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Der Sommer wollte und wollte nicht enden – plötzlich waren die Tage unheimlich lang. Bei Gritli wuchs der Entschluss langsam, bis sie schrieb: «Ja, ich bin bereit, dir zu folgen!» Wir begannen, trotz grosser räumlicher Distanz, Hochzeitspläne zu schmieden … obwohl Gritli keine Ahnung hatte, wohin der Weg sie führte. Die Friends luden sie ein, sich vor Ort ein Bild von ihrer neuen Heimat zu machen. Aber meine Geliebte sparte das Geld lieber für die Aussteuer und das Hochzeitskleid. Ich schrieb ihr lange Liebesbriefe und fragte sie, in welchem Farbton sie denn die Zimmer im Haus gestrichen haben möchte. Bald kaufte ich kübelweise Farbe in Offwhite und strich die Wände.
Wenn Gritli Nein gesagt hätte? Es wäre für mich sehr schwer gewesen, aber ich hätte es akzeptieren müssen. Ich wusste, Gritli gab viel auf. Sie war stark mit ihren Eltern verbunden und hatte einen guten Job in Chur. Es ist für uns beide heute noch sehr emotional und nicht leicht darüber zu sprechen, wenn wir an diese schwierige Zeit zurückdenken. Wir hatten beide so Sehnsucht nacheinander.
Dann ging alles sehr schnell: Bei Gritlis Eltern bat ich an Weihnachten 1966 um die Hand ihrer Tochter, an Silvester verlobten wir uns und am 4. März 1967 heirateten wir in Chur. Die Zeit drängte. Ich musste zurück für die Mais-Aussaat. Auf unserer Hochzeitsreise schifften wir uns in Genua auf der «Michelangelo» ein. Mit an Bord die zwei grossen Kisten mit Gritlis Aussteuer – feinste Leinenwäsche und ein Service mit Goldrand. Aber die Schiffsbesatzung streikte, und erst Tage später fuhren wir westwärts. Über dem Atlantik gerieten wir in einen andauernden fürchterlichen Sturm. Die Überfahrt war grauenhaft. Wir waren beide seekrank, bis wir die Freiheitsstatue im Hafen von New York und endlich Land erblickten. Die Qual war bald vergessen, und nach einem kurzen Abstecher nach Manhattan, flogen wir via Chicago nach Decatur. Durch den Streik kamen wir reichlich spät dort an, und ich war im Rückstand mit der Feldarbeit.
Am ersten Tag fuhr ich mit Gritli kurz in die nahegelegene Stadt, zeigte ihr, wo was war – und dann sass ich tagelang nur noch auf dem Traktor. Sie wurde ins kalte Wasser geworfen und musste sich überall alleine zurechtfinden. Aber sie machte es prima. Ich war so stolz auf meine junge Frau. Für mich war «high season». Innert weniger Tage mussten die Felder angesät werden. Gritli liess sich einspannen. Wir waren nun 24 Stunden am Tag zusammen, arbeiteten Hand in Hand, und es ging wunderbar. Oft waren wir schon frühmorgens auf dem Feld und arbeiteten, bis es eindunkelte. Das ist alles andere als selbstverständlich, und ich bin Gritli noch heute sehr dankbar für ihre grosse Hilfe. Bei der ersten gemeinsamen Ernte, im Winter 1967, waren wir an Weihnachten noch dran. Der Herbst war nass, der Boden teilweise unbefahrbar. Am Weihnachtstag droschen wir, und unter den Maiskörnern auf dem Lastwagen glitzerten feine Eiskristalle. Die Trocknungsspesen waren entsprechend saftig!

Jürg und Gritli auf den Traktoren, 1967.
Wir Farmer sind total vom Wetter abhängig. Man versucht das Beste, mit Bodenproben, tüftelt aus, welches das beste Saatgut, die ideale Unkraut- und Schädlingsbekämpfung ist – aber auf das Wetter haben wir keinen Einfluss. Das war für mich am Anfang eine grosse und unbekannte Belastung. Wohl hatten wir ein Darlehen von der Graubündner Kantonalbank und gaben den Hof daheim als Sicherheit. Aber sicher waren wir uns nicht, ob wir es schaffen würden. Ich sagte mir immer wieder: einfach nicht die Nerven verlieren! Auf Regen kann man nur hoffen. So wie dieses Jahr, wo seit Monaten Dürre herrscht, oder wie 1988, als es den ganzen Sommer lang kaum einen Tropfen Regen gab, und wir nur noch hoffen und beten konnten! Wasser ist das Wichtigste für die Maiskulturen – und wenn es nicht regnet, nützt alles nichts – «no rain, no grain!»
Seit jenem ersten Frühling haben wir zusammen über fünfunddreissig Jahre lang gemeinsam die Farm bewirtschaftet. Sie hat «traktörlet» und ist Lastwagen gefahren, ich habe gesät und geerntet – stunden- und tagelang. Zu Beginn hatten wir 133 Hektar, später bis 304 Hektar Ackerland, und immer nur zu zweit bewirtschaftet – gut mechanisiert, aber ohne Angestellte. Die ersten dreizehn Jahre bauten wir auf unseren Feldern ausschliesslich Mais an. Bis wir uns wegen besserer Arbeitsverteilung und der Fruchtfolge entschlossen, Sojabohnen dazu zu nehmen. In einem grossen Umkreis bauen hier alle Mais und Soja an. Mais verkauft sich sehr gut; der Grossteil geht an die Tierfütterung, ein Teil wird Treibstoff – Ethanol –, und der Rest geht in den Export oder wird Fructosesirup. In unserer Nähe steht eine der grössten Fabriken zur Herstellung von Ethanol –, die Archer Daniel Midland Company (ADM). Mit Erträgen von ungefähr 1400 Tonnen haben wir angefangen, heute produzieren wir rund 5580 Tonnen Futtermais und circa 1060 Tonnen Sojabohnen im Jahr.
