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Dann aber plötzlich: „Hah! Caesar! Kenn’ ich!“, er hatte dies laut gesagt und in seiner Stimme schwang ein gewisser Triumph mit, verlieh es ihm doch endlich mal ein bisschen Ebenbürtigkeit in diesem Raum. Er zog das Buch aus dem Regal, schlug die erste Seite auf und las. „Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae..“, weiter kam er nicht.
„Mist“, dachte er sich, „Latein!“, und stellte das Buch wieder zurück in das Regal, wobei er sich beinahe ebenso peinlich ertappt fühlte wie damals beim doppelten Bernd bezüglich seines nicht vorhandenen Hebraeicums.
Er suchte weiter die Buchrücken ab. „Cicero! Der aber!“, doch dann wieder: „Si quis vestrum, iudices, aut eorum qui adsunt, forte miratur me ...“ „Verdammt noch mal, auch Latein“, sagte er, stellte auch dieses Buch zurück und suchte nun umso akribischer. Er fuhr die Buchrücken der Reihe nach mit dem Finger ab und wurde fündig.
„Thomas Mann! Na also! Der wird jawohl wenigstens noch deutsch schreiben, oder was!“ Er nahm das Buch heraus und las den Titel „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“. Huch. Was war das denn? Irgendwie fühlte er sich schon wieder ertappt, obwohl er gar nicht genau wusste, warum. Er kannte das Buch nicht, beschloss aber, es irgendwann zu lesen und stellte es sorgsam zurück. In diesem Moment öffnete sich vorwarnungslos die Tür und ein Mann trat ein. Pfeffer war sich aus zwei Gründen sofort sicher, dass es jener Mann sein musste, dem der Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches gehörte. Erstens und ganz banal: wer sollte es sonst sein. Aber zweitens: Herein kam ein Mann, etwa seine Größe, ein wenig jünger vielleicht, aber mit einer deutlichen Präsenz. Vielleicht Charisma? Bestimmt Charisma. Passte auf jeden Fall zum Büro, der Typ. Er hatte eine schmalgliedrige Statur, fast ein wenig leptosom, leicht schütteres Haar und durch die feine, randlose Brille traf Pfeffer ein wacher Blick. Der weiße Kittel mit dem Pieper und den vielen Stiften war natürlich beeindruckend und Pfeffer merkte, wie er sofort Haltung annahm.
„Na, haben Sie etwas Interessantes gefunden?“, sprach ihn der Arzt nun jovial an, während er auf ihn zuging und ihm die Hand reichte.
„Ich verstehe nicht, ich ...“ Pfeffer fühlte sich schon wieder ertappt.
„Na, die Bücher! Haben Sie was gefunden, das Sie interessiert?“, er war mittlerweile ganz nah und schüttelte ihm die Hand.
„Bartholdy, Clemens Bartholdy, angenehm“, sagte der Arzt und ohne, dass er überlegte, entfuhr es Pfeffer:
„Sind Sie kein Doktor?“
Der Arzt musste lachen.
„Ich bin sogar Doktor Doktor! Aber das können Sie ruhig weglassen, das sind nur Titel.“
Jetzt holte Pfeffer seinerseits die Begrüßung nach.
„Pfeffer. Rick, also Richard Pfeffer. Freut mich auch, Herr Doktor, sehr angenehm. Ich habe das wegen der Lebensversicherung, also, ich muss ... Was ich meine ist: Dass Sie überhaupt noch so einen einfachen Check-Up für mich machen, das ist aber aller Ehren wert, Herr Doktor. Oder sagt man Herr Doktor Doktor? Also, ich, ich bitte um Entschuldigung.“ Pfeffer merkte plötzlich, dass er versuchte, dem Arzt zu schmeicheln. Das war ihm peinlich. Und auch sein Gestammel.
„Ach was, hören Sie auf. Auch der Zimmermannsmeister muss ab und an mal wieder einen Nagel durch den Balken treiben, nicht? Sonst verlernt er noch am Ende sein Gewerk! Wie sagten Sie, heißen Sie gleich noch?“ Er besah das Klemmbrett, das er mit sich hereingebracht hatte.
