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„Im Ausland geblieben?“
„Na klar! Auslandserfahrung macht sich immer gut! Ich war zum Beispiel zwei Jahre forensischer Psychologe im Zentralklinikum von Johannesburg!“
„Im Ernst?“ Pfeffer war jetzt wieder völlig elektrisiert von der mitreißenden Dynamik des Dr. Bartholdy, „Du warst in Südafrika?“
„Natürlich nicht, Richard! Aber wer soll das wissen? Kein Mensch kann das jemals wirklich nachprüfen, und außerdem: keiner hat dazu Lust! Im Gegenteil. Die finden es alle richtig geil, wenn sie erzählen können, dass Ihr Oberarzt schon in Südafrika praktiziert hat. Verstehst Du? Wenn Du wirklich so ein Ding durchziehen willst, dann musst Du es mit dem ganz großen Plan machen, dann musst Du am ganz großen Rad drehen!“
Pfeffer war nun ehrlich erstaunt. So hatte er das alles noch nie betrachtet. Aber hatte er nicht eine ähnliche Aktion mit den Firmen gehabt, bei denen er vorgegeben hatte, gearbeitet zu haben? Er berichtete Briefke davon und dieser klopfte ihm mit anerkennender Geste auf die Schulter „Na also, sag ich doch! Dann ist ja bei Dir doch noch was zu retten! Noch mehr Wein?“
Natürlich noch mehr Wein.
„Verstehst Du jetzt, Richard? Je größer das Rad ist, an dem Du drehst, desto weniger wird den Leuten auch nur der geringste Verdacht kommen, dass irgendetwas daran faul sein könnte. Und wenn der Damm doch mal einen Riss zeigt, dann erfindest Du halt irgendeine noch größere Sauerei, die davon ablenkt. Du kannst aber auch einfach irgendwelchen Quatsch machen, um die Leute zu beeindrucken. Die glauben einfach alles. Weißt du, was ich mache? Ich schalte manchmal Anzeigen in irgendwelchen Zeitungen. Nur so zum Spaß.“
„Und was steht da drin?“
„Keine Ahnung, alles mögliche. Sachen halt. Jetzt zum Beispiel habe ich gerade..“, er nahm eine Zeitung von einem der Beistelltische, blätterte darin herum, und legte Pfeffer schließlich einen Artikel mit der Überschrift „Flensburger Arzt erneut ausgezeichnet“, vor, „das hier, das habe ich gerade als letztes gemacht. Ich schicke denen immer einen Brief, da sind dann tausend Mark drin, außerdem ein Foto, so wie das hier, und der vorgefertigte Artikel. Die drucken das immer. Immer! Und das Beste ist: die überprüfen gar nichts. Von wegen Journalisten und nur der Wahrheit verpflichtet. Was für ein Quatsch! Aber man muss aufpassen, dass man es nicht zu bunt treibt. Der hier, der war schon hart an der Grenze. Hier, lies mal.“
Und Pfeffer las: „Die Professor-Bürger-Prinz-Stiftung hat dem aus Bremen stammenden Arzt und Wissenschaftler Dr. Clemens Bartholdy den diesjährigen Hauptpreis verliehen für seine Arbeit „Die Pseudologia Phantastica am Beispiel der literarischen Gestalt des Felix Krull.“2 Pfeffer lies die Zeitung sinken. „Das ist das Buch, das bei Dir im Büro steht!“
„Ja, genau!“ Briefke war so vergnügt, dass er die Beine im Sessel bis vor die Brust zog und vor Freude in seiner Wipp-Bewegung jauchzte. „Verstehst Du? Felix Krull, Pseudologia Phantastica, das ist so bescheuert, dass es knallt, aber die drucken einfach ALLES! Und das kannst Du Dir dann alles in Deinen Lebenslauf schreiben, solange Du zwei Regeln beachtest: Erstens: veröffentliche niemals so etwas in der Stadt, in der Du lebst und arbeitest oder in ihrem Umfeld. Und Zweitens: behalte es erst ein, zwei Jahre im Schrank, bevor Du es jemandem zeigst, oder in Deinem Lebenslauf verwendest. Es darf nie aktuell in Umlauf kommen, sonst sind die Leute, auch die anerkennenden, so scharf darauf, dass sie womöglich noch Nachforschungen anstellen! Wenn Du Dich an ein paar Regeln hältst, dann kannst Du so gut wie alles machen! Ich habe es sogar zum Papst gebracht!“ „Zum Papst? Jetzt hör` aber auf, Gert!“
