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»Am besten, Sie reden mit Edgar darüber«, schlug Kutscher vor. Dabei kam ihm die Leiche wieder in den Sinn. Auch er verspürte das dringende Bedürfnis nach einer Konversation mit seinem Freund Edgar Wank. Gleich nach dem Kaffee wollte er ihn aufsuchen.
Edgar Wank verließ das Redaktionsgebäude der Leipziger Zeitung und trat auf die Poststraße. Obwohl es erst kurz nach halb fünf Uhr nachmittags war, dämmerte es schon. Wank schloss seinen Überzieher bis zum Kragen, dennoch kroch die Kälte unter den Stoff. Zum Glück hatte er es nicht weit, seit er in das Zimmer in der Karlstraße gezogen war. Nun musste er sich auf dem schmalen Gehweg durch die Passanten kämpfen, die zum Feierabend gen Augustusplatz strömten. Manch einer kehrte nach getaner Arbeit noch in eine Gastwirtschaft in der Innenstadt ein. Die meisten Arbeiter und Angestellten stiegen allerdings in die Bimmel und fuhren nach Hause.
Ein paar Meter vor ihm löste sich ein Mann von der Hauswand. Er kam Wank seltsam bekannt vor. Dieser Gang, der Mantel, der auch im Zwielicht noch schimmerte, die langen Haare unter der Melone … Wie kam Thomas Kutscher hierher?
»Da bist du ja endlich«, rief der Freund.
Wank blieb stehen und wartete, bis Kutscher bei ihm war und ihm die Hand entgegenstreckte.
Noch während des Handschlags sagte der Freund: »Ich muss dir unbedingt etwas zeigen. Komm mit!«
»Können wir das nicht bei mir besprechen?« Wank stellte den Kragen seines Mantels hoch. »Es herrscht eine Hundekälte, und ich wohne gleich um die Ecke, wie du weißt.«
»Glaub mir, du willst das sehen.« Kutscher klang aufgeregt und zog ihn am Ärmel die Poststraße hinunter.
»Wo, um alles in der Welt, willst du mich denn hinschleppen?«, fragte Wank und schüttelte die Hand des Freundes ab.
»Nur noch ein kleines Stück. Es liegt fast auf deinem Heimweg, Edgar.«
Inzwischen hatten sie die Querstraße erreicht. Kutscher bahnte sich wortlos einen Weg zwischen den Menschen hindurch. Wank hatte Mühe, ihm zu folgen. Die wenigen Meter bis zum Johannisplatz japste er hinter Kutscher her. Die Johanniskirche warf lange Schatten in Richtung der Dresdner Straße, in die Kutscher ohne Umschweife einbog. Das Gedränge auf dem Trottoir ließ langsam nach.
Wank schloss zum Freund auf und zischte: »Nun sag mir endlich, wo wir hingehen und warum!«
»Hab doch Geduld, Edgar! Es sind nur noch ein paar Hundert Meter. Du wirst Augen machen!« Kutscher flitzte die Dresdner Straße stadtauswärts, als wäre er auf der Flucht vor dem Leibhaftigen. Über dem Johannisfriedhof leuchtete schon die Mondsichel und verlieh der Dämmerung eine gespenstische Note.
Kutscher überquerte die Inselstraße und rief: »Gleich da vorn ist es!«
Auf den zwanzig Metern bis zur nächsten Straßenecke begegnete ihnen lediglich eine Gruppe von Arbeitern. Kutscher bog in die Blumengasse und zeigte auf das Portal eines Geschäftshauses. »Dort vorn war es. Da habe ich den Kerl gefunden.« Aufgeregt berichtete er über den toten Literaturkritiker, dessen zertrümmerten Schädel und die Polizisten, denen er bereits Rede und Antwort gestanden hatte. Schließlich deutete er auf den Blutfleck, der immer noch auf dem Pflaster zu erkennen war. »Seltsamerweise wehte kaum ein Lüftchen. Wie soll sich da ein Ziegel vom Dach gelöst haben?«
Wank betrachtete das Blut und murmelte: »Hier lag dann wohl der Kopf. Wo waren die Füße? Wie herum lag der tote Herr?«
»So herum«, antwortete Kutscher und deutete an, dass der Leichnam mit den Füßen in Richtung Dresdner Straße gelegen habe.
