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Müller trank einen nicht mehr ganz so tiefen Schluck, und während er sich den Schaum noch mit dem Handrücken von der Lippe wischte, entfuhr ihm ein wohliges „Ahhh!“ Er stellte das Glas ab und sah Pfeffer an.
„Ich will nicht lange drum herumreden, Pfeffer. Wir beobachten Sie schon einige Zeit, und uns gefällt, was Sie tun. Also, vielmehr, was Sie getan haben. Einer wie Sie kann in Pullach viel Kredit erwerben.“
„Kann er das?“, raunte Pfeffer, nun schon weniger ängstlich, dafür aber beginnend misstrauisch.
„Ja, das kann er. Sehen Sie, die Expansion des Kommunismus ist nach wie vor die größte Gefahr für unser Land, Pfeffer, Sie als Journalist sollten das wissen. Die UdSSR ist kein nach Innen gerichtetes System mehr wie in den zwanziger oder von mir aus dreißiger Jahren. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die Kommis immer weiter an Boden gewonnen. Haben Sie das von Gorbatschow gelesen? Diesen ganzen Unfug über Glasnost und Perestroika? Seit er letztes Jahr angetreten ist, versucht er, dem Westen in die Manteltasche zu springen. Wenn Sie mich fragen, ist das alles nur wieder eine abgekartete rote Masche. Bei Stalin oder Chrustschow, da wusste man, woran man war. Aber heute ...!“ Er machte eine abschätzige Handbewegung. „Seit Breschnew abgenippelt ist, geht es im Politbüro zu wie in einem Wanderpuff. Erst Andropow, dann Tschernenko, jetzt Gorbatschow – was weiß ich denn, wer da nächstes Jahr im Sessel sitzt. Wenn Sie mich fragen, steht denen seit Afghanistan das Wasser bis zum Hals, und bevor die Genossen dicke Backen machen, versprechen sie Dir lieber erst mal das Blaue vom Himmel. War doch schon immer so. Und während das alles läuft, hat der kleine Bruder in Berlin mittlerweile wer weiß wie viele Spione hier im Westen. Das ist ein echtes Problem. Ein reales Problem. Und es ist vor allem ein deutsches Problem. Wissen Sie, wie schwierig es für die Russen ist, einen Sowjet-Agenten in den USA zu tarnen? Ihn überhaupt da hin zu bringen? Mann, Pfeffer, ich kann Ihnen sagen, die Russen bauen in Sibirien ganze Dörfer aus dem mittleren Westen der USA nach, um ihr Personal da zu schulen. Lassen die Frauen da Kinder kriegen, damit die von Geburt an englisch sprechen, Pepsi trinken und so weiter. Aber hier“, er nahm einen Schluck Bier und zündete sich eine Zigarette an „hier schicken Sie einfach einen Stasi-Mann mit Passierschein über den Checkpoint Charly und wir geben dem auch noch Hundert Mark zur Begrüßung.“ Er lachte bitter und betrachtete die feine Rauchsäule, die nun über seiner Zigarette aufstieg.
Rick Pfeffer blinzelte. Noch immer konnte er nicht erkennen, was er mit der ganzen Sache zu tun haben sollte, aber Hans Müller wurde ihm langsam sympathisch.
„Wissen Sie, was Brandt gemacht hat?“, fuhr Müller fort und ohne eine Antwort abzuwarten: „Der hatte ein sogenanntes Journalistenabteil, ganz hinten am Kanzlersonderzug. Das Teil war aber nicht voll mit Journalisten, sondern mit Journalistinnen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Stecken Sie einfach eine blonde Spionin mit prallen Möpsen in einen Rock und schon sind Sie im Sicherheitsbereich des Bundeskanzleramtes. Um Gottes Willen, so einfach war das damals. Wer wäre da auf Guillaume gekommen?“ Er lachte laut auf und drückte die Zigarette kopfschüttelnd aus. „Wir tun unser Bestes, Pfeffer, das können Sie mir glauben. Aber auch wir können nicht überall sein. Und dann auch noch die ganze Scheiße mit der RAF! Wir haben gedacht, dass sich das alles mit der Aktion in Stammheim erledigt hätte, aber jetzt sind schon wieder die Nächsten unterwegs und ballern rum wie Räuber Hotzenplotz mit der Pfefferpistole. Das hat der alte Gehlen nicht geahnt, dass seine „Fremden Heere Ost“, auf einmal quasi aus den eigenen Reihen kommen. Kurz und Gut:“, er atmete tief ein und wieder aus „Die Bundesrepublik braucht dringend loyales Personal, Pfeffer. Und da kommen Sie ins Spiel.“
„Und das heißt?“ Pfeffer spürte nun eine innere Anspannung.