„Nein ehrlich! Ursprünglich wollte ich Priester werden. Als wir uns damals, ich meine wir beide, als wir uns in Bremen im Park getroffen haben, war ich ja noch bei der Post, aber andererseits auch gerade dabei mein Abitur-Zeugnis zu erstellen. Ich habe es übrigens genau so wie Du gemacht und erst viel später professionell korrigiert. Aber egal, ich bin dann erst mal Rechtspfleger geworden, aber das war einfach nur langweilig. Als ich mal den Papst im Fernsehen gesehen habe, fand ich das eigentlich ganz gut. Das hatte schon Schneid mit dem ganzen goldenen Pomp, und wie sie ihn alle angehimmelt haben und so weiter. Das war noch, bevor sie auf ihn geschossen haben. Na ja sei’s drum, auf jeden Fall – ich war ja jung – dachte ich mir, dass ich ja wohl auch einen ganz guten Papst abgeben würde und habe mich an der Uni für Theologie eingeschrieben. Irgendwann haben dann die Jesuiten in Mainz eine Audienz vermittelt und ich war dabei. Da bin ich zum Papst, habe ihm die Hand geschüttelt und gesagt: Wissen Sie, Euer Heiligkeit, Ihr Stuhl, der wird mal mir gehören!“
„Und was hat der Papst gesagt?“
„Der hat gemeint, es sei der Stuhl des Herren und er sei nur der Platzhalter auf Erden und dieser ganze Quatsch. Ich bin dann auch nicht mehr lange dabei geblieben. Vor allem, weil an der Uni total viel Wert auf Latein und alles gelegt wurde. Das war doch ein bisschen zuviel. Deswegen auch der Entschluss, Arzt zu werden. Und hier bin ich nun!“
„ABER DU BIST KEIN ARZT!“, prustete Pfeffer heraus.
Briefke setze erneut sein Glas ab und steckte sich mit langsamen Bewegungen eine Pfeife an. „Ich will Dich mal was fragen Richard: Hast du ein Abitur?“
„Was soll das! Nein! Das weißt Du doch!“, knurrte Pfeffer und zündete sich nun seinerseits eine Zigarette an.
„Und warst Du jemals auf einer Journalistenschule?“
„Nein, war ich nicht!“
„Hast Du sonst irgendeine Ausbildung gemacht, die Dich zum Redakteur qualifiziert hätte?“
„Nein.“
„Und trotzdem warst Du, trotzdem bist Du Journalist!“
„Ja.“
„Na eben! Und jetzt ganz im Ernst: Glaubst Du, dass Du ein schlechter Journalist bist?“
„Nein, das glaube ich nicht!“
„Ganz genau! Du hast kein Abitur, keinerlei journalistische Ausbildung, und trotzdem bist Du Chefredakteur geworden und hast in Bremen mit Deinen Artikeln für einigen Wirbel gesorgt. Du hast die Auflage verzehnfacht. Die Einnahmen verfünffacht. Das hast Du alles ganz allein geschafft. Eigentlich, wenn man so will, bist Du noch viel mehr Journalist als alle anderen mit Ihren anständigen Lebensläufen, Laufbahnen, Ihren tollen Zeugnissen und Abschlüssen. Jetzt stell Dir nur mal vor, was aus Dir geworden wäre, wenn Du auch noch die entsprechenden Ausbildungen erhalten hättest. Nicht auszudenken. Aber jemand wie Du, Richard ... Menschen wie wir beide brauchen diese Ausbildungen gar nicht. Wir müssen keine Diplome verliehen bekommen, um zu wissen wie es geht. Das ist es, was uns von der ganzen tumben Masse abhebt, die Ihr Leben lang irgendwelchen Auszeichnungen und Titeln hinterher hechelt, anstatt sich lieber auf das Ziel zu konzentrieren! Wir brauchen das alles nicht, Richard. Und weißt Du, warum nicht? Weil es uns im Blut liegt, weil wir dazu geboren sind. Frag’ mal meine Patienten, da wirst Du nur Gutes über mich hören. Keine Kunstfehler, keine falschen Behandlungen, immer astreine Arbeit! Es gab in der ganzen Zeit, in der ich praktiziere nicht eine einzige Beschwerde gegen mich. Und der Mensch an sich ist ohnehin immer bereit, genau das zu glauben, was er sich wünscht. Wenn man die entsprechende Leidenschaft und Intuition mitbringt, wenn man bereit ist, für das was man liebt, alles zu geben, dann braucht man diese ganzen Schriftstücke gar nicht, auf die diese abgehalfterte deutsche Bürokratie so viel Wert legt. Man muss dafür geboren sein. Das können Dir noch so viele Jahre an Schulen und Universitäten nicht geben. Nimm zum Beispiel Adolf Hitler. Der hatte nicht einmal einen Führerschein! Und was war der?“
„Führer“, sagte Pfeffer.
