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Vertrauen.
Isabel und er waren merklich auf Distanz zueinander gegangen. Und er tat auch nicht so, als freue er sich darüber, dass sie mit Philipp zusammen war. Dem war nämlich nicht so. Genau gesagt kotzte es ihn sogar an.
Sein bester Freund seit Kindheitstagen. Er konnte sich nicht erinnern, dass Philipp und er sich jemals etwas verschwiegen hätten. Schon gar nicht, wenn es um die Liebe gegangen war.
Sie hatten gesprochen. Zumindest hatten sie es versucht. Philipp und er. Manchmal auch zu dritt, gemeinsam mit Isabel. Aber die Gespräche waren nicht zufriedenstellend gewesen. Die beiden hatten ihm keine befriedigende Erklärung für ihr Verhalten geben können. Wahrscheinlich, weil es keine Erklärung gab. Manchmal hatte er sich gefragt, ob er zu empfindlich war. Ob er übertrieb, wenn er das Gefühl hatte, den beiden nicht mehr vertrauen zu können, wenn er nicht einmal mehr ertrug, in ihrer Nähe zu sein. Wenn er sich als Fremdkörper im elterlichen Haus fühlte.
Neun Monate. Und nichts hatte sich verändert. Die Familie war entgegen seiner Hoffnung nicht wieder zusammengewachsen.
Dass er hier heute am Grab seines Vaters stand, war auch keine Selbstverständlichkeit. Es war nämlich das erste Mal seit der Beerdigung.
Seit Tagen hatte er Angst vor diesem Moment verspürt, vor den Gefühlen, die ihn womöglich übermannen würden. Aber, und das machte ihm in diesem Augenblick mindestens genauso zu schaffen, die Gefühle waren vollständig ausgeblieben.
Da war kein bisschen Trauer, während er hier stand und auf die Familiengrabstätte auf dem Friedhof Hermannstraße blickte. Ein beklemmendes Gefühl – offenbar gelang es ihm nicht einmal nach dem Tod seines Vaters, Frieden mit ihm zu schließen. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Dafür hatte er sich viel zu lange von ihm als Sohn nicht geachtet gefühlt.
Jan versuchte die trüben Gedanken beiseitezuschieben, als er das Vibrieren seines Handys in der Jackentasche spürte. Er zögerte nicht und zog das Telefon hervor.
Es war Ben Kregel. Er leitete seit etwas mehr als einem halben Jahr die Bielefelder Mordkommission. Ein waschechter Ostwestfale, der vor über zehn Jahren in den hohen Norden nach Lübeck gewechselt und vor einigen Monaten zurückgekehrt war, um die Stelle von Vera Jesse zu übernehmen, die sich mit einigem Geschick und so manchen Machtspielchen, die Jan übel aufgestoßen waren, weiter nach oben gearbeitet hatte und nun die komplette Kriminalinspektion leitete.
Jan meldete sich mit einem knappen »Ben, was gibt’s?«.
»Bist du schon auf dem Weg ins Präsidium?«
»Es ist Samstag, was sollte ich denn da im –«
»Schon gut«, unterbrach Kregel ihn. »Hätte ja sein können, dass du von den anderen schon etwas gehört hast. Jedenfalls brauchst du gar nicht erst ins Präsidium zu kommen.«
Jan sagte nichts. Er ahnte bereits, was kommen würde.
»Vor einer Viertelstunde sind wir verständigt worden, dass drei Leichen auf dem Gipfel des Velmerstot im Eggegebirge gefunden wurden. Was genau dort geschehen ist, weiß ich aber selbst noch nicht. Allerdings soll der Anblick wohl nicht gerade schön sein.«
»Was heißt das?«
»Zwei Wanderinnen haben die Leichen entdeckt. Sie sprachen bei ihrem Anruf davon, dass die Opfer enthauptet wurden und alles voller Blut sei.«
Wieder sagte Jan nichts. Es gehörte zu seinem Job, solche Nachrichten entgegenzunehmen, aber hier auf dem Friedhof, die letzte Ruhestätte seines Vaters vor Augen, ging es ihm nahe. Sein Magen verkrampfte sich.