Etwas an Kutschers Beschreibung erschien Wank seltsam, so als würde ein Detail aus einem anderen Bild stammen. Wank hob den Hut und kratzte sich an der Stirn. Die Kopfbedeckung, das war es! »Der Hut des Herrn war völlig unversehrt?«
»Der Hut wird ihm wohl vom Kopf geweht worden sein, bevor der Stein ihn traf.«
»Sagtest du nicht, es herrschte Windstille?«, entgegnete Wank.
»Hm«, brummte Kutscher. »Das ist in der Tat seltsam.«
»Und wo, meintest du, lag der Hut des Herrn?« Kutscher zeigte ein paar Meter weiter in Richtung Dresdner Straße. »Dort.«
»Ach du lieber Gott! Hast du das auch Machuntze gesagt?«
»Was?« Kutscher blickte drein wie ein Bengel, der von der Mutter beim Stibitzen eines Bonbons erwischt worden war. »Der Kommissar hat mich nicht danach gefragt. Warum willst du das wissen?«
»Stell dir vor, der verblichene Herr hat jemanden getroffen und seinen Hut gezogen, bevor ihn der Stein traf. Und während er dann stürzte, ließ er ihn fallen. Wo wäre der dann gelandet?«, fragte Wank, tippte an seine Krempe und hob dann seinen Hut. Er zeichnete mit der Hand in der Luft die Fluglinie der Kopfbedeckung nach.
Kutscher drehte den Kopf und folgte Wanks Handbewegung – hin zu der Stelle, an der er den Hut gefunden hatte.
Wank merkte, wie bei seinem Freund der Groschen fiel.
»Wenn Orlog jemandem begegnet ist, vor dem er den Hut gezogen hat, dann hat der ihn vielleicht auch mit dem Stein angegriffen«, murmelte Kutscher. »Das wäre Mord.«
»Es sieht so aus«, bestätigte Wank.
»Stellt euch vor, meine Freunde, ich habe dem Verblichenen im vergangenen Jahr eines meiner Gedichte angeboten!«, rief Thomas Kutscher. Er musste ziemlich laut sprechen, um das Gemurmel in der »Elster-Klause« zu übertönen, denn zu dieser Abendstunde war in der Schankwirtschaft jeder Platz besetzt.
Fridolin Hartmann, der Neue und Fritz Lutemüller saßen mit Kutscher am Tisch und schwiegen. Bei Letzterem war das nichts Ungewöhnliches. Lutemüller sprach kaum. Selbst wenn der Wirt das Bier abstellte, nickte er höchstens kurz. Den Neuen konnte Kutscher noch nicht richtig einschätzen. Der hatte sich als Hans Pöttger, Pöttiger oder Pötticher vorgestellt. Anscheinend war er jahrelang zur See gefahren und gerade erst nach Leipzig zurückgekehrt, um eine Stelle als Kommiss anzutreten. Gedichte verfasste er zumeist nachts. Hartmann redete indes gern und sich häufig auch in Rage. Wenn er jetzt den Mund hielt, dann wohl nur, weil er noch weitere Details über den mysteriösen Tod des Literaturkritikers hören wollte.
Also fuhr Kutscher fort: »Ich habe soeben noch einmal zu Hause nachgeschaut. Die Absage war in einem Ton verfasst, als handelte es sich um eine Amtssache. Immerhin hat der Herr mir zugesagt, dass ich ihm gelegentlich eine Arbeit zu einem anderen Thema einreichen dürfe.«
Der Ober kam mit einem Tablett Bier. Kutscher leerte schleunigst seinen Humpen und nahm den neuen entgegen. Hartmann, der Neue und Lutemüller taten es ihm gleich.