„Richard Pfeffer.“
Dr. Bartholdy schaute ihn an, und da plötzlich ... nein, doch nicht. Pfeffer war so, als würde sich gerade etwas von der Präsenz und dem Charme des Doppeldoktors verabschieden. Dann aber war er von einer Sekunde auf die andere wieder völlig hergestellt. Merkwürdig. Aber wahrscheinlich eine Sinnestäuschung. Immerhin hatte Rick Pfeffer nun schon seit sieben Tagen keinen Alkohol getrunken. Er beschloss, dass er wohl halluziniert hatte. Kann schon mal passieren, wenn man nüchtern ist. Nun aber wieder der Arzt.
„Und weswegen genau sind Sie hier bei mir?“
Naaa ... Doch. Doch, da war was. Er hatte nicht halluziniert. Eigentlich eine gute Nachricht. Irgendetwas schien den Arzt zu beunruhigen. Pfeffer setzte sich auf einen der Stühle frontseits des Schreibtisches.
„Ich möchte mich durchchecken lassen. Für eine Lebensversicherung“.
Die Augen des Arztes verrieten eine Mischung aus Skepsis und Verunsicherung. Und bei Pfeffer: Jagdinstinkt. Fährte aufgenommen. Wie in den guten alten Zeiten. Was war hier los? Was stimmte hier nicht? Hatte er etwas Falsches gesagt? Oh Gott, womöglich etwas Schwules? Grübel grübel. Nein, definitiv nichts Schwules. Es musste also etwas anderes sein. Hatte es mit den Büchern zu tun? Kam ihm der Arzt nicht irgendwie bekannt vor? Ein Sozi vielleicht? Aus Bremen? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Wirkung vor Deckung. Wie in der guten alten Zeit.
„Haben Sie mal in Bremen praktiziert, Herr Doktor?“
„In Bremen?“ Bartholdy wurde jetzt tatsächlich nervös „Nein, nie in Bremen. Wieso wollen Sie das denn wissen?“
„Ich weiß auch nicht. Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet. Waren Sie sonst schon mal irgendwann in Bremen?“ Pfeffer war jetzt ganz im Suchmodus des Redaktionspfadfinders.
„Nun, gut möglich, ja, mit Sicherheit war ich schon einmal dort. Vielleicht bei einem Kongress. Aber was soll denn diese Fragerei, Herr Pfeffer. Eigentlich ist das doch meine Aufgabe, oder? Ich meine, deswegen sind Sie doch hier. Also. Wollen wir loslegen?“ Er versuchte verkniffen zu lachen und stand auf, wohl um die Untersuchung nun beginnen zu lassen. Pfeffer jedoch ließ nicht locker, und jetzt war er sich sicher. Irgendwo hatte er diesen Arzt schon einmal gesehen. Aber wo? Und wann? Ärzte, Ärzte, Ärzte. Verflixt noch eins, es wollte ihm nicht einfallen. Er hatte nie mit Ärzten zu tun gehabt. Also abgesehen von den Krankschreibungen wegen schweren Vollrauschs. Aber wenn Bartholdy nie in Bremen praktiziert hatte, dann konnte er ihn schwerlich daher kennen. Bartholdy, Bartholdy, komischer Name. Den hätte er sich bestimmt gemerkt. Nein, es musste irgend etwas anderes sein. Also nochmal die Lupe raus und ganz genau hingesehen. Statur, Gesicht, Augen, Kinn, Frisur, da war doch was, da war doch was da war ... DAS WAR ES! Die Trauerfeier. Rebschläger. Eins auf die Nase. Rückwärts, rückwärts. Komm schon Pfeffer, weiter zurückspulen. Besenkammer, Tresen. Zack! Der Name. Der Name, den er so angestrengt gesucht hatte. Der erste Gedanke: Hab ich Dich! Der zweite: Jetzt aber auch voll auskosten! Erstmal Kreuzverhör. Ach, das wird ein Fest! Er stand auf und ging langsamen Schrittes durch den Raum, während er sprach.
„Sie waren also nie in Bremen.“
„Sagen Sie, was soll denn das?“, entgegnete Bartholdy nun merklich angespannt.
„Und Ihr Name ist Dr. Dr. Clemens Bratholdy.“ Pfeffer stand nun wieder vor dem Bücherregal.