„Quod erat demonstrandum!“, rief Briefke und warf seinen Oberkörper vor Lachen mit einem triumphalen Ausdruck in die Lehne des Sessels, nahm sein Weinglas und hielt es Pfeffer zum Prosit entgegen. Pfeffer konnte zwar nur erahnen, was dieses „Quod erat demonstrandum“, bedeutete, aber es reichte ihm, um zu verstehen, was Gert Briefke, was Dr. Clemens Bartholdy versucht hatte ihm zu erklären. Seinerseits nahm er nun sein Glas und stieß mit Briefke klirrend an.
„Ach und übrigens“ Gert Briefke schien noch eine Kleinigkeit vergessen zu haben, „von wegen Eier-Roll-Methode und so. Weißt Du, wie ich das mittlerweile mache?“
Pfeffer hatte keine Ahnung.
„Pass auf, das ist der absolute Oberknaller, besser geht es überhaupt gar nicht. Ich bin drauf gekommen, als ich mal ein paar beglaubigte Zeugnisse abliefern musste, eine Approbationsurkunde und so. Wenn Du da was selbst Gebasteltes ablieferst, merken die das sofort. Die sehen jeden Tag so ein Zeug. Aber dann kam mir die Idee: ich habe in Berlin angerufen, bei irgendeiner größeren Stempelfirma, aber nicht zu groß. Ich habe dann gesagt, ich bin Oberstaatsanwalt Dr. von Berg und dass ich Beauftragter der Materialverwaltung beim Bundeszentralregister bin. Da war der Typ von der Stempelfirma schon so fickerig, der hätte alles gemacht, weil der schon den fetten Auftrag gerochen hat. Ich dann so: Es ist hier an der Zeit, ein paar Dinge neu zu organisieren, und dass wir mit unserem bisherigen Lieferanten total unzufrieden sind und so weiter, also kurz und gut, wir bräuchten einen neuen Generallieferanten und eben seine Firma sei in der engeren Auswahl. Es muss nur noch geprüft werden, ob die Qualitätsansprüche mit seinen Stempel in Einklang gebracht werden können. Du hättest mal sehen sollen, wie schnell der mir einen Termin gegeben hat. Ich bin dann da hin, habe ihm zehn verschiedene Stempel auf irgendwelchen offiziellen Papieren als Probe hingelegt und gesagt, ich brauche von jedem Exemplar erst mal einen Probestempel. Und was glaubst Du? Zwei Tage später hatte ich alle offiziellen Stempel der Bundesrepublik! ORIGINAL! Geil, oder?“
Briefke war so zufrieden mit sich selbst, dass er die Weingläser erneut füllte und Rick Pfeffer doppelt zuprostete, bevor die beiden sich eine kurze Weile einem genüsslichen Schweigen hingaben.