Kutscher hob den vollen Bierkrug in die Höhe und stieß mit den anderen Dichtern auf die Kunst an. Sie tranken und ließen anschließend die Humpen auf die Tischplatte krachen. Kutscher spürte, wie ihn die anderen erwartungsvoll anschauten, deshalb fügte er an: »Ansonsten kann ich nicht viel über Orlog berichten. Mit den Detektivromanen eines Tom Tock hätte der Herr sich in seinem feinen Blatt niemals beschäftigt. Bestimmt hatte er noch nie von ihnen gehört. Und wenn, dann ahnte er mit Sicherheit nicht, dass diese und meine Gedichte aus derselben Feder stammen.«
»Nun ja …« Hartmann guckte auf seinen Krug, als wäre dort notiert, was er sagen wollte. »Über andere Kolportageautoren wusste er ziemlich gut Bescheid.«
»Ich schreibe keine Kolportage«, knurrte Kutscher. »Meine Romane werden in ordentlichen Geschäften verkauft. Nur weil sie beliebt sind, handelt es sich noch lange nicht um Schund.«
»Jaja.« Hartmann winkte ab. »Zu einer Fehde mit den Edelfedern bei den hochrangigen Blättern reicht es bei dir aber nicht.«
Kutscher wusste nicht so recht, worauf Hartmann hinauswollte.
»Hast du die Artikelserie über die Charakterschwäche des Schriftstellers Karl May nicht verfolgt?«
Kutscher schüttelte den Kopf.
»Mensch, Thomas! Orlog ist monatelang über den armen Kerl hergezogen, in übler Weise, wie über einen Todfeind. Ich habe die Zeitschriften zu Hause. Ich borge sie dir gern zur Lektüre.«
»Unbedingt!«
»Freilich lässt sich eine Feindschaft auch gar trefflich durch Ignoranz begründen«, warf der Neue ein und lächelte dabei milde. »Wenn der Kerl sich mit anderen einen Krieg leistet, wäre ich jedenfalls schwer beleidigt, wenn ich diesem Schnösel nicht einmal einen Verriss wert wäre.«
»Feindschaft ist ein großes Wort«, murmelte Kutscher.
»Wer soll das große Wort denn führen, wenn nicht wir Dichter!« Hartmann schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Nun, ich glaube kaum, dass Orlog außerhalb der Dichterkreise viele Freunde hatte«, erwiderte Kutscher. »Wenn beim Rollnik-Verlag oder in der verlagseigenen Buchhandlung das Wort auf Orlogs Kritiken kam, habe ich kaum Begeisterung vernommen.«
»Viel Feind, viel Ehr!« Hartmann hob seinen Humpen und rief: »Darauf ein Prost!«
Kutscher stieß mit den Freunden an. Während das Bier seine Kehle hinunterrann, dachte er nach. Wenn hier über Feinde eines Mordopfers – und ein solches war Orlog wohl – geredet wurde, sprachen sie dann auch über Verdächtige? Vermutlich hatte jeder an diesem Tisch mindestens eine Absage von Orlog in der Schublade des heimischen Sekretärs liegen.
Kutscher stellte seinen Bierkrug ab und sagte: »In diesem Falle könnte es auch heißen: Viel Feind, sehr tot.«
»Ein paar von meinen Gedichten hat der Knilch immerhin abgedruckt«, warf Hartmann ein und wandte sich an den Neuen. »Deinen Namen habe ich in den Bacchus-Blättern auch schon lesen dürfen.«
»Mag sein.« Der Neue sprach so leise, dass er im Kneipenlärm gerade kaum noch zu verstehen war. »Dennoch, auf hoher See kannten wir nur zwei Sorten von Fieslingen.«
»Ach«, sagte Kutscher verwundert, »und welche?«
»Nun, die einen waren skrupellose Kapitäne oder Steuermänner. Sie regierten auf den Schiffen mit eiserner Faust. Denen kam keiner zu nahe. Die anderen jedoch …« Der Neue grinste und machte eine kurze Pause. »Die anderen hatten keine Macht. Und die gingen häufig nachts bei einem tragischen Unfall über Bord.«
Kutscher bemerkte, dass Hartmann und Lutemüller den Seefahrer anguckten wie zwei Kinder den Märchenonkel.
