Lernen mit Bewegung und Lernen in Entspannung

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Im Folgenden werden in Kapitel 2 zunächst Grundlagen des Wortschatzerwerbs erläutert, welche u.a. Konzepte des Speicherns, Abrufens und Ursachen des Vergessens umfassen, um anschließend die Verwendung von Lernstrategien für den Fremdsprachenerwerb und hierbei insbesondere für das Vokabellernen zu betrachten.
Das 3. Kapitel enthält einen Überblick über relevante Theorien und ausgewählte Studien zum Einsatz von Bewegung sowohl zur Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit als auch zum direkten Lernen von Inhalten durch Kopplung an Bewegungen.
Das 4. Kapitel widmet sich Studien und Theorien, die das Lernen in Entspannung betreffen. Auch hier erfolgt eine Aufteilung in zwei Bereiche, einerseits mit Fokus auf eine optimierte Ausschöpfung des kognitiven Leistungspotentials, andererseits auf das Erlernen von Inhalten in Entspannung. Den theoretischen Teil dieser Arbeit abschließend, werden im 5. Kapitel Besonderheiten Jugendlicher in Bezug auf Kognition, Fremdsprachenerwerb, Entspannung und Bewegung betrachtet.
Im Anschluss an den theoretischen Rahmen stellt das 6. Kapitel die beiden empirischen Studien dar, in welchen Vokabellernvarianten in vier, später zwei Ausprägungen zum Einsatz kamen. Neben dem zentralen Interesse an Unterschieden in der Behaltensleistung durch verschiedene Vokabellernvarianten wurden in der Folgestudie (Studie 2) für einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn außerdem Daten bezüglich weiterer in Anlehnung an die Forschungsfrage interessanter Faktoren erhoben. Um Redundanzen zu vermeiden, werden den Studien gemeinsam entsprechende Elemente, wie z. B. die übergeordnete Forschungsfrage, die Darstellung von unabhängigen und abhängigen Variablen, die Erläuterung der ausgewählten Vokabellernvarianten oder auch die forschungsethische Stellungnahme zu Beginn des empirischen Teils der Schrift, vereint betrachtet. Anschließend werden die beiden Studien einzeln detailliert dargestellt. Darauf folgend werden die Erkenntnisse beider Studien zusammengeführt und im Hinblick auf Implikationen für Wissenschaft, Unterrichtspraxis und außerschulisches Lernen diskutiert. Zuletzt sollen Limitationen der durchgeführten Studien und hieraus wahrgenommene Forschungsdesiderate im Bereich des Wortschatzerwerbs in der Oberstufe benannt werden. Abgerundet wird die Arbeit mit Schlussfolgerungen und einem Ausblick (Kap. 7).
2 Das Lernen von Wörtern
Wörter sind die Bausteine der Sprache.
Thaler (2012: 223)
Das vorliegende Kapitel befasst sich mit dem Thema Wortschatzaneignung und den Fragen, wie sich der Terminus Wort und einige seiner Synonyme definieren lassen, und auch, was es bedeutet, ein Wort zu beherrschen. Weiter soll geklärt werden, wie Wörter ins Gehirn gelangen und wo und auf welche Weise sie dort gespeichert und abrufbereit gehalten werden, wofür verschiedene Gedächtnismodelle, aber auch neurobiologische Erklärungen von Interesse sind. Im Anschluss soll dargestellt werden, welche Relevanz fremdsprachliche Wortschatzaneignung in der gymnasialen Oberstufe erfährt und was von Schülerinnen und Schülern hierbei gefordert wird, um darauffolgend Lerntechniken und –strategien zum Vokabellernen zu betrachten.
2.1 Begriffsdefinitionen
Eine umfassende, jedoch prägnante Terminologie des Begriffs Wort gestaltet sich als herausfordernd, da ein Wort vielfältige Eigenschaften besitzt und je nach der jeweiligen Perspektive unterschiedliche Aspekte von Bedeutung sind.