„Das heißt, dass ich Ihnen einen Job anbiete, Pfeffer. Nichts Großes zwar, und berühmt werden Sie damit auch nicht, glauben Sie mir. James Bond gibt es nur in Hollywood. Aber Sie können etwas für uns tun. Sie können etwas für Ihr Land tun.“
Pfeffer nickte, während in ihm die Aufregung wuchs. Als er einen Schluck aus seinem Glas nehmen wollte, bemerkte er sogar, dass seine Hände angefangen hatten zu zittern.
„Wie gesagt, wir können nicht überall sein. Deshalb brauchen wir Leute wie Sie, die immer Augen und Ohren offen halten, Pfeffer. Sie haben in Bremen ganz schön was ins Rollen gebracht, wissen Sie das eigentlich?“
Nicht ohne Stolz, aber immer noch ein wenig zu zaghaft für einen wahren Pfeffer antwortete dieser „Na ja, man tut was man kann. Aber das waren ja keine Kommunisten! Das waren eigentlich alles nur Sozis!“
„Was denken Sie denn, was die Sozis vorhaben, Pfeffer? Was glauben Sie, warum die den Schmidt abgesägt haben? Wissen Sie, was bei Marx und Engels steht? Der Sozialismus kann nur bestehen als Weg zum real existierenden Kommunismus! So! Und was glauben Sie denn, wer drüben im Politbüro sitzt? In der SED? Das waren vorher auch mal alles Sozialdemokraten, die hoch und heilig geschworen haben, mit der KPD nie gemeinsame Sache zu machen, und jetzt reichen die sich gegenseitig die Wodkagläser und sagen aber mal laut Nastrovje! Nein, nein Pfeffer, Rot bleibt Rot, egal wie die es nennen. Und nach allem, was ich von Ihnen gelesen habe, sehen Sie das doch genauso, oder irre ich mich da etwa?“
Sympathisch, der Mann. Pfeffer machte nun die Leinen los.
„Für mich sind das alles Bolschewiken!“ Jawoll! Wird man ja wohl noch sagen dürfen! „Ich habe denen in Bremen das auch gesagt. Immer wieder! Da ist der allerletzte Filz am laufen, und Moskau ist die ganze Zeit am Telefon dabei. Ich war einer der wenigen, die alles ausgesprochen haben. Aber Sie sehen ja, wohin mich das gebracht hat“, er deutete auf das Enterieur des Sattelschlepper. Die Bedienung verstand es fälschlicherweise als neue Bestellung und begann schon wieder, den Zapfhahn zu bedienen. Rick Pfeffer wehrte sich nicht dagegen.
„Wir wissen, dass Sie für die Roten Brüder einen ganz guten Riecher haben, Pfeffer. Alles, was wir wollen, ist, dass Sie Ihre Antennen ausgefahren lassen und uns über alles Bericht erstatten, was Sie so aufschnappen. Auch das, was vielleicht die Gerüchteküche mitunter so hergibt. Wie hört sich das für Sie an?“
„Das ist alles?“
„Wenn Sie es wollen, ja“, sagte Müller, während Pfeffer erneut Bier und Schnaps vorgesetzt wurden. „Ich hätte aber auch noch ein anderes Angebot für Sie.“
„Und das wäre?“ Pfeffer kippte den Schnaps herunter. Er bemerkte, dass er jetzt doch einen leichten Schwips hatte.
„Sie könnten uns hin und wieder einen Gefallen tun. Nichts Großes, keine Bange, nur ... na ja ... Gefallen eben.“
„Ja, aber was wären das denn für Gefallen?“, fragte Pfeffer, vom Alkohol mittlerweile jeder Furcht beraubt.
„Das kann man in unserem Geschäft nie vorher sagen. Kleinigkeiten eben. Und es wäre nicht Ihr Schaden.“
„Wie soll ich das denn jetzt verstehen?“, wurde Pfeffer hellhörig.