Dann fuhr der Neue mit gesenkter Stimme fort: »Da war zum Beispiel dieser Matrose, der sich jeden Mittag eine doppelte Portion nahm. Die ganze Mannschaft war erbost über ihn. Eines Nachts hörte ich vom Achterdeck einen Schrei und dann ein Platschen … Da hatten die Fische etwas zu futtern. Niemand hat je erfahren, was genau passiert ist.«
Kutscher lachte und nahm seinen Humpen in die Hand. »Das ist ja ein hübsches Seemannsgarn.« Er zögerte einen Moment. »Oder?«
»Wenn ich das verraten würde«, antwortete der Neue mit einem Spitzbubenlächeln, »bräuchte ich ja keine Geschichten mehr zu erzählen.«
Tagebucheintrag vom 8. Januar 1907
Wie einfach das ist! Ich bin nicht das kräftigste Geschöpf unter Gottes Himmel. Doch ein Schlag mit dem rechten Werkzeug reicht. Schon geht ein Mensch zu Boden und steht nie wieder auf. Bis vor wenigen Stunden habe ich mir vorgestellt, wie ich wieder und wieder auf einen Kopf einhaue. In Wahrheit ist das gar nicht nötig. Es kommt nur auf die Schärfe des Hiebinstruments an.
Bis vor Kurzem hätte ich zudem erwartet, dass mein Gewissen mich hernach quält. Doch nun verspüre ich keinerlei Schuldgefühle. Es hat den Rechten getroffen. Ich tat, was zu tun war.
Es geht mir gut. Selten fühlte ich mich derart rechtschaffen müde. Was für ein schöner Tag!
Zwei
Mittwoch, 9. Januar 1907
Lassen Se mich schaun«, sagte Machuntze in seinem breiten Sächsisch und blätterte die Unterlagen auf seinem Schreibtisch durch. Auch wenn der Beamte vor einem Jahr zum Polizeikommissar befördert worden war, oblag ihm weiterhin die Aufgabe, Edgar Wank mit Informationen für die Rubrik Polizeiliches aus Leipzig zu versorgen. Dafür war der Redaktionsdirektor höchstpersönlich in der Behörde vorstellig geworden. Machuntze tippte auf ein Blatt und fuhr fort: »De Welt wird immer verrüggder, mei Liebor. Hörn Se sich de Geschichte von dem Mädchen an.« Er berichtete, dass ein zwölfjähriges Mädchen in der Eisenbahnstraße kleinen Kindern das Geld abluchste, mit dem sie zum Einkaufen geschickt worden waren. »’ne Zwölfjährige! Um so was müssn mer uns nunne gümmern. Als wärn mir’n Gindergarden.«
»Was trug die kleine Gaunerin denn für Kleidung?«, fragte Wank, während er die Fakten notierte.
Machuntze hielt sich die Unterlagen näher vor die Augen. Eine Spitze seines gezwirbelten Schnurrbarts ragte neben dem Blatt in die Höhe. »’n graues Schagett und ’ne rote Deggelmütze, ham de Beamten vermerkt.«
»Adrett«, murmelte Wank.
»Dann ham wir ’nen Selbstmord von ’nem Fabrikanten, ’nen Einbruch in een Goldwarengeschäft.« Machuntze blätterte die Atkten durch. »Und schaun Se nur hier, een Arbeiter is in een Restaurant eingestiegn und wollte die Gasse klaun, sein Gumpane stand Schmiere. Ooch hier dürfn Se de Festnahme vermeldn.« Machuntze klang stolz, als hätte er die beiden eigenhändig festgesetzt.
Wank schrieb die Informationen in sein Notizbuch und wartete darauf, dass Machuntze auf den Toten aus der Blumengasse zu sprechen kam.
Vergebens, denn der Beamte legte den Papierstapel beiseite. »Das war’s. Mehr gibt’s erscht ema aus unsrer Behörde nisch zu vermeldn.« Machuntze erhob sich. Der Polizist war so klein, dass die Papierstapel auf seinem Schreibtisch beinahe bis zu seiner Brust reichten. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor, tippelte zu Wank und zog zum Abschied seine Dienstmütze.
Wank blieb auf seinem Schemel sitzen.
»Is noch ewas unglar, mei liebor Herr Wank?«, fragte der Kommissar mit zum Gruß ausgestreckter Hand.
»Nun ja, ich denke, Sie ahnen es, Herr Kommissar. Mir ist da ein Vorfall zu Ohren gekommen.«
»’n Vorfall«, murmelte Machuntze. Er trat einen Schritt zurück und stützte sich mit dem Ellenbogen auf seinem Schreibtisch ab.