Der Wert eines Wortes zeigt sich nach Ferdinand de Saussure1 (2005: 123) in erster Linie darin, eine Idee auszudrücken, denn „Quand on parle de la valeur d’un mot, on pense généralement et avant tout à la propriété qu’il a de représenter une idée […].“ Weiter vergleicht er Sprache mit einem Blatt Papier, wobei der Gedanke auf der Vorderseite, der Laut auf der Rückseite steht und beides als untrennbar miteinander verknüpfte Einheit gesehen wird:
La langue est encore comparable à une feuille de papier: la pensée est le recto et le son le verso; on ne peut découper le recto sans découper en même temps le verso; de même dans la langue, on ne saurait isoler ni le son de la pensée, ni la pensée du son. (ebd.: 121)
Hierbei unterscheidet Saussure die zwei Seiten eines Wortes anhand der Begriffe signifiant (Bedeutendes) und signifié (Bedeutetes), wobei zweiteres das kognitive Konzept, also die Vorstellung einer Sache, darstellt, wohingegen ersteres die Benennung dieses Konzepts mit seinen phonologischen und orthographischen Eigenschaften umfasst (vgl. ebd.: 122f.). Das Zeichen (signe), mit welchem die Idee dargestellt wird, ist hierbei vollkommen arbiträr (vgl. ebd.: 121).
Aitchison (2012: 262) vergleicht Wörter sinnbildlich mit Münzen: „Words, we have said, are like coins, with meaning and word class on the one side and sounds on the other.“ Wenngleich Metaphern verschiedene Aspekte eines Wortes anschaulich verdeutlichen mögen, bleibt eine allgemeine Definition, die allen Perspektiven gerecht wird, schwierig. Dies liegt in der Vielschichtigkeit von Wörtern begründet. So „bildet [ein Wort] keine geschlossene Einheit, sondern stellt in sich bereits einen komplexen Lerngegenstand dar“ (Reinfried 2006: 176). Auch Mel’čuk (1981: 570) ist sich sicher: „Not only every language but every lexeme of a language is an entire world in itself.“ Somit gibt es für den Terminus Wort aufgrund verschiedener Blickwinkel diverse Begriffsbestimmungen:
Aus kognitivistischer Perspektive dienen Wörter der Benennung von Gegenständen und Sachverhalten in der außersprachlichen Welt, aus linguistischer Sicht sind es Zeichen mit Form- und Ausdrucksseite, selbständige sprachliche und kommunikationsorientierte Grundeinheiten. Der präzisere Begriff der lexical unit trägt der häufigen Mehrgliedrigkeit von Wörtern Rechnung. (Neveling 2017: 378)
Der von Cruse (1986) eingeführte Begriff der lexical unit (lexikalische Einheit) wird definiert als „the union of a lexical form and a single sense“ (ebd.: 77, zitiert nach Bogaards 2001: 326), was u.a. zur Folge hat, dass es deutlich mehr lexical units in einer Sprache gibt als Wörter, da ein Wort mehrere Bedeutungen tragen kann2. Bogaards spricht sich auch für die Betrachtung der fremdsprachigen Wortschatzaneignung für den Terminus der lexical unit aus:
Although it does not solve all problems in lexicology or in applied linguistics, the lexical unit as discussed by Cruse (1986) emerges as a far less capricious and much clearer linguistic element than word. It has a well-determined form that has its own set of properties and a clear meaning that is part of a specific semantic network. The notion of „lexical unit“ can also be better used than „word“ to describe the processes of vocabulary learning in a second or foreign language. (Bogaards 2001: 327)
Bogaards (2001: 325) beharrt sogar darauf, dass die Verwendung des Begriffs Wort dem Prozess, den Lernende für die Aneignung eines Wortes durchlaufen müssen, nicht gerecht wird. Neben dem vermutlich korrektesten Terminus der lexikalischen Einheit gibt es weitere Synonyme für den Begriff Wort, wie die vor allem im Schulkontext gängige Bezeichnung Vokabel. Laut Duden ist eine Vokabel „ein einzelnes Wort in einer (anderen, fremden) Sprache“ und Möhle (1994: 40) setzt den Terminus ‚Begriff‘ gleich mit dem Saussure’schen ‚concept‘, also der Inhaltsseite des Wortes“. Weitere Synonyme hierfür sind Terminus oder auch Bezeichnung.
