und Geschenke reichte, als das Geld auch mal knapp und die Not groß war?“ Die, die es wussten nickten, einer sagte leise „Jawohl“, und Pfeffer machte erneut eine kleine Pause. Wieder Schluchzen, diesmal schon mehr, deutlicher, und aus den Augen der meisten sprach nun erkennende Zustimmung. Er hatte sie. Jetzt hatte er sie alle. Er spürte die Erleichterung und war nun fast beschwingt.
„Und seine Familie, die er so sehr liebte – keiner soll sagen, er hätte sich nicht gekümmert. Joseph Rebschläger war ein liebender Ehemann, ein gütiger Vater und ein aufopferungsvolles Familienoberhaupt. Es zerreißt mir das Herz in der Brust, wenn ich Sie nun hier ansehe“, er blickte ein wenig übertrieben zu der Witwe und da plötzlich – Jawollja! Sie weinte große Kullertränen! Volltreffer! Besser geht’s nicht. Jetzt nur nicht nachlassen! „Wenn ich Sie ansehe und nicht einmal annähernd Ihren Verlust ermessen kann. Und doch weiß ich eins: so wie ich Ihn kenne, wird er von da, wo er jetzt ist, weiter über Sie wachen und seine Hand schützend über Sie halten. Es mag Sie, es mag uns alle nicht trösten, darum zu wissen, denn für uns ist er fort. Doch lebt er fort, lebt in allem, was uns umgibt weiter. In Seinen Kindern, in seinem Schaffen, in all unseren gemeinsamen Erinnerungen, und wir dürfen nie aufhören, sie dem Vergessen zu entreißen. Nein, ich kannte unseren Joseph nicht. Aber wenn ich heute einen Wunsch frei hätte, dann wünschte ich mir, dass ich ein bisschen so sein könnte wie er. Dass wir alle ein bisschen so sein könnten wie Joseph Rebschläger.“
Er blickte nach unten, strich sich eine Träne aus dem Auge, die gar nicht dort war und ließ wiederum das Gesprochene wirken. Er hatte sie tatsächlich erreicht. So viele Tage hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet, so lange an seiner Rede gefeilt, so oft vor dem Spiegel geübt, aber dennoch war ihm beim Anblick der vielen in Trauer aufgelösten Menschen beinahe schlecht vor Angst geworden. Nun jedoch spürte er auf einmal wieder dieses triumphierende Gefühl in sich, es geschafft zu haben, dieses Hochgefühl der Freude über seine Arbeit, dass er seit seinen Tagen beim Weser-Land-Blatt so schmerzlich vermisst hatte. Darüber hinaus gab es ja schließlich auch noch Geld und zwar keinen Pappenstiel, wie Pfeffer erstaunt hatte feststellen müssen, als er das erste Kuvert erhalten hatte.
Er musste plötzlich darüber nachdenken, welch absurde Windungen das Leben doch zu nehmen pflegte. Immer dann, wenn man am wenigsten damit rechnete. Das Schicksal ist eben ein wirrer Stratege, dachte er sich und musste unwillkürlich an jenen Augenblick vor nun gut drei Wochen denken, als der Platz ihm gegenüber im Sattelschlepper auf einmal von einem unbekannten Fremden besetzt worden war. Hatte er ihn eigentlich begrüßt? Hatte er ihm einen guten Abend gewünscht oder ihm ein eher gängiges Moin über den Tisch geworfen? Er konnte sich nicht mehr genau darauf besinnen. Das erste, woran er sich in der Rückschau erinnerte, war jener Satz, den er Zeit seines Lebens nicht mehr vergessen sollte.
III.
„Ich bin vom Bundesnachrichtendienst“, hatte der Unbekannte gesagt. Und er sagte es so ernst und bestimmt, dass Richard genannt Rick Pfeffer sich an seinem tiefen und sonst so geübten Zug Pils verschluckte und laut prustete.
„Wollen Sie mich verscheißern, oder was? Sie sind doch nicht vom BND!“ Pfeffer sagte es mit aller Strenge, um sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Innerlich jedoch rasten seine Gedanken. Hatte er jetzt ein Problem? Was konnten die von ihm wollen? Hatte er mit irgendwas richtigen Mist gebaut? Musste er ins Gefängnis? Ohgottohgottohgott! Bloß nicht ins Gefängnis.
„Nein, das will ich nicht, Herr Pfeffer. Ich bin Oberleutnant Hans Müller, und ich arbeite für den Auslandsgeheimdienst der Bundesrepublik Deutschland. Und bevor Sie fragen: Nein, natürlich ist das nicht mein richtiger Name.“
„Müller also“, sagte Pfeffer, „Haben Sie irgendeinen Ausweis oder so was? Ich meine, können Sie das beweisen?“
„Wie wäre es damit!“, sagte Hans Müller, zog sein Jackett zur Seite und Pfeffer konnte einen ledernen Pistolenholster mit der darin befindlichen Waffe sehen. Jetzt wurde ihm schlecht. Er hatte noch nie in seinem Leben eine Waffe so nah gesehen, höchstens mal bei den BGS-Leuten während der Rasterfahndung. Aber die wollten ja damals nichts von ihm, die waren ja auf die Meinhof und den Baader mit ihrer Schweinebande aus. Solange Sie nicht auf Dich gerichtet sind, nimmst Du Waffen kaum wahr. Das war auch bei einem Rick Pfeffer nicht anders. Jetzt aber saß ihm jemand gegenüber, der gerade noch ein völlig Fremder war, ihn direkt ansprach und eine Pistole bei sich trug, und das war der Moment in dem Rick Pfeffer echte Angst bekam.
Müller indes musste wohl Pfeffers plötzlichen Stimmungsumschwung bemerkt haben, denn er zog schnell wieder das Jackett vor die Brust während er sagte: „Keine Sorge, Pfeffer, ich werde Sie schon nicht erschießen. Da wäre ich ja schön blöd!“ Er lachte jetzt und klang sanfter.
„Schön blöd?“ Rick Pfeffer war irritiert.
„Schön blöd, weil ich mich ja mit Ihnen unterhalten will. Tote reden nicht, Pfeffer.“ Jetzt schmunzelte er sogar. „Glauben Sie mir, ich muss es wissen.“
Hans Müller trank den Rest seines Bieres in einem Zug aus, stellte das Glas auf den Untersetzter, faltete die Hände vor sich auf dem Tisch und sah Pfeffer einige Momente in stiller Freundlichkeit an.
„Kann ich Ihnen erst mal einen ausgeben? Auf den Schreck meine ich?“
Pfeffer nickte und trank nun seinerseits das Glas leer.
„Und einen Schnaps dazu“, sagte er noch immer ein wenig abwesend. Der nun nicht mehr ganz so Fremde, der sich ihm als Hans Müller vorgestellt hatte stand auf, ging beinahe übertrieben lässig und schwungvoll zum Tresen und bestellte wie gewünscht. Dann kam er zurück, setzte sich wieder hin, und beide sagten kein Wort ehe nicht die Gläser mit dem frischen, schäumenden Bier von der Bedienung vor sie auf den Tisch gestellt wurden. Und für Rick Pfeffer einen Schnaps nebenbei.
„So, jetzt wollen wir uns erst mal aufwärmen!“ Hans Müller hob sein Glas und deutete Pfeffer zu, anzustoßen. Der hingegen war noch mit dem Schnaps beschäftigt, welchen er ums Neue in einem Zug hinunterkippte, sich kurz schüttelte, das kleine, schwere Glas auf den Tisch stellte und erst dann die Biertulpe anhob und mit seinem Gegenüber anstieß.