„Ja natürlich, wie sollte er denn sonst sein? Wissen Sie was, Ihre Spielchen können Sie allein spielen. Ich glaube, Sie sind hier bei mir falsch. Am besten sollte ich Sie wohl rüber in die Psychiatrie schicken. Guten Tag!“ Bartholdy wollte gerade zur Tür gehen, da riss Pfeffer das Caesar-Buch aus dem Schrank, knallte es effektvoll auf den Schreibtisch und sagte ganz ruhig: „Tun Sie mir einen gefallen, Bartholdy. Lesen Sie vor, was da steht!“
Bartholdy nahm das Buch, schlug es auf und sagte „Ich weiß zwar nicht, was das bringen soll, aber wenn Sie dann endlich gehen, von mir aus. Gallia est omnis divisa in partes tres ...“
„Auf Deutsch, verdammt!“ Pfeffer bemerkte, dass er laut geworden war. Das musste nun auch nicht sein.
Bartholdy hielt das Buch noch einige Momente aufgeklappt in der Hand, schlug es dann zu, warf es achtlos auf den Tisch und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er nahm die Brille ab und legte sie auf den Tisch.
„Hast Du mich gleich erkannt, oder wie habe ich mich verraten?“, fragte er resigniert.
„Du bist es, oder? Du bist Gert! Gert Briefke! Mann, das fasse ich ja gar nicht. Du bist es wirklich, oder?“ Pfeffer hatte ihn ertappt, aber noch nicht vollständig begriffen, was gerade geschehen war.
„Ach Richard.“ Bartholdy alias Gerd Briefke ließ den Kopf in den Nacken fallen und sah zur Decke. Jetzt war Pfeffer vollkommen sicher. Niemand sonst hatte ihn je Richard genannt.
„Was machst Du denn hier, Gert? Und wieso bist Du jetzt Clemens Bartholdy mit Doppeldoktor und einem schicken Büro und überhaupt? Ich denke, Du bist Postbote! Das war doch immer der Knaller, wegen Briefke und den Briefen und so!“
Nun, da er die Brille abgenommen hatte, war er dem alten Bekannten aus Bremer Zeiten auch wieder deutlich ähnlicher, selbst wenn er seit Ihrem ersten Treffen beim Joggen noch ein bisschen hagerer geworden war. Wie hatte er nur seinen Namen vergessen können, so gut wie sich die beiden damals auf Anhieb verstanden hatten. Pfeffer konnte es noch immer kaum glauben, sein Gegenüber aber war nur noch ein Häufchen Elend.
„Gert, jetzt im Ernst! Was soll das hier alles?“ Pfeffer bemühte sich, sehr streng zu klingen und seine Wiedersehensfreude zugunsten eines väterlich ermahnenden Tons zu verdrängen.
„Ich kann Dir das jetzt nicht erklären, Richard. Nicht hier. Tu mir einen Gefallen und verrate mich nicht, ja? Ich versichere Dir, dass es für all das eine gute Erklärung gibt. Nur bitte verrate mich nicht!“
„Auf die Erklärung bin ich aber mal gespannt!“, erwiderte Pfeffer prompt.
„Was hältst Du davon, wenn wir uns heute Abend treffen? Bei mir. Privat. Dann erzähle ich Dir alles. Von Anfang bis Ende. Versprochen.“
Pfeffer brauchte nicht lange zu überlegen. „Sag mir einfach wann und wo.“
Als Richard genannt Rick Pfeffer nur wenige Stunden später vor der Haustür des vermeintlichen Doktor Bartholdy stand und klingelte, hatte dieser bereits seine Fassung wiedergewonnen und öffnete in gewohnter Pose, einstudiert und herrschaftlich. Der weiße Kittel war einem Cord-Anzug gewichen und mit einladender Geste bedeutete er Rick Pfeffer hereinzukommen.