Obwohl deutlich wird, dass der Begriff Wort aufgrund seiner phonologischen, syntaktischen, morphologischen sowie semantischen Informationen in seiner Komplexität schwer zu definieren ist, löst der Gebrauch des Begriffs im Alltag nur selten Verwirrung aus. So stellt Carter (2002: 4) fest: „Everyone knows what a word is“.3 Auch Haudeck (2008: 49) konstatiert: „Spricht man im Alltagsleben von einem Wort, dann entstehen dadurch keine wirklichen Verständnisprobleme.“ Ebenso sieht Lutjeharms (2004: 10 zitiert nach Haudeck 2008: 49) die „intuitive, alltagssprachliche Bedeutung von Wort als Grundeinheit der Sprache“ gegeben. Daher werden die Termini Wort, lexikalische Einheit und Begriff, aber auch Vokabel im Bewusstsein, dass ein Wort viel mehr beinhaltet als hier dargestellt werden kann, in der vorliegenden Schrift weitestgehend synonym verwendet.
2.2 Lexikalische Kompetenz
Für eine gelingende Kommunikation kann der Wert lexikalischer Kompetenz kaum überschätzt werden:
Die Bedeutung lexikalischer Kompetenz zeigt sich auch daran, dass in der überwältigenden Mehrzahl von Kommunikationsstörungen nicht falsche Grammatik, sondern fehlende oder falsch verwendete Wörter die Ursache sind. (Thaler 2012: 223)
Die vielfältigen Eigenschaften, die Wörter beinhalten, erschweren nicht nur das eindeutige Definieren des Begriffs Wort, sondern werfen ebenso die Frage auf, ab wann ein Wort beherrscht wird. Nation (2001: 23) spricht von der learning burden durch die Mühe, die Lernende aufbringen müssen, um sich ein Wort in seiner Vielschichtigkeit anzueignen. Ob und inwieweit ein Wort beherrscht wird, variiert von Fall zu Fall, denn „the difference between total ignorance and partial or full knowledge of a word is not always straightforward.“ (Bogaards 2001: 323) Auch Haudeck (2008: 53) stellt fest:
In der Realität zeigt sich lexikalische Kompetenz in unterschiedlichen Ausprägungen, von rudimentärer Kenntnis einzelner Wörter bis zu differenzierten formalen, semantischen und pragmatischen Wissensbeständen.
Schmitt (2007: 828) zufolge sind zwar 54.000 Wortfamilien1 in Webster’s Third New International Dictionary (1961) gelistet, jedoch genügt die Kenntnis der 2.000 – 3.000 am häufigsten vorkommenden Wortfamilien für einen gelingenden gesprochenen Diskurs, und mit 5.000 bekannten Wortfamilien können authentische Texte gelesen werden, wobei der Beginn des Verstehens authentischer Texte im Englischen mit 3.000 bekannten Wortfamilien angegeben wird. „Second language learners with a knowledge of the most frequent 10,000 word families in English can be considered to have a wide vocabulary“ (Schmitt 2007: 828) und die doppelte Kenntnis häufig vorkommender Wortfamilien entspricht der von Muttersprachlern der englischen Sprache.
Nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen, kurz GER, (Europarat 2001: 111) umfasst lexikalische Kompetenz „die Kenntnis des Vokabulars einer Sprache, das aus lexikalischen und grammatischen Elementen besteht, sowie die Fähigkeit, es zu verwenden“.