„Nun, sie haben doch keinen Job mehr, oder?“
Hatte er nicht.
„Und wie sieht es mit dem lieben Geld aus?“
Schlecht. Wenn er ehrlich war, wusste er nicht mal wie er hier im Sattelschlepper die immer länger werdende Rechnung bezahlen sollte.
„Sehen Sie, und ich kann Ihnen beides geben. Wir machen das immer so. Sie bekommen einen unauffälligen Job, der keine Vorkenntnisse erfordert, erhalten einen sehr anständigen monatlichen Sold, bar natürlich, und halten sich ansonsten bereit, bis wir uns bei Ihnen melden. Augen und Ohren offen halten versteht sich von selbst!“ Er machte eine Pause und blickte Rick Pfeffer in die Augen. „Was sagen Sie, Pfeffer, sind Sie dabei? Ach so, und als kleiner Vorschuss geht hier natürlich alles auf mich!“
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Natürlich war er dabei. Hand drauf, eingeschlagen, Bruderkuss. Ups, das dann vielleicht doch nicht. Man besiegelte alles mit einer weiteren Runde, ehe Pfeffer es ganz genau wissen wollte.
„Und was muss ich machen? Also die unauffällige Arbeit meine ich.“
Müller sah in an und sagte „Sie sind doch Journalist. Das heißt, Sie können schreiben, oder?“
„Kann ich!“ Die Worte kamen aus ihm herausgeschossen und voll übermütigen Stolzes knallte er sein Glas etwas zu fest auf den Tisch.
„Gut. Und können Sie auch reden?“
„Kann ich auch!“, log Pfeffer und merkte, dass er schon erheblich lallte, da sich der letzte Satz beinahe wie „Kaiauch“, anhörte. Das Vereinsilbigen war ein untrügerisches Anzeichen für einen sich bedenklich verschlimmernden Vollrausch. Hans Müller jedoch schien völlig nüchtern zu sein.
„Gut mein lieber Pfeffer, dann haben Sie ab Montag einen neuen Job!“
IV.
Als Rick Pfeffer am nächsten Tag schwer verkatert in den Briefkasten sah, fand er dort einen Umschlag, in welchem neben 5.000 Mark in bar ein Zettel mit der Adresse eines Beerdigungsinstitutes steckte. Als er das Geld sah, erschrak er regelrecht und sah sich wie ertappt vor der Haustür um. Augen links, Augen rechts. Lieber nochmal links. Nichts zu sehen. Er ging wieder ins Haus, schloss sich im Badezimmer ein, nahm das Geld aus dem Umschlag und ließ es wie einen Stapel Skatkarten gefällig am Daumen vorbeiblättern. Es fühlte sich gut an, sehr gut sogar. Er roch daran und bemerkte den typischen, unverwechselbaren Geruch des Geldes, der schon so viele andere vor ihm in Verlegenheit gebracht hatte. Aber was ... aufgemerkt. Er tat es für die gute Sache! Schön war’s trotzdem. Dann sah er sich noch einmal den Zettel mit der Adresse an. Ein Beerdigungsinstitut. Er dachte nach. Was sollte er wohl in einem Beerdigungsinstitut machen? Hoffentlich keine Leichen waschen oder ihnen die Haare schneiden oder etwas anderes Abartiges in der Richtung. Ihm wurde plötzlich wieder mulmig, und als er den vergangenen Abend noch einmal im Geiste vorbeiziehen ließ, begann er sich zu ärgern, dass er so leichtfertig eingeschlagen hatte. „Verdammter Alkohol!“, sagte er lauter zu sich als er es gewollt hatte. Es lag alles so unwirklich hinter ihm, nur wie durch einen Schleier konnte er sich an das Gespräch erinnern. Das Geld allerdings fühlte sich echt und, wie gesagt, sehr gut an. Er klopfte sich mit dem Bündel Scheine bedächtig auf die Handfläche, während er seine Optionen durchspielte. Letztlich kam er zu dem Schluss, dass er das Geld wohl gut gebrauchen konnte. Außerdem, wie sollte er es auch zurückgeben? Und was würde dann mit ihm passieren? Also beschloss Rick Pfeffer an jenem Morgen um viertel nach Zehn auf seinem Toilettendeckel sitzend, zu jenem Beerdigungsinstitut zu fahren und seine erste geheimdienstliche Tätigkeit aufzunehmen.