„Schön, dass Du da bist Richard, komm’ rein. Ich habe uns schon eine Flasche Bordeaux dekantiert. 1982er. Ganz vorzüglich. Hast Du gut hergefunden?“
Aber Rick Pfeffer war so gar nicht nach Smalltalk zumute. Den ganzen Nachmittag lang hatte er sich überlegt, wie er dieses Gespräch führen sollte und war doch zu keinem vernünftigen Schluss gekommen. Das Problem war zweischneidig. Sein alter Kumpel Briefke, der Postbote, gab sich offenbar als Arzt aus und das war – gelinde gesagt – eine Ungeheuerlichkeit. Dazu ein falscher Name. Das machte es nicht besser. Andererseits aber, ja, wie nur hatte er das geschafft? Wie? Gert Briefke hatte es offenbar hinbekommen, alle zu täuschen. Er, der Briefträger. Sie, die Geneppten. Behörden, Oberärzte, Krankenschwestern, Patienten. Wie zum Kuckuck konnte er das nur fertiggebracht haben? Aber dann saß da auch wieder das Engelchen auf der anderen Schulter: Er arbeitet mit Menschen! Er kann ihnen schaden. Ihnen wehtun. Er tut etwas Illegales. Und letztlich immer wieder ein Argument, das nicht zu schlagen war: ER IST KEIN ARZT! Er hatte nicht studiert, kein Praktikum gemacht, gar nichts. Wie nur hatte er soweit kommen können, ohne jemals einen Hörsaal von Innen gesehen zu haben? Letztlich was es also ganz einfach. Sein Gegenüber musste über ein Höchstmaß an Einfallsreichtum, aber auch krimineller Energie verfügen. Das war die eine Seite. Die andere war, dass er selbst, Rick Pfeffer, nun einmal von Haus aus Journalist war. Ein Berufsstand, der nur der Wahrheit verpflichtet ist. Also meistens zumindest. Oder immerhin sollte es so sein. Oder ... ach verdammt, immer diese verschwimmenden Grenzen. Und außerdem und nebenbei und vielleicht nicht so ganz unwichtig in diesem Zusammenhang: Bei rechtem Licht betrachtet, war Richard genannt Rick Pfeffer ja auch kein richtig echter Journalist. Also im engeren Sinne, wenn man es ganz genau nimmt. Noch weniger Trennschärfe zwischen Richtig und Falsch. Oh je, wo sollte das noch enden? Und überhaupt und andererseits: wenn Dr. Bartholdy alias Gert Briefke Menschen geschadet hätte, dann wäre er ihm wohl kaum heute Vormittag begegnet. Dann hätte man ihn doch längst angezeigt, und er wäre aufgeflogen. Gericht, Urteil, Knast. Oder noch Schlimmeres.
Es waren Rick Pfeffer also viele Fragen im Kopf herumgegangen und das noch bis vor wenigen Sekunden. Aber in dem Moment, als er den Klingelknopf an der Haustür Briefke/Bartholdy drückte und es schellen hörte, schloss er seinen inneren Monolog und Zerwurf mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner ab, den diese Sache für ihn bringen mochte: man konnte von diesem Gert Briefke auf jeden Fall einiges lernen.
Und wieder vorgespult.
„Hast Du gut hergefunden?“
„Ja, ja.“ Er folgte Briefke in das Innere seines Hauses. Geschmackvoll auch hier alles, ganz wie im Büro in der Klinik. Anders natürlich. Eher rustikal. Klassisches Ambiente. Landhausstil. Am ehesten. Der Fußboden des Vestibüls war mit schwarzem Granit gefliest, der Rest der Pfeffer durch Blick zugänglichen Wohnräume mit nicht zu dunklem Kassettenparkett ausgelegt. An den Wänden massive Eichenschränke und –anrichten, zumeist Biedermeier. Bisschen zu barock vielleicht. Was war eigentlich Barock? Egal, weiter geschaut. Vereinzelt ein paar Gemälde. Welche? Klimt, Sperrl, Rembrandt. Konnte Pfeffer zwar nicht wissen, Bartholdy – oh Verzeihung – Briefke aber schon. „Alles Drucke.“ Sagte dieser. Klar, Fälschungen waren eher Briefkes Ding. Nicht die Originale. Dann das Wohnzimmer, genannt Salon! Und auch hier: dominantes Bücherregal, vollgestopft mit Ledereinbänden und Leinenbeschlag. Dieses Mal jedoch machte sich Pfeffer nicht die Mühe, es nach ihm bekannten Werken abzusuchen sondern nahm gleich auf einem der Clubsessel Platz, zu denen sich beide, von Briefke geführt, mittlerweile begeben hatte. Immerhin: hier nun echte Clubsessel. Ohne mobiliare Hierarchie! Das war auch schon mal was. Auf einem Beistelltisch stand dort auch schon der angekündigte Dekanter mit Rotwein nebst zwei Gläsern, die Briefke nunmehr gekonnt füllte. Seine Versuche, das Gespräch zu eröffnen wirkten etwas umständlich.