Die Darstellung einzelner Bereiche lexikalischen Wissens kann mithilfe verschiedener voneinander getrennt betrachteter Kategorien, aber auch durch in ihrem Verlauf progressiv angesehener Stufen erfolgen.
2.2.1 Dimensionen der Wortbeherrschung
Neben der Semantik, zu welcher angrenzend an die primäre Bedeutung auch Nebenbedeutungen gehören können, zählen zu den „Dimensionen der Wortbeherrschung“ (Thaler 2012: 223) auch die Orthographie, Aussprache, Morphologie, Syntax sowie die Verfügbarkeit, was bedeutet, dass ein Wort abrufbar ist. Nation (2001: 26) gliedert die Kenntnis eines Wortes in die drei Kategorien form, meaning und use, die er jeweils in drei Untergruppen aufteilt. So differenziert er form in spoken, written und word parts. Zu meaning gehören form and meaning, concept and referents sowie associations. Use unterteilt er in grammatical functions, collocations und constraints on use (register, frequency…). Weitere Modelle der Wortbeherrschung finden sich u.a. bei Richards (1976), Löschmann (1993) und Bohn (1999), wobei „Einigkeit darin [besteht], dass die semantische Komponente einen herausragenden Stellenwert besitzt.“ (Stork 2003: 18f.). Allerdings ist zu beachten, dass, obschon zu Studienzwecken der verschiedenen Aspekte der Wortbeherrschung eine künstliche Trennung deren Betrachtung vereinfachen, diese real doch verbunden sind (vgl. ebd.: 19).
Die Kenntnis eines Wortes kann jedoch nicht nur in Kategorien, sondern ebenfalls in verschiedene Stufen unterteilt werden. Hierbei finden sich Stadienmodelle u.a. bei Cronbach (1942), Dale (1965), sowie bei Hatch und Brown (1995). Bei Letztgenannten erfolgt die Wortkenntnis in fünf verschiedenen Stufen:
1 der Begegnung mit dem neuen Wort,
2 dem Erhalten der Wortform,
3 dem Erhalten der Wortbedeutung,
4 dem Konsolidieren von Wortform und Wortbedeutung und
5 dem Gebrauch des Wortes (vgl. Stork 2003: 20).
Ebenso entwickelten Wesche und Paribakht (1996) ein Stufenmodell, jedoch kritisiert Haudeck (2008: 53) die linear erscheinende Progression des Modells, wobei Stillstand durch Fossilisierungen oder sogar Rückschritte aufgrund von Vergessen nicht beachtet werden und lobt das Mehrstadienmodell von Maera und Sanchez (1993), welches „empirischen Untersuchungen zufolge recht zuverlässige Voraussagen des individuellen Wortschatzzuwachses eines Zweitsprachenlerners erlaubt“ (Haudeck 2008: 53).
2.2.2 Rezeptives und produktives Wortwissen
Es erscheint nachvollziehbar, dass dem produktiven Gebrauch eines Wortes, sei es in schriftlicher oder mündlicher Form, ein rezeptiver vorangegangen sein muss. Zunächst muss ein Begriff gehört oder gelesen und im Idealfall verstanden worden sein, bevor es selbst ausgesprochen oder geschrieben werden kann, wobei sowohl rezeptiv als auch produktiv verschiedene Ausprägungen der Wortkenntnis vorhanden sein können.
Vocabulary knowledge can be viewed as a continuum starting with the ability to understand vaguely what a word means in a given context and ending with the free use of a word in expression. (Laufer 1991: 445)
Stork (2003: 19f.) mahnt bei der Betrachtung lexikalischer Kompetenz als Kontinuum, nicht zu vergessen, dass Wortkenntnisse nicht nur in eine Richtung fortschreiten, sondern ebenso das Vergessen und erneute Lernen von Wörtern möglich sind.