„Und sag’ mal“, begann Pfeffer nach dieser kurzen Weile und einem langen Schluck von dem Rotwein, „was machst Du denn jetzt? Also ich meine, wie hast Du Dir das alles vorgestellt? Wie soll das weitergehen? Willst Du das für immer so durchziehen?“
„Ich weiß nicht“, antwortete Briefke und machte eine wegwischende Handbewegung in den Raum hinein. „Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, bis zur Rente hier in Flensburg zu versauern. Vielleicht gehe ich noch mal woanders hin. Momentan überlege ich, ob ich mir vielleicht noch einen Dr. phil. zulege. Diese ganze Amtsarzterei ist einigermaßen mühsam, wie Du Dir vorstellen kannst. Na ja, wie gesagt. Ich weiß noch nicht, mal sehen!“
„Aber ist das nicht anstrengend? Ich meine, die ganze Zeit zu lügen?“
Briefke schien entsetzt! „Ich muss doch nicht lügen, Richard. Ich bin Dr. Clemens Bartholdy. Ich trage nicht nur seine Schuhe oder so, ich bin es! Das ist doch keine Lüge! Ich will Dir mal was über Lüge und Wahrheit erzählen, Richard. Kennst Du Dich mit dem Herzen aus?“
„Es geht, nein eigentlich nicht. Ich befürchte, ich habe einige gebrochen, aber mehr auch nicht!“
„Casanova! Aber wie auch immer, das Herz ist die zentrale Versorgungsstelle des Körpers, eine leistungsfähige Pumpe, Blut strömt rein, Blut strömt raus. Ein absolut neuralgischer Punkt und neben Darm und Hirn eine der drei Schaltzentralen unseres Körpers. Ohne Blut, könnten wir nicht existieren, aber auch Blut wäre nutzlos, wenn es nur so in den Venen und Arterien herumdümpeln würde wie das Brackwasser in der Bremer Förde. Also pumpt das Herz fleißig im Rhythmus zu Systole und Diastole, das sind die beiden Vorgänge: Systole – Blut strömt raus, Diastole - Blut strömt rein. Und könnte es etwas Gegensätzlicheres geben als das? Der eine Vorgang füllt das Herz mit Blut, mit Leben, mit Vitalität, nur damit der andere Vorgang es ihm nur eine halbe Sekunde später schon wieder entzieht. Welch tantalusischer Vorgang, nicht wahr? Immer nur für den Bruchteil einer Sekunde bekommt das Herz seinen Treibstoff, die Essenz seiner teleologischen Existenz zu Gesicht, nur um es dann gleich wieder verabschieden zu müssen. Es wird geschenkt, und im selben Moment bereits wieder entzogen. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen! Nun könnte man sagen: das ist ja furchtbar, wie gemein! Aber als Fachmann, als Mediziner weißt Du, dass es nicht aus Niedertracht geschieht, sondern weil etwas viel Größeres, Bedeutenderes damit am Leben erhalten wird, nämlich der Organismus, den das Herz versorgt. Der Körper, die Krone der göttlichen Schöpfung! Systole und Diastole dienen, obwohl grundverschieden und absolut gegensätzlich, demzufolge beide derselben Sache. Sie stellen sich in den Dienst von etwas Größerem und werden dadurch untrennbar miteinander verbunden, wie die beiden sprichwörtlichen Seiten ein und derselben Medaille, ja, sie sind sogar vollständig abhängig voneinander, da gibt es nicht gut oder schlecht. Genau so wie bei der Wahrheit und der Lüge. Wenn alles Wahrheit wäre und nichts mehr Lüge, dann verliert die Wahrheit zwangsläufig jedwede Bedeutung. Oder ums es ganz poetisch zu sagen, mein lieber Richard: Wahrheit und Täuschung liegen wie Systole und Diastole immer nur einen Herzschlag weit auseinander!“
Nachdem Briefke im letzten Teil des Gesagten noch eine bedeutungsschwangere Pause eingelegt hatte, bevor er auf den poetischen Herzschlag zu sprechen kam, lehnte er sich mit dem Selbstverständnis des Wissenden abermals in seinem Clubsessel zurück, nahm einen Schluck Wein und stopfte sich erneut seine Pfeife, die er kurz darauf entzündete. Pfeffer indes war nunmehr, wie es schien, vollständig in den Bann des Dr. Bartholdy geraten und nachhaltig beeindruckt von seinem Gegenüber. Ganz weggewischt waren mittlerweile all die Zweifel, mit denen er das Haus betreten hatte. Und so kam es, dass er sich zu einem Ausdruck der Bewunderung hinreißen ließ, der einem Rick Pfeffer sonst nicht so leicht über die Lippen zu kommen pflegte.