„Setz Dich ruhig Richard. Na, da hast Du mir ja heute einen schönen Schrecken eingejagt.“ Briefke spielte in der rechten Hand mit einer Pfeife. „Obwohl ich ja eigentlich auch selbst schuld bin. Normalerweise mache ich solche Routinegeschichten gar nicht mehr. Ich habe mich eher auf so psychiatrische Angelegenheiten spezialisiert, weißt Du. Mittlerweile. Gutachten schreiben. All sowas. Ich hatte gerade einen Fall abgeschlossen, ganz tragisch im Grunde. Ein junger Mann, der in die Geschlossene gesteckt werden sollte. Das ging ganz schön an die Substanz. Und ich habe mir gedacht, ich mache mal ein bisschen Klinikalltag hinterher. Und dann kommst Du, und über mir schlägt quasi die Flut in Wellen zusammen. Aber ich kann Dir sagen, so ist das eben, wenn man sich dafür entscheidet, Arzt zu werden, da weiß man nie, was morgen ist.“
„Du bist kein Arzt, Gert“, sagte Pfeffer mit einer Ruhe und Bestimmtheit, die ihn selbst überraschte.
„Hmm“, raunte Briefke. „Stimmt und stimmt nicht“, erwiderte Briefke. „So ist das Leben, nicht wahr? Kein Gelaber ohne Aber. Warum genau warst Du eigentlich bei mir?“
„Ich brauchte eine Untersuchung für eine Lebensversicherung“, log Pfeffer.
„Ja, nein, ich meine, warum warst Du bei mir? Du wohnst doch in Bremen. Warum kommst Du da extra nach Flensburg, um zum Arzt zu gehen? Du hättest doch alles in Bremen erledigen können.“
Volltreffer. Aber Pfeffer war an diesem Abend ein gedankliches Maschinengewehr und blieb eisern bei der Geschichte, die er sich nach dem Treffen mit Oberleutnant Müller ausgedacht hatte. Zumindest teilweise. Also grob und eher so im Großen und Ganzen, aber das spielte ja zum Glück auch überhaupt keine Rolle. Denn nicht er war es, der hier auf der Anklagebank saß. Allerdings hatte Bartholdy, verdammt, Briefke eine zugegeben charmante Art an sich, und Pfeffer fiel es schwer, sachlich und vor allem besorgt zu bleiben. Trotzdem: noch war Zusammenreißen angesagt und von seinen Verbindungen zu Müller durfte Gert Briefke auf keinen Fall etwas erfahren.
„Ich war eine Woche in Dänemark und habe ein Auto gekauft. Da lag Flensburg im Grunde auf dem Weg. Nach so einer Woche an der See, also, ich sage Dir, entspannter und frischer kann man gar nicht in so eine Untersuchung gehen. Ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste.“
„Aber, aber“, fing Briefke an zu schmeicheln „Du bist doch topp in Schuss! Ach und übrigens, bevor ich es vergesse, ich habe ja noch etwas für Dich.“ Gert Briefke stand auf, verließ nur Sekunden den Raum und kam mit einem großen Kuvert zurück, welches er Pfeffer überreichte.
„Hier, das hast Du heute in der ganzen Aufregung wohl vergessen.“
„Was soll das sein?“, fragte Pfeffer, während er irritiert den Umschlag öffnete und die zusammengehefteten Seiten herauszog.
„Das ist der ärztliche Untersuchungsbericht, den Du brauchst. Und wie gesagt: Du bist absolut topp in Schuss. Das wusste ich doch gleich, als ich Dich gesehen habe, alter Jogging-Kamerad. Auch Deine Blutwerte: alle hervorragend.“
„Aber Du hast mich doch gar nicht untersucht.“ Das gedankliche Maschinengewehr hatte offenbar Ladehemmungen bekommen, und Gert Briefke quittierte dies mit einem süffisanten Blick.
„Ahh, verstehe“, sagte Pfeffer, schob die Seiten wieder in den Umschlag und verstand tatsächlich. „Das ändert aber nichts daran, dass Du kein Arzt bist, Gert. Ich bin Journalist. Ich bin der Wahrheit verpflichtet. Mich kann man nicht mit einem gefälschten Gutachten bestechen!“ Sein Ton hatte jetzt wieder die ruhige Bestimmtheit. Innerlich spürte er das Eis allerdings schon brechen. Gerade in diesem Moment knackte es schon sehr angenehm, wie in einem frisch gefüllten Whiskey-Glas.