Laufer (1991: 446) sieht im L2-Erwerb Lehrkräfte in der Pflicht, den Lernenden auch solche Wörter im produktiven Gebrauch zu entlocken, die diese zu vermeiden suchen, um somit die Schwelle vom bloßen Verstehen zur aktiven Verwendung jener Wörter zu überschreiten:
If the tendency of L2 learners is to remain at the threshold level, it is the task of the teacher to elicit the above-threshold vocabulary, which is precisely the vocabulary that learners try to avoid. Whatever form this elicitation might take (asking for words with different shades of meaning, reformulating sentences, gap filling, translation from L1 to L2, etc.) its goal is to activate the vocabulary which may otherwise remain at the passive end of the vocabulary knowledge continuum. (ebd.)
Nation (2001: 28) weist darauf hin, dass allgemeinhin rezeptives Sprachenlernen sowie rezeptiver Sprachgebrauch als leichter angesehen werden als das produktive Äquivalent. Unter anderem nach Ellis und Beaton (1993) führt Nation (2001: 28f.) vier Gründe an, weshalb dies so empfunden wird:
1 amount of knowledge explanation:Für die Sprachproduktion in geschriebener oder gesprochener Form muss mehr Wissen vorhanden sein als beim rezeptiven Gebrauch. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Zielsprache ein anderes Zeichensystem verwendet als die Erstsprache. Hingegen wird für die rezeptive Verwendung häufig nur ein kleiner Teil der Wortkenntnis benötigt (vgl. ebd.).
2 practice explanation:Im gewöhnlichen Sprachenlernen kommt der rezeptive Gebrauch der Sprache häufiger zur Anwendung als der produktive (vgl. ebd.).
3 access explanation:In anfänglichen Sprachlernstadien hat das Wort in der Zielsprache nur eine einfache Verbindung zur Erstsprache. In der Erstsprache hingegen ruft ein Wort in Bezug auf die Sprachproduktion zahlreiche wetteifernde Assoziationen hervor, weswegen sich die Erinnerung des fremdsprachlichen Äquivalents für die Produktion schwerer gestaltet als für die Rezeption (vgl. ebd.).
4 motivation explanation:Eine Person verfügt womöglich über alle Informationen, um ein Wort produktiv zu verwenden, kennt dieses gut, setzt es aus verschiedenen Gründen aber nicht aktiv ein. Hierbei stellt er die Frage, ob ein solches Wort in diesem Fall zum produktiven Wortschatz der Person gezählt werden kann (vgl. ebd.: 30).1
2.3 Wortschatz
Sämtliche Wörter einer Sprache lassen sich unter dem Terminus Wortschatz zusammenfassen.
Als Wortschatz wird das die Gesamtheit an Wörtern und Wendungen umfassende Teilsystem einer bestimmten Sprache bezeichnet. Die Sprachwissenschaft verwendet anstelle von Wortschatz den Begriff Lexik. Umgangssprachlich wird unter dem Wortschatz eines Individuums das ihm zur Verfügung stehende ‚geistige Wortinventar‘, quasi der ontogenetisch in seinem Gehirn aufgebauten Wortspeicher, der für lexikalische Sprachverarbeitungsprozesse benötigt wird, verstanden. (Haudeck 2008: 47)
Allerdings darf der Wortschatz einer Person nicht als statisches Inventar gesehen werden. Vielmehr wird er „als dynamisches System bezeichnet, weil der Erwerbsprozess nie zum Abschluss kommt“ (Maljuna 2013: 3).