Und dann war alles ganz schnell gegangen. Es schien, als ob der Inhaber schon auf ihn gewartet hatte. Er stellte keinerlei Fragen, zumal keine unangenehmen, sondern begrüßte ihn direkt mit Namen.
„Richard Pfeffer, richtig?“
„Derselbe. Aber sagen sie ruhig Rick.“
„Was? Wie auch immer. Ich hatte ehrlich gesagt später mit Ihnen gerechnet, aber so ist es natürlich noch besser. Hat man Ihnen schon erklärt, was Sie hier tun sollen?“, fragte er, während er ihn zum Büro führte.
„Ehrlich gesagt nein. Hat es was mit den Toten zu tun? Muss ich ... also, muss ich die anfassen?“
Der Inhaber lachte laut. „Nein, mein Lieber. Wir sagen hier übrigens Verstorbene. Und die überlassen Sie mal schön mir. Sie werden eher mit den Lebenden zu tun haben.“
Und dann erklärte er Ihm, wie genau sein neuer Job als Miet-Grabredner aussehen würde, und dass es zwar Miet-Grabredner hieß, er ihm aber leider nichts bezahlen könnte. Aber – man wisse ja – es gebe noch andere Arrangements, Bargeld auf die Hand oderwassonstnoch und eigentlich wolle er davon auch ansonsten lieber nichts wissen. Aber anständig leben muss man ja auch und vor allem wenn man den ganzen Tag vom Tod umgeben ist. Das letzte Hemd hat keine Taschen und so weiterundsofort.
Und nun, knappe drei Wochen später, hatte er bereits seine dritte Grabrede gehalten, stand vor der trauernden Gemeinde und ließ den letzten Satz seiner Rede noch ein wenig nachwirken, bevor er sein Skript zusammenklopfte, es übertrieben sorgsam faltete, um sich anschließend wieder auf seinen Platz zu begeben. Die Zeremonie folgte der von den Angehörigen bestimmten Liturgie und anschließend wurde Joseph Rebschläger, den Rick Pfeffer nicht gekannt hatte pietätvoll unweit eines kleinen Birkenhains beigesetzt. Pfeffer kondolierte als einer der ersten und wurde von der Witwe zum anschließenden Leichenschmaus eingeladen.
„Sie haben das gut gemacht, Herr Pfeffer. Ehrlich. Joseph hätte es gefallen. Kommen Sie doch auch mit in die Kate und essen etwas mit uns, ja?“ Er nahm an.
In der Kate, die eigentlich Bauernkate hieß, saß Pfeffer dann in seinem schwarzen Anzug still am Tresen und trank sein Bier. Kaffee hatte er nicht gewollt, da er den hinterhältigen Fleck am Revers noch nicht vergessen hatte. Wie Du mir und so fort. Hin und wieder sprach ihn jemand an und bedankte sich für die „lieben Worte“, oder die „schöne Rede“. Ein sehr dicker Mann mit Glatze kam auf ihn zugewankt, schlug ihm für seine Statur viel zu leicht anmutend mit der flachen Hand auf die Schulter, ließ diese dort kurz verweilen, nickte anerkennend und wankte wieder davon. Einfache Menschen, einfache Gesten. So war das wunderschöne Landleben nun mal. Und so ging es weiter, etwa eine halbe Stunde lang und Richard genannt Rick Pfeffer war die ganze Zeit stumm geblieben. Was auch hätte er über den Verstorbenen sagen können, dass er nicht schon vorhin in der Kapelle gesagt hatte. Hatte er sich ja auch nur aus der Nase gezogen. Taschenspielertricks. Und indem er all die Menschen beobachtete, die gekommen waren, um Joseph Rebschläger die, wie es so schön hieß, letzte Ehre zu erweisen, begann Pfeffer zu sinnieren, wer wohl zu seiner eigenen Beerdigung mal kommen würde. Kinder hatte er keine, auch die Verwandtschaft war rar gesät und mit den meisten hatte er sich ohnehin schon vor Jahren überworfen. Seine Frau, ja, die