„Journalist?“, fragte Briefke. „Ich denke, Du warst damals bei der Polizei?“
„Ja. Also nein. Also ...“, verdammt, das hatte er ja schon ganz vergessen. „Also damals war ich bei der Polizei, als wir uns kennen gelernt haben. Ja, das stimmt. Eigentlich wollte ich auch Polizist werden. Mein Vater war ja Kripo-Chef bei uns in Lüdinghausen, ist ja auch egal, das hat irgendwie alles nicht geklappt. Ich bin da ja jetzt auch schon lange nicht mehr. Ich bin jetzt Journalist. Eigentlich. Also im Grunde bin ich eher selbständig momentan.“
„Du bist arbeitslos“, attestierte Briefke amüsiert.
„Ich bin nicht arbeitslos. Ich bin nur ein wenig aus der Schusslinie gegangen, weil ich in Bremen einiges umgegraben habe, und dabei sind Sachen ans Licht gekommen, die einigen Leuten nicht gefallen haben. Da bin ich zum Wohle des Verlags und zum Wohle der Partei ...“
„Du bist rausgeflogen, weil Du erst Deine Zeugnisse und dann Deine Artikel gefälscht hast.“
Rums Bums. Einschlag. Das Maschinengewehr hatte einen Volltreffer kassiert. Pfeffer war so bass erstaunt und peinlich berührt, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Das übernahm nun allerdings Briefke, der dies sichtlich genoss.
„Ich bin auch aus Bremen, schon vergessen? Ich habe noch immer sehr gute Kontakte dort, außerdem hat man als Amtsarzt so seine Möglichkeiten. Ärzte unter sich nehmen das mit der Schweigepflicht nicht ganz so genau. Und dann, na, Du weißt ja wie das läuft. Der kennt den, und der spielt mit einem Parteichef Golf, und so weiter.“
Es machte keinen Sinn mehr, jetzt noch weiter an der Fassade zu mauern, also beschloss Pfeffer, mit offenen Karten zu spielen. Was konnte ihm schon passieren? Man hatte ihn vielleicht rausgeschmissen, obwohl auch das nicht so richtig stimmte, da er ja freiwillig gegangen war. Zumindest offiziell. Vielleicht hatte er es auch mit der Wahrheit nicht immer so genau genommen. Aber sein Gegenüber war schließlich ein Briefträger, der sich als Arzt ausgab, und somit hatte Pfeffer ihn in der Hand. Er war sich sicher, dass Briefke keine Gefahr für ihn darstellte. Und wenn doch, dann musste man halt mal mit einem Oberleutnant Müller sprechen. Der wüsste schon, wie man mit so jemanden fertig werden würde. Also Offensive. Wirkung vor Deckung. Pfeffer schickte die Sturmtruppen los.
„Ja, Du hast Recht, tut mir leid. Eigentlich lief es gut, es war alles in Ordnung, Ich war Chefredakteur. Ich habe die Auflage verzehnfacht, die Werbeanzeigen etatmäßig verfünffacht, da war es immer egal, ob alles haarklein stimmte, was auf der Titelseite stand. Und das mit den Zeugnissen ist auch erst aufgefallen, als ich diese Schlampe von den Sozis fertiggemacht habe.“
„Fertig gemacht?“
„Prozess läuft noch. Man wird sehen.“
Beide nahmen einen Schluck Wein.
Dann fragte Briefke: „Welche Methode hast Du benutzt?“
„Methode?“
„Na welche Methode? Als Du die Zeugnisse gefälscht hast. Welche Methode hast Du da benutzt? Hast Du Dir einen Kartoffelstempel geschnitzt oder hast Du die gute alte Gekochte-Eier-Roll-Technik angewendet?“
Pfeffer war über die Offenheit Briefkes geradezu verdutzt, antwortete aber wahrheitsgemäß.
„Die Eier-Rolle. War alles wie im Original. Ich habe mir ein Zeugnis von einem Gymnasium in Bad Bentheim besorgt. Vom Missionsgymnasium, da kommt doch niemand drauf. Dann habe ich mit dem Skalpell die entsprechenden Stellen ausgeschnitten und alles wieder so geflickt, dass es mein Abitur-Zeugnis wurde. Am Schluss noch ein paar astreine Kopien vom Ganzen und gut. Das war idiotensicher. Selbst die vom Gymnasium haben gesagt „Jawoll, das ist ein Zeugnis von uns!“, außerdem war das richtig viel Arbeit. Ich habe fast sechs Stunden darüber gesessen, bis alles perfekt war. So habe ich es auch mit den anderen Sachen gemacht. Hat aber nichts genützt, wie Du weißt.“
„Und warum nicht?“ Briefke hatte die Frage so provozierend gestellt, dass es Pfeffer schon wieder irritierte.