2.3.1 Wortschatzklassen
Thaler (2012: 224) unterscheidet aus didaktischer Sicht vier Wortschatzklassen im mentalen Lexikon (vgl. Kap. 2.3.2): den produktiven, rezeptiven, potentiellen und individuellen Wortschatz. Während der produktive Wortschatz, mitunter auch aktiver Wortschatz genannt, jedwede Begriffe umfasst, die eine Person selbst benutzen kann, sind mit dem rezeptiven Wortschatz all jene Wörter gemeint, die die Person verstehen kann. Nicht selten wird der rezeptive Wortschatz auch als passiver Wortschatz bezeichnet. Dies ist jedoch irreführend, da das Verstehen von Wörtern keineswegs ohne eigene Beteiligung erfolgt und eine aktive Leistung erfordert (vgl. Nodari 2010: 1). Zudem gestalten sich die Grenzen zwischen produktivem und rezeptivem Wortschatz fließend. „Ein Wort kann vom rezeptiven zum produktiven Wortschatz wechseln und bei mangelndem Gebrauch aber wieder in den rezeptiven Wortschatz zurückfallen.“ (ebd.) Zum potentiellen Wortschatz gehören all jene Wörter, welche eine Person zwar bisher weder gesehen noch gehört hat, die sie aber „dennoch verstehen und/oder verwenden kann (z. B. durch Weltwissen, Wortbildungskenntnisse, Vergleiche mit anderen Sprachen)“ (Thaler 2012: 224). Für Begriffe aus dem potentiellen Wortschatz gilt für die fremdsprachliche Wortschatzaneignung dank der Vermutung, dass solche Begriffe
aufgrund von binnensprachlichen Ableitungen sowie von zwischensprachlichen Wortverwandtschaften von den Schülern eigenständig erschlossen werden können, so dass der Lernaufwand für den rezeptiven Sprachgebrauch entfällt und für den aktiven Sprachgebrauch stark verringert wird. (Reinfried 2006: 175)
Alle Wörter, die einem Menschen persönlich und damit individuell zur Verfügung stehen, können als individueller Wortschatz bezeichnet werden (vgl. Thaler 2012: 224).
2.3.2 Wortschatz und Grammatik
Ein kurzer Exkurs zur Verbindung von Wortschatz und Grammatik soll an dieser Stelle erfolgen, da sich in der Perspektive, welchen Wert das eine im Vergleich zum anderen für das Sprachenlernen aufweist, in den vergangenen Jahrzehnten eine große Wende vollzogen hat. Wenngleich der Grammatik nach der bis ins 20. Jahrhundert angewendeten Grammatik-Übersetzungsmethode im Anschluss eher eine dienende Funktion beikommen sollte (vgl. Thaler 2012: 236), wird der Übergang zwischen Grammatik und Wortschatz inzwischen zunehmend als fließend erachtet (vgl. Neveling 2017: 378). „Vocabulary and grammar are not separate categories, but are inextricably linked. Separating them creates confusion not clarity.“ (Lewis 2005: 8) In seinem Ansatz des Lexical Approach stellt Lewis (1993) beide Kategorien als miteinander verbunden dar. Thaler (2012: 226) leitet daraus für den Fremdsprachenunterricht ab, „dass Wörter nicht als isolierte Einzelwörter, sondern in einem grammatischen Umfeld vermittelt werden sollten, in sogenannten chunks“. Der Sinn eines fließenden Übergangs von Wortschatz und Grammatik findet sich dadurch begründet, dass „die morpho-syntaktischen Informationen im […] mentalen Lexikon zusammen mit der Wortform gespeichert sind“ (Neveling 2017: 378).
2.4 Das mentale Lexikon
Um den menschlichen Wortspeicher genauer zu beschreiben, wird häufig der Begriff des mentalen Lexikons genannt (vgl. Aitchison 2012). Thaler (2012: 224) definiert es folgendermaßen:
Das mentale Lexikon ist derjenige Teil des Langzeitgedächtnisses, in dem der gesamte Wortschatz eines Menschen geordnet gespeichert ist (human word store). Die lexikalischen Einheiten sind dabei in verschiedenen Netzen systematisch verbunden.