„Gert, Du bist ein Genie!“
„Ach was Genie, Richard. Ich liebe das, was ich tue. Und genial muss man gar nicht sein, nein, nein. Weißt Du, hier in Deutschland schlägt sich die Bedeutung von Menschen in Titeln und Gehaltsgruppen nieder. Deswegen meine ganzen Auszeichnungen und der Doktor-Titel. Aber wenn Du wie ich mit einer Behörde arbeitest, als Amtsarzt, ich sage Dir, dann musst Du nicht genial sein. Gerade in der Politik und auf den Behörden kannst Du mit einer gewissen Kenntnis der Hierarchien und einem gesunden psychologischen Einfühlungsvermögen optimale Wirkungen erzielen. Die ganze Amtsbürokratie ist total subaltern. Da sind Aktenvermerke und Dienstanweisungen die beste Sprache, die die Mitarbeiter verstehen. Gib Befehle, und die Leute befolgen sie, weil Sie annehmen, dass nur der Befehle gibt, der dazu befugt ist. Das wird gar nicht hinterfragt. Wie bei einer Köpenickade, verstehst Du? Genau so mit meinen Gutachten. Wenn einer ein Gutachten vorlegt, dann fragt keiner, ob derjenige überhaupt dazu befähigt ist. Und wenn Du daneben liegst, ist es auch nicht per se falsch, sondern Du bist dann eben offiziell einer anderen medizinischpsychologischen Auffassung. So ist das! Die größten Erfolge sind für mich, wenn irgendein namhafter Gutachter zur selben Erkenntnis kommt wie ich, ohne mein Gutachten zu kennen. Dann weiß ich, dass ich den richtigen Beruf ergriffen habe. Man muss sich halt nur trauen!“
„Weißt Du was, Gert? Du solltest das alles aufschreiben. Ja, Du solltest ein Buch darüber schreiben, halb Enthüllungs- halb Entwicklungsgeschichte. Das würde laufen wie geschnitten Brot, das schwöre ich Dir!“
„Habe ich schon dran gedacht. Aber soll ich Dir was sagen? Mittlere Reife, Lesen und Schreiben gerade eben ausreichend!“, schmunzelte Briefke über den Tisch zu Pfeffer.
„Im Ernst? Aber Du sprichst wie ein Professor!“
„Ich habe mir vieles angewöhnt, und einige Sachen brauchst Du jeden Tag. Das ist im Grunde reines Auswendiglernen. Aber eins kannst Du mir glauben, ich bin froh, dass ich einen Beruf ergriffen habe, der sich viel darauf einbildet, dass seine Egiden alles immer nur so hinkritzeln. Schön geschmiert. Kein Mensch kann solche Rezepte lesen. Bei uns gilt die Devise: Je unlesbarer die Schrift, desto mehr Arzt bist Du. Und in der Klinik diktiere ich sowieso fast alles. Aber ein Buch? Na ja, meine Talente in allen Ehren, aber dazu wird es wohl nicht reichen.“ Er nahm einen tiefen Zug aus seinem Weinglas, derweil Richard genannt Rick Pfeffer die zündende Idee kam.
„Ich aber. Ich kann sowas!“
„Was?“
„Na schreiben! Ich war immerhin Chefredakteur, schon vergessen? Pass auf, wir machen das so: Wir treffen uns und unterhalten uns ganz normal, so wie jetzt. Nebenbei lasse ich das Diktiergerät laufen. Dann erzählst Du alles, genau so wie eben gerade, und ich mache dann hinterher einen fertigen Text daraus! Was hältst Du davon?“
Briefke wirkte ehrlich angetan und ein sichtbarer Ausdruck der Begeisterung machte sich in seinem Gesicht breit!