würde wohl kommen. Vorausgesetzt, sie hätte ihn nicht selbst umgebracht, dann dürfte es schwierig werden. Grund genug hatte sie wohl, das stand mal fest. Ja, Freundschaften zu schließen war nie seine Paradedisziplin gewesen und wozu auch. Die meisten die er kennenlernte waren entweder schmierig oder neidisch. Oder beides. Oder totale Kulturbratzen, Kobolde und dumme Fritten. Er hatte es nie lange mit denselben Leuten ausgehalten und sie auch nicht mit ihm. So war er eben. Hard to handle, easy to hate. Das war doch aus irgend so’nem Song ... Aber dass er nicht den einen, echten, richtigen Kameraden hatte, das war schon traurig. In gleichem Schritt und Tritt, mein guter Kamerad. Einmal gab es einen, der hätte es werden können. Er hatte ihn damals in Bremen beim Joggen getroffen. Das war in der Zeit, als er bei der Polizei-Pressestelle gearbeitet hatte. Alles dort hatte ihn fasziniert und er bewunderte, wie die uniformierten Männer jeden Tag auf die Straße gingen, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Was los hier? Erstma Ausweis zeigen, junger Mann! Als er dann selbst mit dem Gedanken zu spielen begann, Polizist zu werden, wurde ihm sehr schnell klar, dass er sich hierfür vor allem körperlich in Form würde bringen müssen. Keine Zigaretten mehr, kein Alkohol, keine Eskapaden. Und fit musste er werden. Daher hatte er angefangen, jeden Tag ein wenig an der Weser zu laufen und an einem dieser Tage war ihm dann dieser Kerl begegnet. Er versuchte sich zu erinnern, wie er geheißen hatte. Er hieß ... er hieß ... Ach verflixt, es war zum Mäusemelken, aber ihm wollte der Name einfach nicht einfallen. Blöd sowas. Jetzt würde ihn diese Sache den ganzen Tag lang verfolgen. Einmal konnte er die halbe Nacht nicht schlafen, weil ihm der Vorname von Strauß nicht eingefallen war. Oh je, nein soweit sollte es dieses Mal nicht kommen. Der hieß, warte, gleich hab ich es ... Nein. Er konnte sich nicht erinnern. Weil er das aber nun für ein Ding der Unmöglichkeit hielt, und weil er schon ein bisschen betrunken war, machte er die Augen zu, umklammerte das Bierglas mit beiden Händen und dachte noch schärfer nach. Er hieß ... er ... hieß ... er ...
„Machen Sie so was öfter?“
Die zarte Frauenstimme riss ihn jäh aus seinem kläglichen Versuch sich zu erinnern. Er schlug die Augen auf und konnte zunächst nur die verschwommene Kontur einer Brünetten neben sich erkennen. Dann nahm er die Brille ab, rieb sich einige Sekunden bei wieder geschlossenen Augen den Nasenrücken beidseitig der Wurzel mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand und sah noch einmal hin.
„Entschuldigung. Wie bitte?“ Das war zunächst alles, was er herausbrachte.
„Na, ob Sie so was öfter machen? Grabreden halten bei Leuten, die Sie nicht gekannt haben. Ich meine, das kann doch nicht Ihr Beruf sein, oder?“
Jetzt besah er sich sein Gegenüber etwas genauer. Er schätzte sie auf Anfang dreißig, mittellange gelockte Haare, wahrscheinlich Dauerwelle aber immerhin kein Minipli, wie sie ihn gerade alle trugen. Feste füllige Beine, aber eine dafür recht schmale Taille. Sein Blick glitt über Beine und Taille weiter nach Oben – auch alles fest und füllig, wie er fachmännisch feststellte. Ihr Gesicht schien trotz der verblassenden Jugend nicht verbittert, sie trug keine Brille. Puh, gut! Obwohl er selbst Brillenträger