»Bist du noch dran?«
»Ja.«
»Ich habe oben an der Ostsee in den letzten Jahren verdammt viele harte Ermittlungen erlebt«, redete Kregel weiter. »Und hier haben wir es ziemlich sicher mit einer Sache zu tun, die uns an unsere Grenzen bringen wird.«
»Wenn wir es tatsächlich mit Enthauptungen zu tun haben, ist das keine allzu überraschende These«, entgegnete Jan. Er spürte sofort, dass das unverhältnismäßig barsch klang. Es hatte nicht direkt mit Kregel zu tun, er mochte den groß gewachsenen, erfahrenen Kriminalhauptkommissar nämlich. Aber seit dem letzten großen Fall im vergangenen Jahr und Veras plötzlicher Metamorphose von einer guten Freundin zu einer kühl agierenden Karrierefrau hatte er genug von Vorgesetzten, die ihn mit klugen Ratschlägen bevormunden oder sich zumindest wichtigmachen wollten.
»Schließ dich bitte mit Stahlhut und Cengiz kurz.« Kregel ignorierte Jans Kommentar ganz einfach. »Ich will, dass ihr in spätestens einer Stunde vor Ort seid. Ich verständige die anderen. Nolte und sein Team sind schon unterwegs. Und denk dran: Kein Wort über die Sache gegenüber den Medien, bevor wir nicht wissen, womit wir es überhaupt zu tun haben. Die Kommunikation nach außen läuft in Absprache mit mir.«
»Was ist mit den Wanderinnen?«
»Mehrere Streifen sind vor Ort und kümmern sich um sie. Wir müssen sie von der Pressemeute so lange wie möglich fernhalten.«
»Lippischer oder Preußischer?«
»Wie bitte?«
»Auf welchem Gipfel des Velmerstot wurden die Leichen gefunden?«
»Das müsste …« Kregel stockte. »Keine Ahnung«, sagte er schließlich. »Aber ich geb es dir durch, sobald ich es weiß. Fahr schon mal los und sammele die anderen ein.«
Jan hielt sein Handy noch eine Weile am Ohr, obwohl Kregel längst aufgelegt hatte.
Er musste an seinen Urlaub denken, der in vierzehn Tagen begann. Der erste seit mehr als fünf Jahren. Zwei Wochen Algarve. Nach langer Zeit wollte er endlich mal wieder auf sein Board steigen und die grandiosen Atlantikwellen reiten.
Nur noch vierzehn Tage. Ohne zu wissen, was genau vorgefallen war, war ihm sofort klar, dass sein Urlaub womöglich ins Wasser fallen würde.
Monatelang hatte es für die Mordkommission kaum etwas zu tun gegeben. Aber ausgerechnet jetzt, so kurz vor seinem Urlaub, sollte er zu einem Tatort irgendwo im Eggegebirge fahren, an dem an diesem Samstagmorgen drei enthauptete Leichen gefunden worden waren.
Jan seufzte. Eigentlich hatte er sich schon seit Längerem nach einer Ermittlung gesehnt, die ihn herausforderte. Ihn von den Problemen mit seiner Familie ablenkte. Aber doch nicht zu dem Preis, seinen Urlaub absagen zu müssen.
Er schloss für einen kurzen Moment seine Augen und klopfte sich mit den Handinnenflächen mehrfach auf die Wangen. So lange, bis er wieder Energie in seinem Körper spürte. Die Lethargie war verschwunden. Er wandte sich um und ging zurück zum Parkplatz.
Als er ein paar Minuten später hinter dem Steuer seines alten Minis saß und aus den Boxen die ersten Klänge von »Bitter Sweet Symphony« hallten, hatte er die Gedanken an seinen verstorbenen Vater und den Rest der Familie weitestgehend verdrängt. Stattdessen kreiste eine ganz andere Frage in seinem Kopf.
Was zum Teufel war vorgefallen, dass sie im beschaulichen Ostwestfalen in einem Fall ermitteln mussten, bei dem offenbar mehrere Menschen enthauptet worden waren?