Möhle (1994: 39) bezeichnet das mentale Lexikon im Langzeitgedächtnis als „Reservoir […], in dem unser Wissen über alle uns bekannten Wörter unserer eigenen und ggf. auch anderer uns verfügbarer Sprachen gespeichert ist“, woraus die Existenz „so viele[r] mentale[r] Lexika, wie es sprechende Menschen gibt“, resultiert. Jedoch ist die Metapher eines Lexikons hierfür nur bedingt passend.
Der Begriff des mentalen Lexikons ist jedoch auf den ersten Blick irreführend, denn es ist keineswegs mit einem Wörterbuch vergleichbar, in dem Lexeme üblicherweise alphabetisch mit den für ihren Gebrauch relevanten Informationen nach einheitlichen Kriterien in einer festen Reihenfolge aufgelistet sind. (Haudeck 2008: 50)
Ebendiese unveränderliche Anordnung von Wörtern in gedruckten Wörterbüchern lässt den Vergleich nur teilweise gelingen, da das mentale Lexikon als Wortspeicher nicht statisch, sondern vielmehr unentwegt, und dies lebenslang, dynamisch Veränderungen erfährt. Daher empfiehlt Wolff (2000: 102) aufgrund der Flexibilität in Anordnung, Vernetzung und Überschneidungen der Begriffe vielmehr einen Vergleich des menschlichen Wortspeichers mit Wörterbüchern im CD-ROM-Format (vgl. Haudeck 2008: 50). Aitchison (2012: 14) weist aufgrund der Dynamik des mentalen Lexikons jedoch diesen Vergleich zurück: „The fluidity and flexibility of the mental lexicon, then, contrasts strongly with the fixed vocabulary of any book or even an electronic dictionary.“ Zudem sind bei Sprachrezeption sowie Sprachproduktion nicht nur die Verarbeitung, Vernetzung und Speicherung der jeweiligen Lexeme unter Berücksichtigung ihrer diversen Strukturebenen zu nennen, auch die unbegrenzte inhaltliche Speicherkapazität ist für das mentale Lexikon charakteristisch (vgl. Haudeck 2008: 50). Börner und Vogel (1997: 3) weisen darauf hin, dass Sprachwissen und Weltwissen im mentalen Lexikon miteinander vereint werden:
Im mentalen Lexikon sind Wortformen und semantische Konzepte (Sprachwissen) sowie kognitive Konzepte (Weltwissen) gemeinsam und dennoch zugleich autonom repräsentiert: Das mentale Lexikon ist also kein von der Kognition abtrennbares Modul der Sprache, sondern Schnittstelle sprachlicher und konzeptueller Strukturen.
Wie aber funktioniert das mentale Lexikon? Haudeck (2008: 59) thematisiert die Notwendigkeit eines „doppelten Zugang[s], zum einen für die Sprachrezeption, zum anderen für die Sprachproduktion.“ Aitchison (2012: 215) sieht Worterkennung und ‑produktion als zwei einander spiegelnde Vorgänge an:
[P]roduction and recognition seem to be mirror images of one another. When producing a word, humans must pick the meaning before the sound. When recognizing a word, they must start with the sounds, then move on to the meaning.
Allerdings kann auch laut Aitchison (2012: 215) dennoch nicht einfach angenommen werden, dass dieselben Prozesse lediglich in einer anderen Reihenfolge verwendet werden. Haudeck (2008: 59) erklärt die Vorgänge folgendermaßen:
Bei der Worterkennung (word recognition) muss ein Hörer Phonemfolgen erkennen und mit passenden Worteinträgen in Form von Klangstrukturen in seinem Lexikon und den damit verknüpften Konzepten vergleichen […]. Bei der schriftlichen Worterkennung kann man analog davon ausgehen, dass zunächst Graphemfolgen mit entsprechenden graphematischen Einträgen abgeglichen werden, allerdings ist davon auszugehen, dass sie gleichzeitig über die dem Leser vertrauten Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln mit der Lautung und damit mit den Klangstrukturen verknüpft sind.