»In der Blumengasse«, ergänzte Wank.
»Ich hätt’s wissn müssn. Wenn zwee Schmier …« Machuntze verschluckte das Wort und setzte erneut an. »Wenn zwee Schlaumeier sich kenn, dann gann nüscht Gutes dabei rauskomm.«
Wank blieb still und bemühte sich, ein Grinsen zu unterdrücken.
Der Beamte krümmte sich, so als müsste er vor etwas zurückweichen. »Was soll’sch da sagn? Mir wissn noch überhaupt nüscht.«
»Nun, wer da in der Blumengasse gefunden wurde, ist schon bekannt. Und dass der Herr ziemlich tot war, auch.« Wank merkte, dass er eine Spur zu sarkastisch klang.
Machuntze zog ein missmutiges Gesicht und brummte: »Wenn Se alles scho wissn, müssn Se mich ooch nimmer frachn.«
»Entschuldigen Sie bitte, Herr Kommissar.« Wank hob die Hände und suchte nach einem versöhnlichen Ton. »Gibt es einen Grund, warum wir über diesen Todesfall nicht berichten sollen? Es handelt sich doch immerhin um ein mutmaßliches Kapitalverbrechen.«
»Genau das is ebn no gar ni glar. Mir untersuchn gerade noch de Leiche von dem Herrn Orlog und ooch den Ziechel. Aber de Kollechn findn nüscht.« Machuntze hob die rechte Hand und zählte die Punkte an den Fingern ab. »Keene Fingerabdrügge annen Sachen von dem Herrn. Keene Fingerabdrügge am Ziechel. Keene Spurn von ’nem Kampf oder dergleichn. Nüscht.«
Den folgenden Vortrag über die Daktyloskopie kannte Wank schon zur Genüge. Er hörte kaum noch hin, als Machuntze ihm erzählte, dass bei der Leipziger Polizei nun auch Fachbeamte mit dem erst vor vier Jahren in Deutschland eingeführten Verfahren arbeiteten. Wank selbst hatte in einem Artikel für die Beilage darüber berichtet, wie leicht es geworden war, Personen zu identifizieren, seit der britische Forscher Edward Richard Henry die Muster der Handlinien klassifiziert hatte.
Geduldig ertrug Wank die Ausführungen des Polizisten und wandte anschließend ein: »Es hat den ganzen Tag geschneit. Leicht nur. Aber könnte der tauende Schnee die Fingerabdrücke nicht abgewaschen haben?«
Machuntze hielt immer noch die drei Finger der rechten Hand in die Höhe, schwieg nun aber.
»Oder was, wenn der Täter Handschuhe getragen hätte? Es ist schließlich Winter.«
»Wenn, wenn, wenn!« Machuntze führte die Hand zu seinem Gesicht und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Wenn dor Däder sich bei uns gemeldet hätte, wär er schon eingesperrt. Aber so wissen mer halt nisch ema, ob’s ’ne Dad gab.«
»Hören Sie, Herr Machuntze, ich war gestern mit Herrn Kutscher in der Blumengasse. Und da ist uns etwas aufgefallen.« Wank berichtete in kurzen Worten von ihren Flugbahnberechnungen rund um den Hut des Toten. »Aus meiner Sicht bleibt angesichts dessen kaum eine andere Möglichkeit, als dass Herr Orlog ermordet wurde.«
»Nunne, so’n Hut kann ooch ma vom Wind een paar Meter geweht wern, wenn er offm Boden liecht, oder?« Machuntze bewegte die Hand in leichten Wellen durch die Luft.
»Herr Kutscher hat von Windstille berichtet.«
»Da reicht schon ma ’ne Bö. Vielleicht bevor Ihr Freund off de Straße trat.«
»Möglicherweise. Das erklärt aber noch nicht, warum Orlog seinen Hut nicht auf dem Kopf trug, als er vom Stein erschlagen wurde. Denn wie ich hörte, war der Hut völlig ohne Schaden.«
Machuntze stand an seinem Schreibtisch, zur Salzsäule erstarrt. Nach ein paar Sekunden begannen die Spitzen seines Schnurrbarts zu wippen, offenkundig strengte das Nachdenken auch seine Gesichtsmuskeln an. Er seufzte. »Nu gut, ich werd das mit de Kollechen besprechen. Aber solange wir nüscht Genaues wissen, schreibn Se ooch nüscht!«
In der Redaktion der Leipziger Zeitung herrschte Hektik. Die Redakteure warfen einen letzten Blick auf ihre Texte, bevor sie in den Druck für die nachmittägliche Ausgabe gingen. Einige schritten dabei ungeduldig auf und ab. Andere eilten zwischen ihren Redaktionsstuben und den Büros vom Korrektorat hin und her.