Gipfel des Grauens
Cengiz’ Miene war noch finsterer als sonst, als Jan auf dem Waldparkplatz im Silberbachtal aus seinem Wagen ausstieg und auf ihn zuging. In solchen Momenten konnte er durchaus verstehen, dass der Kollege als harter Hund und Wunderwaffe für besonders schwierige Fälle galt. Als V-Mann in der Bekämpfung von Clan-Kriminalität in deutschen Großstädten wäre Cengiz wahrscheinlich besonders prädestiniert, war sich Jan sicher. In der ostwestfälischen Provinz wirkte sein bisweilen kompromissloses Auftreten dagegen gewöhnungsbedürftig. Aber auch hier schadete es nicht, jemanden wie ihn an seiner Seite zu haben.
Jan mochte Cengiz und war froh, ihn zu sehen. Die Fahrt nach Horn-Bad Meinberg über die B 239 durch Lage und Detmold hatte sich fürchterlich hingezogen. Zumal Kai Stahlhut als Beifahrer die Höchststrafe gewesen war. Dagegen war jeder andere Kollege eine Wohltat. Und sein Lieblingskollege Cengiz sowieso.
Wahrscheinlich wäre die Fahrt weitaus erträglicher gewesen, wenn Jan einfach eine seiner Britrock-CDs laut aufgedreht hätte. Doch stattdessen hatte ihm sein in Herford lebender Kollege Stahlhut ohne Unterlass versucht zu erklären, weshalb dieser Fall genau das Richtige für ihn sei, um sich im gleichen Atemzug darüber zu beschweren, dass die Welt doch immer schlimmer werde.
Es fiel Jan noch immer schwer zu akzeptieren, dass Stahlhut, der bis vor etwas mehr als einem Jahr als Kommissar in der Herforder Polizeiinspektion gearbeitet hatte, mittlerweile Teil der Bielefelder Mordkommission war. Stahlhut war aus Jans Sicht kein herausragender Ermittler. Er war weder Analytiker noch Taktiker und schon gar keine Spürnase. Nicht einmal ein kollegialer Typ. Er war vor allem eines: laut. Und bisweilen so ein Kotzbrocken, dass jeder einen großen Bogen um ihn machte, wann immer es ging. Weshalb Vera ausgerechnet ihn letztes Jahr ins Team geholt hatte, war ihr Geheimnis geblieben.
Auf dem Weg hinauf zum Velmerstot ließ sich Jan immer wieder einige Meter hinter seine beiden Kollegen zurückfallen. Nicht nur, weil er keine Lust auf Stahlhuts ständige Kommentare hatte, er wollte vor allem allein sein mit seinen Erinnerungen. An seine Kindheit und die sonntäglichen Ausflüge ins Grüne – zu den Externsteinen und rauf zum Hermann. Oder aber auch hierher, auf den Lippischen Velmerstot, einen der höchsten Punkte im Eggegebirge. Es war ein kalter, aber sonniger Wintertag gewesen. Sie waren exakt dieselbe Strecke gewandert, die er auch jetzt in diesem Moment ging. Und auch damals, vor über dreißig Jahren, hatte er sich zurückfallen lassen. Ein ordentliches Stück hinter seine Eltern und Isabel. Und natürlich hinter Cord, der vorweggestampft war und schon damals als Zwölfjähriger keine Situation ungenutzt gelassen hatte, um seinem Vater zu imponieren.
Diese Wanderungen hatten sich tief in sein Gedächtnis gebrannt, diese Momente, in denen die Familie zusammen etwas unternommen hatte. So wie es sich jedes Kind eigentlich wünschte, nur leider hatte die Realität in seiner Familie ganz andere Erinnerungen geschaffen. Unerträgliche Belehrungen seines Vaters, wie die Kinder, und vor allem Jan, sich zu verhalten hatten. Eine eingeschüchterte Mutter, die, statt ihm zur Seite zu springen, lieber schwieg. Und ein älterer Bruder, der keine Chance ausließ, ihn vor ihren Eltern schlechtzumachen. Besonders schlimm wurde es immer dann, wenn die Stimmung vollends kippte, weil sein Vater auch noch einen seiner cholerischen Wutanfälle bekam. Augen zu und durch – mit dieser Devise hatte er einen Großteil seiner Kindheit überhaupt nur überstanden. Schmerzhafte Erinnerungen und Bilder, die wie im Zeitraffer vor seinen Augen vorbeirasten.