„Das ist die beste Idee des Tages!“
Aber Pfeffer war sogar schon einen Schritt weiter. „Hast Du einen Stift und ein paar Blätter? Schnell, ich habe schon eine Idee!“
Gert Briefke alias Dr. Clemens Bartholdy hatte beides schnell zur Hand und Pfeffer begann zu schreiben:
„Die Abenteuer des Dr. Clemens Bartholdy! Vorwort: Nur der Betrug hat Aussicht auf Erfolg! Auf Erfolg und lebendige Wirkung in den Menschen, der den Namen des Betruges gar nicht verdient, sondern nichts anderes ist, als die Ausstattung einer vorhandenen Wahrheit mit denjenigen materiellen Merkmalen, deren sie bedarf, um von der Welt anerkannt und gewürdigt zu werden. Und in diesem Sinne ist mein Tun eben doch die Wahrheit, so seltsam es klingen mag, zugegebenermaßen. Das Reich der Freiheit ist eben das Reich der Täuschung!“3
Er reichte es Briefke über den Tisch. „Und?“, fragte Pfeffer, „Was sagst Du?“
„Ich muss Dir das Kompliment zurückgeben, Richard!“
„Welches?“
„Nicht ich, Du bist genial!“
„Ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft!“, sagte Pfeffer noch, bevor die beiden Genies vor Lachen laut losprusteten und sich abermals einschenkten. Und so ging es dann noch etliche Stunden weiter, in denen sich beide mit ihren jeweiligen Kabinettsstückchen zu überbieten suchten und in denen, während noch so manche Flasche Wein geleert wurde, mehrfach die geflügelten Sätze fielen, wonach eine Hand doch die andere wasche und man sich im Leben immer zweimal träfe.
Jenes Buch im Übrigen sollte Richard genannt Rick Pfeffer später übrigens tatsächlich für Gert Briefke alias Dr. Clemens Bartholdy schreiben, doch diese Geschichte wollen wir ein andermal erzählen. Zumal Rick Pfeffer einige Tage später noch eine weitere, sehr wichtige Verabredung einzuhalten hatte.
VII.
Als Richard genannt Rick Pfeffer am darauf folgenden Dienstag erwachte, sich ankleidete und so tat, als würde er zur Arbeit gehen, fand er ein Päckchen Zigaretten in seiner Manteltasche, das dort eigentlich nicht sein sollte. Und dann auch noch Marlboro. Seine Marke war HB: Er betrachtete das Päckchen kurz und ließ es sogleich wieder schnell in seiner Manteltasche verschwinden, als er hinter sich seine Frau hörte. Er ging nun flugs aus der Haustür, sperrte seinen goldfarbenen Mercedes auf, fuhr etwa 100 Meter weit und hielt dann direkt wieder an, um das Zigaretten-Päckchen einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Hierbei fand er schnell unter der Zellophan-Folie einen gefalteten Kassiber auf welchem Name und Adresse einer Gaststätte nebst einer Uhrzeit standen. Darunter nur das Wort „Parkplatz“. Er blickte hoch zur kleinen Uhr, die in das mit Wurzelholz verblendete Armaturenbrett des Mercedes eingelassen war. Noch knapp zwei Stunden bis dahin. Er besah den kleinen Zettel mit der sachlichen Handschrift erneut. Er musste ihm wohl gestern von jemanden in der Kneipe zugesteckt worden sein, in der er mittlerweile seine Tage verbrachte, damit daheim nicht aufflog, in welcher Lage er sich befand. Offiziell – und damit war seine Frau gemeint – war er ja noch Grabredner. So wurde denn auch seine Verwunderung über die geheimnisvolle Zigarettenschachtel schamvoll abgelöst von der ihn nun beinahe täglich heimsuchenden Plage der mittleren Verzweiflung über seinen wenig zielführenden Zustand des Dahinschweifens, der nur durch eine unpräzise Mischung aus dunkler Ahnung und kindlicher Gespanntheit unterbrochen wurde, wenn er an die Worte von Oberleutnant Müller dachte, er solle dem BND schon bald einen „Gefallen“, tun, und „aktiv“, werden. Pfeffer freute sich über das geheimnisvoll klingende Spionage-Deutsch und dachte fortwährend darüber nach, um was für einen Gefallen es sich wohl handeln möge. Allein, der Gedanke aktiviert zu werden, löste in ihm schon das wohlige Gefühl aus, nun nicht länger tatenlos seine Zeit in Brasserien und Wirtshäusern vergeuden zu müssen. Auch wenn er den gelegentlichen Schluck über den Durst so gar nicht scheute, ärgerte es ihn, dass er im Grunde seit seiner Demission beim Weser-Land-Blatt überhaupt nichts Sinnvolles mehr getan hatte. Er fühlte sich ungebraucht und schlicht jedem Nutzen entrissen. Die Episode mit seinem alten Freund Briefke war ihm da eine willkommene Abwechslung gewesen, doch auch dieses Aufeinandertreffen hatte ihm klar gemacht, dass er wieder loslegen, eben aktiviert werden müsse. Briefke hatte ihr Gipfeltreffen ebenfalls sichtlich genossen und die beiden hatten sogar schon wieder telefoniert, nur Stunden, nachdem Pfeffer nach seiner Reise zu Hause angekommen war, aber dennoch: Briefke war immerhin Arzt, er hatte zu tun und wurde gebraucht, während Pfeffer wieder in der Kneipe landete und die Zeit totschlagen musste.