Edgar Wank schlenderte gemütlich über den Gang, denn sein Text war längst gesetzt. Er lauerte dem Kulturredakteur auf. Er musste wohl noch einen Moment Geduld haben. Denn Bollmann eilte der Ruf voraus, stets als Allerletzter seine Artikel abzugeben. Tatsächlich bog Bollmann mit einem Stoß Papieren um die Ecke. Er rief Wank zu: »Der Herr Polizeireporter, sehr gut, sehr gut!« Mit riesigen Schritten hetzte der Kulturredakteur über den Gang. Unter seinem gewaltigen Bauch wirkten seine dünnen Beine wie zu kurz geratene Stelzen. »Ich habe gerade meine Texte abgeliefert und nur wenig Zeit, da ich gleich einen Termin im Neuen Theater habe.«
»Ich werde Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen«, versprach Wank.
»Sehr gut, sehr gut. Herr Doktor Richter hat mich bereits ins Bild gesetzt. Ich habe Ihnen auch alles vorbereitet.« Bollmann hob den Stapel Papiere in die Höhe. »Hier sind die Unterlagen, die ich in Vorbereitung auf den Fall Karl May habe zusammentragen lassen. Ich bin so froh, dass Sie die Sache übernehmen. So froh! Es handelt sich ja tatsächlich nicht um eine richtige Kulturangelegenheit.«
»Nicht?«
»Nein, nein, lieber Kollege, es geht nur um eine gemeine Rechtssache.« Bollmann hielt kurz inne und rümpfte die Nase. »Und um Karl May.«
Wank nahm den Stapel entgegen. Es handelte sich um handschriftliche Notizen sowie um Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte. »Da steht alles drin?«
»Jaja – viel mehr, als irgendwer über diese Sache wissen müsste. Sie bekommen das hin, Herr Kollege. Ich werde Ihren Artikel gern lesen. Fürs Erste Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!« Bollmann deutete eine Verbeugung an und wandte sich zum Gehen.
»Einen Augenblick bitte noch, Herr Bollmann!« Wank trat einen Schritt beiseite, da eine der neuen Sekretärinnen, deren Namen er sich noch nicht gemerkt hatte, mit einem Stoß Manuskripten an ihm vorbeiflitzte. »Ich muss Ihnen eine Frage zum verstorbenen Herrn Orlog stellen.«
»Ich habe von der Tragödie gehört. Eine Tragödie. Der Mann war ja noch keine fünfzig. Was wollen Sie denn wissen?«, rief der Kulturredakteur und klang wenig begeistert. »Über den Herrn könnte ich ganze Dramen aufsagen. Aber gut, aber gut – wenn Sie nur eine Frage haben …«
Wank murmelte: »Eine oder zwei.«
Bollmann seufzte und zischte: »Bedenken Sie meinen Termin, bedenken Sie meinen Termin!«
»Gut, Herr Bollmann, gleich das Wichtigste: Hatte Herr Orlog Feinde?«
Bollmann wieherte wie ein Pferd. »Diese Frage ist völlig falsch gestellt, mein lieber Herr Polizeireporter. Wenn Sie sich nach jemanden erkundigt hätten, der Orlog hätte leiden können, dann müsste ich wohl nachdenken. Aber so lautet die Antwort ja – ja und nochmals ja.«
»Vielleicht können Sie mir noch diesen oder jenen Hinweis geben, Herr Kollege«, bat Wank und zückte sein Notizbuch. »Es muss ja nicht gleich eine vollständige Liste sein.«
»Nun gut, nun gut.« Bollmann trat ungeduldig von einem auf den anderen Fuß. »Vorab sollte ich Ihnen sagen, dass wir Kritiker es nicht leicht haben. Vor Orlogs kleinem Zeitschriftenhaus standen die Schriftsteller und Verleger Schlange, um ihn zu ein paar wohlwollenden Zeilen in seinem Blatt zu überreden. Doch den Mann interessierte das wenig. Wenn ich Sie wäre, würde ich die letzten Ausgaben der Bacchus-Blätter durchgehen. Sie werden jede Menge Opfer seiner spitzen Feder finden.« Der Kulturredakteur schaute sich in alle Richtungen um und beugte sich schließlich zu Wank. Beschwörend flüsterte er: »Orlog hat solch vernichtende Urteile gefällt, dass manch ein Dichter das Schreiben ganz aufgegeben hat. Unter uns gesagt, das war mitunter nicht zum Nachteil der Kunst. Dennoch schmerzt einen Dichter so etwas sicherlich tief im Herzen. Tief im Herzen.«
Wank tat so, als würde er etwas notieren. Er hatte das Gefühl, Bollmann müsse nicht zum Weiterreden gedrängelt werden.