»Heißt es eigentlich der oder die Velmerstot?«
Jan zuckte zusammen. Um ein Haar wäre er mit Stahlhut zusammengestoßen. Die beiden Kollegen vor ihm waren einfach stehen geblieben.
»Was ist los?«
»Der oder die Velmerstot?«, wiederholte Stahlhut. »Ich habe im Internet gelesen, dass beides möglich ist.«
»Meine Eltern haben immer der Velmerstot gesagt«, antwortete Jan. »Und bevor du fragst, mit dem Tod hat der Velmerstot nichts zu tun.«
»Schlaumeier«, raunte Stahlhut zurück. »Heute allerdings schon.« Sein lautes Lachen erstarb so schnell, wie es gekommen war, als sich Cengiz neben ihm aufbaute und ihn mit einer unmissverständlichen Miene ansah.
»Dann gehen wir wohl besser weiter.« Stahlhut winkte ab. »Ich hatte für einen kurzen Moment vergessen, was für Spaßbremsen ihr seid.«
Jan sparte sich eine Erwiderung und beließ es bei einem Kopfschütteln.
Zehn Minuten später verließen die drei den stetig ansteigenden Waldwanderweg. Vor ihnen machte sich allmählich die Lichtung des Gipfels breit. Das Licht und die Landschaft veränderten sich schlagartig. Heidekraut und massive Sandsteine bestimmten das Bild.
Jan versank für einen kurzen Augenblick erneut in Erinnerungen an damals. Sein Vater war überwältigt gewesen, als sie den nördlichen der beiden Gipfel des Velmerstot erreicht hatten. Der Blick über das Eggegebirge und den Teutoburger Wald bis zum Hermannsdenkmal hatte ihm beinahe Tränen in die Augen getrieben.
In diesem Moment war die Szenerie um ihn herum jedoch eine gänzlich andere. Die Aussicht auf den Gebirgskamm und das Wahrzeichen Ostwestfalen-Lippes rückte angesichts der rot-weißen Absperrbänder und des Equipments, das die Kriminaltechniker aus Noltes Team gerade aufbauten, komplett in den Hintergrund.
Jan spürte trotz der warmen Temperaturen einen kühlen Schauer seinen Rücken hinunterlaufen, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass sie nur noch wenige Meter vom Fundort der Toten entfernt waren. Und der Gedanke an enthauptete Leichen sorgte wohl selbst bei dem erfahrensten Ermittler für ein Gefühl der Ohnmacht.
»Weiche Knie?« Stahlhut blickte Jan herausfordernd an, hob aber sofort beide Arme, als wolle er sich entschuldigen.
»Bevor ich mir den Tatort ansehe, würde ich gerne mit Nolte sprechen«, sagte Jan in Richtung Cengiz.
»Hast du ihn denn schon gesehen?« Sein türkischstämmiger Kollege musterte ihn.
»Ich gehe davon aus, dass er irgendwo dahinten bei dem Obelisken steht.«
»Und jetzt möchtest du, dass ich ihn hole?«
»Sehr gut kombiniert.«
»Vielleicht hat Stahlhut ausnahmsweise gar nicht mal unrecht.«
»Wie bitte?«
»Du hast Schiss vor dem Anblick der Toten, und deshalb schickst du mich vor.«
»Nach dem wenigen, was mir Kregel am Telefon erzählt hat, bin ich tatsächlich noch nicht sonderlich scharf darauf, mir die Sache aus der Nähe anzusehen«, antwortete Jan ehrlich. »Zumindest hätte ich gerne noch ein paar mehr Informationen.«
»Schon gut«, sagte Cengiz. »Ich suche Nolte und gebe ihm Bescheid, dass du hier wartest.«
Aus dem Augenwinkel erkannte Jan, dass sich auch Stahlhut bereits von ihnen entfernt hatte. Er kletterte gerade über einige große Sandsteinquader und ging weiter in Richtung des kleinen Obelisken.