Schweizer Landsleute wohnen keine in unmittelbarer Nähe, und einen Schweizer Club gibt es in der Gegend auch nicht. Unsere Schweizer Freunde leben in Peoria, rund anderthalb Stunden von hier. Verlassen fühlen wir uns hier draussen auf der Farm nicht. Wir haben ja Nachbarn, die sind auch Bauern. Wir Farmer haben untereinander ein sehr kollegiales Verhältnis. Man unterstützt und hilft sich. So war es auch, als ich Anfang der Achtzigerjahre einen Unfall hatte: ein Stück vom Mittelfinger geriet in den Maisdrescher. Wir brauchten sofort Hilfe. Gritli fuhr mich zur Ambulanzstelle, und die Nachbarn brachten besorgt die Maschinen unter Dach, weil Regen im Anzug war. Auch wenn jemand stirbt, stehen alle Farmer zusammen und helfen den Hinterbliebenen. Nachbarschaftshilfe wird hier grossgeschrieben. Wir sind wirklich aufeinander angewiesen.
Unsere Familie vergrösserte sich, und wir waren überglücklich. Am 22. Juli 1969 kam unser Sohn Marc auf die Welt. Wenn wir draussen zu tun hatten, spielte der Bub im Laufgitter oder bei uns auf dem Feld. Im Oktober 1972 wurde uns Tochter Flavia geschenkt. Es lief recht knapp bei der Geburt. Gritli hatte während der Schwangerschaft bis am Tag vor der Niederkunft draussen voll mitgearbeitet, und als die ersten Wehen im Anzug waren, sah es am Himmel nach Regen aus. Ich musste unbedingt noch aufs Silo raufklettern und alles dicht machen, bevor wir ins Auto steigen konnten. Glücklicherweise reichte es noch ins Spital von Decatur.
Wir waren eine glückliche, kleine Familie, und weil wir weit draussen wohnen, wurden unsere beiden Kinder bald mit dem gelben Schulbus auf der Farm abgeholt. Im Winter gab es auf der Farm wenig zu tun, wir reisten in die Schweiz, ich arbeitete jeweils zwei, drei Monate im Büro bei der Graubündner Kantonalbank in Chur, und wir lebten bei unseren Eltern. Marc besuchte in Chur während eines Winters sogar den Kindergarten und spricht heute noch einen schönen Churerdialekt. Später studierte er in Bloomington-Normal International Business & Marketing und lebte einige Jahre in Chur und Bonaduz. Während seines Schweiz-Aufenthalts lernte er seine Frau Loes van Gent, eine holländische Physiotherapeutin, kennen. Marc und Loes haben drei Mädchen, Fiona, Hannah und Annika. Unsere Tochter Flavia wurde Krankenschwester und heiratete einen Polizisten, Andrew Pistorius. Die beiden haben einen Sohn, Blake, und leben nur eine knappe Stunde südlich von uns entfernt.
Gritli und ich haben uns vor einigen Jahren auf dem «höchsten» Punkt der Farm ein «Stöckli» gebaut. Wir haben das Land etwas aufgeschüttet, sodass wir vom Küchenfenster aus über die Maisfelder hinweg den Hof im Auge haben. Marc übernahm die Farm vor zehn Jahren und bewirtschaftet heute 1760 acres (712 Hektaren). Ich bin im Ruhestand, aber im Frühling und Herbst, wenn meine Hilfe gefragt ist, springe ich natürlich jederzeit gerne ein. Das ist mir sehr wichtig. Wir können den ganzen Ertrag einer Ernte auf dem Hof trocknen und lagern. Unsere Schwiegertochter fängt jetzt auch mit Traktorfahren an – kein einfaches Unterfangen mit den grossen Maschinen. Viele Arbeitsgänge sind computergesteuert. Heutzutage kann man sogar im Dunkeln ansäen – mit GPS.
Aber die Natur ist immer noch unberechenbar – heute wie vor vierzig Jahren. Ich frage mich manchmal, warum wir Erfolg hatten. Ich glaube, es war ein Stück weit mein Ehrgeiz. Ich wollte beweisen, dass ich im Stande bin, ein guter amerikanischer Farmer zu sein. Das spornte mich an.
Ich würde jederzeit wieder auswandern – aber nur mit Gritli. Wir sind beide amerikanische Staatsbürger; mit der Schweiz sind wir noch sehr verbunden, besuchen unsere alte Heimat jedes Jahr für mindestens drei Wochen und haben in Chur eine Wohnung. Mit Abonnements der «Schweizer Illustrierten» und der Wochenausgabe des «Tages-Anzeigers» sowie per Internet erfahren wir die Neuigkeiten in der alten Heimat. Aber wir fühlen uns sehr als Amerikaner.
Übers Altwerden machen wir uns schon Gedanken. Wir hoffen natürlich, dass wir nicht in ein Heim müssen. Wir möchten so lange wie möglich zusammenbleiben und unsere Familie geniessen. Seit unserer Hochzeit haben Gritli und ich nur wenige Tage getrennt verbracht. Vielleicht unternehmen wir noch ein paar Reisen: Alaska wäre ein Traum, oder Brasilien und Argentinien, um zu schauen, wie sie dort die Felder bestellen. Auch europäische Städte wären eine Reise wert. Aber eben: Während der Ansaat und der Ernte möchte ich immer wieder daheim sein – Mais und Sojabohnen sind ein Teil von mir geworden.
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