„Warum nicht? Na ja, weil ich eben nie da war!“
„Genau!“, sagte Briefke und stellte sein Glas ab. Pfeffer erkannte nun ein hintersinniges Funkeln in Briefkes Augen und als sich dieser ein wenig zu ihm herüberbeugte, hatte sein Tonfall eine Mischung aus Konspiration und professoraler Gelehrtheit. „Es ist nur aufgeflogen, weil Du eben nie da warst. Auch die raffinierteste Fälschung wird Dich nicht in ein Klassenzimmer in Bad Bentheim teleportieren. Mach Dir nichts draus. Ist ein klassischer Anfänger-Fehler! Wenn Du ein Zeugnis von irgendeiner Schule fälschst, aber nie da warst, wird es immer ein überprüfbarer Punkt bleiben. Und damit ein Risikofaktor. Irgendwann wird dann einer von diesen Maulwürfen heiß und gräbt es aus, da hast Du keine Chance. Du musst immer versuchen, möglichst viele Risikofaktoren auszuschließen. Und zwar von vornherein.“
„Ja klar, aber was soll ich machen? Ich habe nun mal kein Abitur!“
„Ja und? Ich habe auch kein Abitur, und ich bin immerhin Arzt!“
„Du bist kein Arzt“, sagte Pfeffer erneut, Briefke jedoch überging es ganz sachlich und dozierte einfach weiter.
„Weißt Du, was Du machen musst? Du erfindest es einfach. Du erfindest einfach alles! Pass auf: Du bist meinetwegen bis dann und dann zur Schule gegangen, hast aber kein Abitur gemacht. Das ist nicht gut, aber Probleme sind dazu da, um gelöst zu werden, nicht? Du schreibst also in Deinen Lebenslauf: Schule da und da bis dann und dann und legst Deine echten Zeugnisse dazu. Wenn Du dann aber ein Abitur dazudichtest, musst Du Dir was einfallen lassen. Einfach ein Skalpell kaufen und ein Ei kochen, das kann jeder, das reicht nicht aus. Du musst den ganzen Werdegang erfinden, mein Lieber. Was denkst Du, was passiert wäre, wenn Du folgendes gesagt hättest. Schule bis dann und dann, also die echte, dann sind wir nach Kanada gezogen. Du denkst Dir irgendein Kaff aus, das keiner kennt und sagst Du hast da Abitur gemacht. In Sasquatchovia von mir aus, keine Ahnung.“
„Gibt es das wirklich?“
„Oh Gott, das ist doch scheißegal. Hauptsache es steht oben auf Deinem Zeugnis!“
Pfeffer konnte dem falschen Doktor noch nicht so ganz folgen. „Aber das zählt doch ganz anders als das deutsche Abitur.“
„Siehst Du? Ganz genau! Kein Mensch wird sich dafür interessieren, ob Du ein Abitur hast oder nicht, niemand wird da anrufen und fragen, ob mal irgendwann irgendein Deutscher namens Ricki-Ficki da sein Abi gemacht hat. Außerdem gibt es die Schule ja gar nicht. Was sollen die denn machen, wenn am anderen Ende der Leitung „Kein Anruf unter dieser Nummer“, kommt? Da hinfahren? Wegen eines Schulabschlusses? Wohl kaum. Als nächstes entwirfst Du Dir Dein eigenes Zeugnis mit allem drum und dran. Du kannst Dir sogar selbst ein Wappen ausdenken und einen Stempel machen lassen! Alles ganz offiziell, verstehst Du? Und wenn einer nach der Anerkennung in Deutschland fragt, sagst Du so was wie, dass es ganz und gar nicht einfach war, und dass es am Ende, Gott sei Dank, unbürokratisch gelöst wurde, Du willst da aber nicht näher drauf eingehen, um keine schlafenden Hunde zu wecken, und so weiter und so fort. Außerdem wäre es nicht so wichtig gewesen, weil Du ja im Ausland geblieben bist!“