Jan atmete mehrfach tief durch. Wieder schlug er sich mit den Handinnenflächen auf die Wangen. Er hatte frischen Tatorten noch nie etwas abgewinnen können. Obwohl er der Überzeugung war, dass die Begutachtung extrem wichtig war, hasste er den Anblick jedweder Leiche. Dabei war es im Grunde egal, ob die Opfer auf brutale Weise ermordet worden waren oder aber kaum Verletzungen aufwiesen. Es war vor allem die Konfrontation mit dem Tod, die ihm zusetzte. Früher hatte er dieses Gefühl oftmals unterdrücken können, aber seit dem Tod seines Vaters gelang ihm dies immer schlechter.
Er hatte sogar darüber nachgedacht, den Polizeipsychologen um Rat zu fragen, letztlich diesen Gedanken aber wieder fallen gelassen. Noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich die Panik beim Anblick eines toten Menschen eines Tages wieder besiegen und in einer unsichtbaren Schachtel irgendwo tief in seinem Unterbewusstsein verstecken ließ.
»Nicht die schlechteste Entscheidung, einfach hier zu warten.«
Jan vernahm Noltes Stimme aus einigen Metern Entfernung. Der groß gewachsene Leiter des KK 32 Kriminaltechnik und Daktyloskopie mit dem kahl geschorenen Kopf kam ihm so unaufgeregt, wie er eigentlich immer war, entgegen.
»So schlimm?«
»Schlimmer«, antwortete Nolte. »Ich befürchte allerdings, dass du es dir genau deshalb selbst ansehen musst.«
»Geht es etwas weniger kryptisch?«
»Kannst du gerne haben.« Nolte drehte sich zur Seite und zeigte in Richtung des Obelisken. »Dort hinten liegen zwei weibliche und eine männliche Leiche. Die beiden Frauen wurden enthauptet. Ihre Köpfe sind akkurat auf einem der großen Steine platziert und dahin ausgerichtet worden, wo der tote Mann nur wenige Meter entfernt in einer großen Blutlache liegt. In seinem Oberkörper steckt ein großes Schwert. Bemerkenswert ist zudem, dass die beiden Frauen nur sehr spärlich bekleidet sind.«
Jan nickte eine Weile und massierte sich mit der linken Hand beide Schläfen.
»Reicht dir das erst mal?«, durchbrach Nolte die Stille.
»Sind die Leichen abgedeckt?«
»Noch nicht«, antwortete Nolte. »Wir gehen nicht davon aus, dass hier Dritte auftauchen werden, da wir die Zugänge zum Gipfel bereits einigermaßen weitläufig abgesperrt haben. Außerdem solltet ihr wirklich sehen, was passiert ist.«
»War er es?«
»Du meinst, ob die Person mit dem Schwert in der Brust die beiden Frauen getötet hat?«
»Ja.«
»Liegt bei dieser Szenerie durchaus auf der Hand, aber zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich, dazu etwas Belastbares zu sagen.«
»Weißt du sonst bereits irgendetwas? Zum Beispiel, wer die Toten sind?«
Nolte schüttelte den Kopf.
»Na schön, dann lass uns gehen. Ich habe ja noch immer die Hoffnung, dass ich irgendwann so viele Tatorte gesehen habe, dass nicht jedes neue Bild dieselben Mechanismen in mir auslöst und für immer abgespeichert bleibt.«
Wenige Minuten später war sich Jan sicher, dass es ein Fehler gewesen war, auf Nolte zu hören. Er hatte es in seinen Jahren bei der Kripo Bielefeld schon mit so einigen Leichen zu tun gehabt, aber der Anblick dieses Tatorts war das mit Abstand Grauenhafteste, mit dem er je konfrontiert worden war.
Die abgetrennten Häupter der beiden Frauen sahen aus wie Puppenköpfe, und die starren Augen wirkten wie aus Glas. Dass es sich allerdings um echte menschliche Köpfe handelte, stand außer Frage. Allein das viele Blut, das sich auf den großen Sandsteinquadern ergossen hatte und bereits angetrocknet war, war ein deutliches Zeichen. Den offensichtlichsten Beweis lieferten allerdings die beiden Rümpfe der Frauen, die in einigen Metern Entfernung zwischen den Steinen und einigen Heidekräutern lagen.