war, stellte Rick Pfeffer immer wieder fest, wie wichtig ihm dieser Punkt bei Frauen war. Vierauge, Nasenfahrrad, Brillenschlange – das sollten die Streber schön unter sich ausmachen. Aber mit der hier – mit der würde er sich wohl schon ganz gerne mal in die Erste Plural begeben. Das Auskundschaften der Frauen erfolgte bei Richard genannt Rick Pfeffer nach festgelegt taxierendem Maß in einer Geschwindigkeit, die im Übrigen jeden Kenner in Erstaunen versetzen musste. Überdies hatte er die seltene Gabe, es so zu tun, dass die Beobachteten nichts von der Vermessung mitbekamen. Zumindest glaubte Pfeffer das. Der ganze Vorgang hatte also, seit sie ihn erneut gefragt hatte, nur einige Sekunden in Anspruch genommen, so dass er ohne auffällige Verzögerung antworten konnte:
„Nein, nein, gnädige Frau. Das mache ich nur aushilfsweise. Eigentlich bin ich Journalist. Aber wenn mal Not am Mann ist, also ich meine bei Bestattungen, dann übernehme ich das. Ist mir eine Herzensangelegenheit. Außerdem sollte man da nicht jeden Stümper ranlassen. Man bringt schließlich einen Menschen unter die Erde, da gehört es sich, den Rhythmus im Takt des Anstandes zu spielen. Das kann nicht jeder, wissen Sie? Aber man kann ja auch nicht erwarten, dass jeder eine so fundierte und professionelle Ausbildung hat wie ich.“ Den Rhythmus im Takt des Anstandes spielen, dachte er sich und war auf einmal richtig stolz auf diese Schöpfung. Solche poetischen Phrasen fielen ihm sonst nie so spontan ein. Es musste wohl an dieser bezaubernden jungen Frau liegen, die schon verhalten kicherte, als er sie „gnädige Frau“, genannt hatte. Oder am Alkohol. War aber auch gleichgültig, denn Rick Pfeffer dachte nur noch: „Volltreffer!“
„Und wenn Sie Journalist sind, also wenn Sie das hier nicht machen“, sie zeigte rücklings mit dem Kopf auf die Trauergesellschaft, „für wen schreiben Sie? Und schreiben Sie Sport oder Kultur? Oder ganz langweilig Politik?“
„Also, wissen sie, momentan ist das Ganze äußerst schwierig zu erklären. Ich meine, ich bin quasi ein freier Mitarbeiter. Im Grunde selbständig. Ich..“
„Sie sind arbeitslos!“, prustete sie fast und lächelte dann einigermaßen verlegen. Das war Pfeffer jetzt doch unangenehm, denn eigentlich hatte sie Recht.
„Das kann man so nicht sagen. Ich mache jetzt nur, sagen wir, etwas anderes.“ Das gefiel ihm schon besser und ihr auch, wie er nun bemerkte.
„Na, was denn?“, fragte sie ehrlich interessiert.
„Etwas anderes halt. Ich kann nicht so richtig darüber sprechen, Sie verstehen schon.“
„Nein, tue ich nicht.“
„Na ja, etwas über das man nicht spricht. Nicht öffentlich zumindest. Ich helfe gewissermaßen mit, für den Frieden, also ... ich kann wirklich nicht darüber reden.“
„Dann kommen Sie mit. Wir gehen irgendwo hin, wo Sie es können“, sagte sie und begann, ihn am Ärmel hinter sich her zu ziehen. Nun war die Bauernkate aber rappelvoll mit Trauernden, so dass sich einfach kein ruhiger Ort finden wollte. Irgendwann wurde es der hübschen Unbekannten dann zu bunt. Sie öffnete die Tür zur Garderobenkammer und zog Pfeffer hinein.
„So. Heimlich genug? Jetzt sagen Sie schon: was machen Sie denn nun so geheimnisvolles?“
„Ich bin vom Bundesnachrichtendienst!“, imitierte Pfeffer Hans Müller gekonnt und hoffte damit ebenso großen Eindruck zu schinden, wie es Müller bei ihm gelungen war.