Er war also im Grunde guter Dinge und höchst erregt, als er seinen Wagen auf jenem Parkplatz eines Großkrämers parkte, auf welchem er seinen neuen weißen Mercedes abgestellt hatte, umstieg und weiterfuhr, nur um eine halbe Stunde später auf einem anderen Parkplatz zum Stehen zu kommen. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass er noch etwa eine Stunde Zeit bis zum Treffen hatte und er beschloss, zunächst eine Zigarette zu rauchen. Er stieg aus, lehnte sich rücklings gegen den Kotflügel des Mercedes und rauchte, wobei er zwischendurch ein paar kleinere Schlücke aus dem wehrmutgefüllten Sterling-Flachmann nahm, um den trockenen Geschmack der Aufregung zu überdecken. Leicht beschwingt und mit einem kleinen Dusel setzte er sich wieder auf den Fahrersitz des Wagens, überzeugte sich noch einmal, dass Adresse und Name der Gaststätte mit den Angaben der Nachricht übereinstimmten und schlief zu seiner eigenen Überraschung sofort ein.
Es war ein süßer, alkoholgeschwängerter Schlaf der Erschöpfung, noch vertieft durch Zecherei und falsche Ernährung, und der überdies bemerkenswert traumreich war. Und so ärgerte er sich gründlich, als er durch ein lautes Klopfen geweckt wurde, das durch die Fensterscheibe hindurch direkt auf seine Schädeldecke zu hämmern schien. Nach dem ersten Sekundenschreck beschloss er daher, das Klopfen einfach zu ignorieren und drehte den Kopf demonstrativ in Richtung Beifahrersitz. Als aber das Klopfen zurückkehrte und sich mit einer Stimme verband, die ihn anschrie, erschrak er plötzlich so heftig, dass er das Gefühl hatte, ihm würde einige Sekunden lang das Herz stehen bleiben.
„Wachen Sie auf Mann! Haben Sie mal auf die Uhr gesehen?“, Oberleutnant Hans Müller war sichtlich ungehalten und als Rick Pfeffer erst auf die Uhr im Armaturenbrett und dann auf die an seinem Handgelenk sah, wusste er auch, weshalb. Er hatte satte anderthalb Stunden geschlafen! Donnerwetter! Schnell zog er die Türverriegelung auf und öffnete die Fahrertür.
„Tut mir leid“, begann Pfeffer noch einigermaßen schlaftrunken. „Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es?“
„Bleiben Sie sitzen, das können wir uns jetzt sparen. Machen Sie die andere Tür auf.“ Pfeffer tat es. Müller ging um das Fahrzeug herum, öffnete die Tür und stieg ein.
„Guten Tag!“, sagte Pfeffer und hielt dem Oberleutnant die Hand hin, in welche der verärgerte Spion allerdings nicht einschlug.
„Geht so! Hören Sie, wenn wir verabredet sind, müssen Sie pünktlich sein. Wir sind hier nicht auf der Kirmes.“
„Ich war überaus pünktlich!“, entgegnete Pfeffer, und eigentlich stimmte das ja auch.
„Sie sind eingeschlafen. Und außerdem haben Sie schon wieder getrunken, das rieche ich doch. Mann, Pfeffer, ich hatte doch gesagt keinen Alkohol!“