Jan verspürte keinerlei Drang, noch näher an die Opfer heranzutreten. Stattdessen versuchte er, sich aus sicherer Distanz einen Überblick zu verschaffen. Auffällig war tatsächlich, wie präzise die beiden Köpfe nebeneinander platziert waren. Der Täter musste sie nach der Enthauptung so ausgerichtet haben.
Die toten Augen starrten auf einen Punkt direkt hinter Jan. Dorthin, wo die dritte Leiche lag, an der er vorhin vorbeigegangen war und auf die er nur einen flüchtigen Blick geworfen hatte. Die Leiche eines mittelgroßen Mannes, in dessen Oberkörper ein altertümlich anmutendes Schwert mit einer mindestens fünfzig Zentimeter langen Klinge steckte.
»Wahnsinn, oder? Man glaubt, schon alles gesehen zu haben, und dann muss man sich so ein Gemetzel ansehen.« Stahlhut trat neben Jan und schüttelte mit einer ungläubigen und gleichzeitig faszinierten Miene den Kopf. »Ich hoffe, wir haben es hier nicht mit dem IS oder irgend so einer anderen fanatischen Scheiße zu tun.«
»Was?«, fragte Jan.
»Wegen der Enthauptungen, meine ich. Der IS hatte doch diesen Henker, der –«
»Kai, es reicht jetzt mit deinen flapsigen Sprüchen. Wenn du nicht irgendetwas Sinnvolles zur Situation beitragen möchtest, dann halt einfach deine Klappe und versuch, dir einen Überblick über das Ganze hier zu verschaffen.«
»Alter Schwede, welche Laus ist dir denn heute über die Leber gelaufen? Ich dachte, Sarkasmus wäre Konsens bei der Kripo. Anders lassen sich solche Dinge wie das hier doch gar nicht ertragen.«
»Konsens ist bei uns die Feststellung, dass du eine Nervensäge bist.«
»Ach ja, ist das so?«
»Andere werden es dir wahrscheinlich noch deutlicher sagen. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe.«
»Du pinkelst mir derart ans Bein und willst das nicht mit mir ausdiskutieren?« Stahlhut klang plötzlich aufgebracht.
»Hört jetzt auf, ihr beiden!« Ben Kregel hatte sich ihnen leise genähert und gab deutlich zu verstehen, was er von ihrer Diskussion hielt. »Wie pietätlos seid ihr eigentlich, euch hier zu streiten, wo direkt vor eurer Nase die Opfer des möglicherweise grausamsten Verbrechens der vergangenen Jahrzehnte in Ostwestfalen-Lippe liegen?«
Kregel war ein Stück größer als Jan und hatte, obwohl einige Jahre älter als er, einen derart durchtrainierten Körper, dass einige Kollegen im Präsidium ihn hinter vorgehaltener Hand »Meister Proper« nannten. Was aber noch viel mehr an seinem kahl geschorenen Kopf lag.
Ein paar Meter hinter Kregel erkannte Jan nun auch Lara Niehaus. Sie stammte aus Hamburg und war während seines Sabbatjahrs ins Team gestoßen. Von Anfang an hatte Jan ein Auge auf sie geworfen, doch er wusste, dass sie an den Wochenenden oft ihren Freund in Hamburg besuchte. Er hatte gehofft, dass sich irgendwann vielleicht doch mehr zwischen ihnen entwickeln könnte, zumindest auf ein freundschaftliches Kennenlernen hatte er es angelegt, aber Lara war die gesamten Monate über fast schon abweisend gewesen.
Ohne dass sie es ausgesprochen hätte, hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie nicht im Geringsten an ihm interessiert war. Bis sie sich vor drei Wochen an einem späten Donnerstagabend plötzlich auf seinem Handy gemeldet und ihn gefragt hatte, ob er sich spontan mit ihr treffen wollte. Weil sie dringend reden müsste. Über die Beziehung mit ihrem Freund. Oder vielmehr das, was offenbar gerade endgültig zerbrach.