„Ach Quatsch, Mann. Erzähl doch keine Märchen, Bundesnachrichtendienst. Das denkst Du Dir doch jetzt aus, weil wir hier in der Rumpelkammer stehen, und Du mich abschleppen willst!“
„Nein, das ist kein Witz. Sieh’ mal“, er war jetzt auch ins „Du“, gewechselt, „die Expansion des Kommunismus ist nach wie vor die größte Gefahr für unser Land. Hast Du das von Gorbatschow gelesen? Über Glasnost und Peres..“, weiter kam er nicht, denn sie hatte auf einmal stürmisch seinen Kopf gepackt und fing an ihn direkt auf den Mund zu küssen. „Was denn.“, entfuhr es ihm noch, aber ihre Zunge ließ seiner keine Zeit, zu fragen. „Gorbatschow hat.“, stammelte er an ihren Lippen vorbei und sie sagte ganz ordinär: „Halt’s Maul und mach’s mir einfach, ja? Ich will heute zumindest einmal etwas Schönes erleben!“
Er hörte einen aggressiven Ton in ihrer Stimme, was ihm jedoch egal war, weil sie in eben diesem Moment ihren Gürtel öffnete, die Hose im Umdrehen herunterstreifte und ihn beinahe unmittelbar von hinten gewähren ließ. Sozusagen. Hüstel. Sie wissen schon. Oh Mann. Und Rick Pfeffer? Der hatte nun auch die Hose unten, verrichtete ungelenk das Verlangte und fing sofort an zu schwitzen. So, dass er merkte, wie ihm bei jeder Bewegung dicke Schweißperlen erst über die Stirn und dann auch unter seinem Hemd am Rücken hinunterliefen. Auf einmal rutschte seine Brille von der Nase und fiel zu Boden. „Scheißegal!“, dachte er, der schon gar nicht mehr wusste, wo er war. Aber wild entschlossen, jawohl, das war er und der Trieb hatte ihm denselben Befehl gegeben, wie seine unverhoffte Liaison. Schnauze halten und die Sache durchziehen. Und sei es eben im Blindflug.
Doch dazu kam es nicht.
Denn gerade als Pfeffer sich dem seligsten Punkt dieser unerwarteten Intimität näherte, gerade als ihm ein leises Krächzen die Kehle hinaufschlich, als er die Augen fest zusammenkniff und den Gipfel erwartete, gerade da wurde die Tür der Garderobe geöffnet. Nein, nicht geöffnet. Aufgerissen. Pfeffer spürte, wie der Schreck und das peinliche Entsetzten seinen Pulsschlag noch einmal steigerten, zumal er ohne Brille nicht einmal erkennen konnte, wer sie in diesem denkbar ungünstigsten Moment ertappt hatte. Er sollte es aber postwendend herausfinden.
„Mama!“, schrie die ihm noch immer Unbekannte, und zog rasend schnell ihre Hose wieder hoch. „Scheiße, was soll das?“ Pfeffer verstand die Welt nicht mehr. Unter der Gürtellinie noch immer völlig nackt, bückte er sich erst einmal, um seine Brille zu suchen, wobei er den sich vor der Garderobe sammelnden Menschen seine unbedeckte Kehrseite zuwandte.
„Ziehen Sie sich was an, Mann. Das ist ja ekelhaft!“, hörte er einen Mann brüllen. Und Pfeffer unterbrach seine Suche, um genau das zu tun, denn der Mann klang wirklich, wirklich wütend. Pfeffer zog also blitzschnell die Hose hoch und schnallte mit gelernter Bewegung den Gürtel zu, wobei er aus Versehen mehr Löcher übersprang als gut für ihn war. Sofort spürte er das Kneifen an der Taille und wurde wiederum kurzatmig. Pfff pfff ging sein Atem, aber er konnte noch immer nichts sehen und ein klarer Durchblick war jetzt wichtiger als seine Atemnot. Er bückte sich also abermals, wobei sich der Hosenbund wie Stacheldraht in sein Bauchfleisch schnitt. Er suchte suchte suchte und gerade als die Peinlichkeit nicht mehr auszuhalten war, fand er zu seinem Erstaunen dann doch die Brille und setzte sie auf. Und dann?
„Scheiße“, sagte er, denn vor ihm stand die Witwe. Nur, dass sie jetzt gar nicht mehr traurig wirkte, sondern eher rasend vor Wut. Neben ihr standen außerdem der Fettsack von vorhin sowie einige andere Männer. Und es wurden zusehends mehr. Über ihre Schultern hinweg erkannte Pfeffer, dass sich im Saal Unruhe breit zu machen begann. Er wollte etwas sagen, irgendetwas, aber er brachte einfach nichts heraus. Schließlich war es die Witwe, die sich allerdings an die unbekannte Schönheit wandte und nun endlich das Schweigen brach. Jetzt weinte sie wieder, während sie die andere anschrie. „Wie kannst Du nur!“ Sie ohrfeigte die Unbekannte. Und noch mal „Wie kannst Du nur! Michaela, wirklich!“