Tatsächlich fuhr Bollmann fort, so leise, dass die Worte beinahe im Redaktionsgemurmel untergegangen wären: »Allerdings, allerdings … Mir ist letztens noch etwas anderes zu Ohren gekommen. Man munkelt in der Leipziger Literaturwelt, die Bacchus-Blätter seien finanziell etwas in Schwierigkeiten geraten. Nur das Wohlwollen der Bank habe ihr Erscheinen gesichert. Doch ich betone: Das sind Gerüchte. Gerüchte. Schwer zu belegen.«
Wank schrieb das Wort Bank auf und klappte sein Notizbüchlein zu. »Das ist ein wertvoller Hinweis. Dem kann ich nachgehen.« Er streckte dem Kollegen seine Hand entgegen. »Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben! Vielleicht haben Sie ja in den nächsten Tagen noch einmal ein paar Minuten für mich. Bestimmt ergeben sich noch weitere Fragen. Doch jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten, Herr Bollmann.«
»Fragen Sie nur, fragen Sie nur – später«, sagte der Kulturredakteur und verabschiedete sich.
Wank eilte ebenfalls von dannen. Für die Bearbeitung der Papiere zu Karl May blieb ihm nicht mehr viel Zeit.
Das Pflaster der Blumengasse lag zu Thomas Kutschers Füßen. Nicht einmal 24 Stunden hatte es gedauert, und der Schneematsch war vollständig verschwunden. Der Blutfleck am Fundort der Leiche hatte zwar deutlich an Kontur verloren, zeichnete sich aber immer noch auf den Steinen ab.
Kutscher blickte über die Fassade des Hauses vor ihm. Die Druckerei des Verlags Rollnik leuchtete rot. Der Klinkerbau mochte fünf bis sechs Jahre alt sein, höchstens zehn. Eigentlich sollte das Dach nach so kurzer Zeit noch intakt sein, und es dürften sich keine Ziegel lösen, überlegte er. Andererseits gingen Dinge manchmal vor ihrer Zeit kaputt. Doch das ließe sich leicht überprüfen. Er musste nur auf das Dach der Fabrik gelangen. Dort würde sich zeigen, ob ein Ziegel fehlte oder nicht.
Das Druckereigebäude zog sich über etwa zwanzig Meter an der Blumengasse entlang. Kutscher schlenderte über das Trottoir und blickte immer wieder an der Hauswand empor. Der Bau mochte so hoch sein wie ein zweigeschossiges Wohnhaus. Es drangen kaum Geräusche von den Maschinen nach draußen. Allenfalls leises Zischen und Klackern ließen ahnen, dass im Innern gearbeitet wurde. Vom Schornstein stieg eine graue Rauchwolke auf. Zart entschwand sie in den heiteren Winterhimmel, wie der Rauch aus einer zu groß geratenen Tabakpfeife. Nichts wirkte bedrohlich. Und doch beschlich Kutscher ein seltsames Gefühl. Wenn ein Ziegel vom Dach gefallen war, konnte sich dann nicht auch ein weiterer lösen? Vielleicht genau zu dem Zeitpunkt, an dem er über den Fußweg lief? Zwar erschien ihm das unwahrscheinlich, dennoch beschleunigte er seine Schritte.