Natürlich war er überrascht gewesen, dass sie ausgerechnet ihn gefragt hatte, aber wahrscheinlich war er der Einzige, dem sie sich in ihrer neuen Heimat Ostwestfalen überhaupt anvertrauen konnte. Dass sie Probleme gehabt hatte, sich einzuleben, war niemandem im Team verborgen geblieben. Sie hatte es auch selbst zugegeben.
Lara hatte ihm an diesem Abend ihr Herz ausgeschüttet. Sie hatte ihm mehr offenbart, als er hören wollte, zu viele Details über ihre Beziehungsprobleme. Aber er hatte sich darauf eingelassen. Und irgendwie hatte er aus diesem Abend neue Hoffnung geschöpft.
Während er den Blickkontakt zu Lara suchte, sah er aus dem Augenwinkel, dass sich Stahlhut langsam von ihnen entfernte. Jan war froh, dass sich Kregel so deutlich geäußert hatte. Er hatte recht, auch mit der Kritik an Jan selbst.
»Mir ist vollkommen egal, weshalb ihr so miteinander umgeht, aber ich möchte, dass ihr beide professionell seid«, bemerkte Kregel noch. »Wenn ihr das nicht schafft, ziehe ich euch von dem Fall ab.« Er gab Lara ein Zeichen, dass er allein mit Jan weitersprechen wollte.
»An mir soll es nicht liegen«, entgegnete Jan. »Du weißt selbst, wie Stahlhut tickt. Leider schaffe ich es nicht immer, seine zynischen Kommentare einfach so hinunterzuschlucken.«
»Die Stimmung im Team ist eines meiner wichtigsten Anliegen. So schlecht wie zu dem Zeitpunkt, als ich hier vor neun Monaten angefangen habe, war sie nicht einmal in Lübeck. Und da war auch nicht immer alles rosig. Jeder von uns muss etwas dazu beitragen, dass es besser wird. Aber lass uns das nicht länger jetzt und hier besprechen. Reden wir lieber darüber, was passiert ist. Was denkst du?«
»Ich bin erst seit ein paar Minuten hier«, antwortete Jan achselzuckend. »Das Einzige, was ich sagen kann: Es ist heftig. Das verlangt mehr von uns ab, als gesund ist.«
»Davon ist auszugehen.« Kregel blieb nüchtern. »Was ist dein erster Eindruck? Womit haben wir es zu tun?«
»Wenn ich mich umsehe, könnte es aus meiner Sicht tatsächlich ein erweiterter Suizid sein«, antwortete Jan nach einigen Sekunden des nachdenklichen Schweigens. »Ich würde diese Theorie zumindest nicht ausschließen. Andererseits erscheint es mir aber auch nahezu unmöglich, dass sich jemand ein so langes Schwert selbst in den Oberkörper rammen kann.«
»Du glaubst also vielmehr, dass die Toten allesamt Opfer sind?«
»Wie ich gerade sagte, ein erweiterter –«
»Ja, schon gut, mir ist klar, worauf du hinauswillst«, unterbrach Kregel ihn. »Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass du bereits in eine bestimmte Richtung tendierst.«
»Zum jetzigen Zeitpunkt schließe ich natürlich gar nichts aus«, sagte Jan unbeeindruckt. Für einen Moment hatte er das Gefühl, als wolle Kregel ihn testen. Weshalb sonst drängte er ihn dazu, jetzt bereits eine erste Einschätzung vorzunehmen? »Was mich erst einmal wundert«, schob er hinterher, »ist die Tatsache, dass beide Frauen nur mit Unterwäsche bekleidet sind.«
Kregel runzelte die Stirn und sah sich um.
»Gestern Nacht war Sommersonnenwende«, fuhr Jan fort. »Es ist bekannt, dass der Gipfel des Velmerstot durchaus Menschen anzieht, die sich für Mystik und Rituale interessieren.«
»Verstehe, worauf du hinauswillst.«
»Das Wichtigste ist in erster Linie, herauszufinden, um wen es sich bei den Toten überhaupt handelt. Sonst spekulieren wir leider nur im luftleeren Raum. Ich würde mich jetzt gerne noch ein wenig hier umsehen.«